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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Inklusion ist unser Alltagsgeschäft"
Eltern, Lehrer, Schüler: Wie sieht das Miteinander aus?
Kindergärten und Schulen sind Orte der Integration. Die dafür nötige interkulturelle Bildung darf nicht auf das Verstehen und die Förderung von Migranten beschränkt werden, fordert Waltraud Lucic, Vizepräsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV). Sie warnt: "Mit einer Verkürzung der Maßnahmen auf die Vermittlung der deutschen Sprache, welche die Familiensprache und ein Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit ausblendet, fällt die Diskussion zurück." Über das Zusammengehören innerhalb der Schulfamilie sprachen Waltraud Lucic und Johannes Beetz.
"Beeinträchtigungen bleiben unerkannt"
Vor kurzem wurde die Zahl der "Ü-Klassen" in bayerischen Schulen erhöht, in denen junge Migranten Deutsch lernen. Halten Sie diese Erhöhung für ausreichend?
Waltraud Lucic: Wir kennen den weiteren Zuzug nicht. Momentan sind wir mit 89 Ü-Klassen mit je 20 Kindern gut versorgt. Natürlich wäre eine Höchstgrenze von 12 Kindern wesentlich bessern. Jetzt gehen uns aber die Lehrer aus.
In den letzten Jahren hat sich die Richtung des Zustroms junger Migranten verlagert. So kommen jetzt überwiegend junge Migranten sowie Flüchtlinge aus kriegs- und krisengeschüttelten Ländern. In diesen Regionen ist es keine Seltenheit, dass es keinen geregelten Schulbesuch gibt. Es kommen immer mehr nicht-alphabetisierte, teilweise traumatisierte, depressive und von Zukunftsängsten geplagte Kinder in die Übergangsklasse. Sie werden mittlerweile vor dem Unterrichtsbesuch medizinisch nicht mehr untersucht, deswegen bleiben psychische und physische Beeinträchtigungen häufig unerkannt. Die Zunahme unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge erfordert eine erhöhte sozialpädagogische Betreuung, die unter den jetzigen schulischen Rahmenbedingungen nicht geleistet werden kann.
"Eltern nicht aufs Kuchenbacken reduzieren"
Auch Lehrer und Eltern gehören zusammen, beide tun sich damit manchmal schwer. Dabei wollen in der Regel alle dasselbe: Das Beste für die Kinder. Wie können sich Eltern, die ja oft berufstätig sind und erheblich weniger Familienzeit als früher haben, sinnvoll einbringen?
Waltraud Lucic: Zuerst einmal ist es wichtig, dass sich Eltern und Lehrer gegenseitig wertschätzen. Wie soll ansonsten der Schüler dem Lehrer Achtung gegenüber bringen? Die Neurobiologie macht deutlich, dass eine biologische Aktivierung der Motivationssysteme des Gehirns Wertschätzung und Anerkennung zur Voraussetzung hat. Alles schulische Lehren und Lernen ist zwischenmenschliche Beziehungen.
Eltern und Lehrer sollten im Gespräch bleiben. Schwierigkeiten sind in der Anbahnphase viel leichter aufzufangen und das Lob motiviert zur Weiterarbeit. Missverständnisse entstehen bei regelmäßigen Gesprächen wesentlich seltener. Bei Wanderungen, Sporttagen und Schulfesten sind die Kinder und Lehrer froh um die Unterstützungsmöglichkeiten. Allerdings sollte man die Eltern nicht aufs Kuchenbacken reduzieren. Im Gespräch erfährt der Lehrer von Kompetenzen und Vorlieben der Eltern und kann so darauf zurückgreifen.
Wesentlich ist das Vertrauen der Eltern / Lehrer zueinander. Sie können sicher sein, beide möchten das Beste für das Kind und das Kind will gute Noten schreiben.
"50 % Personal ist nicht von hier"
Vieles, was an den Schulen an Integrationsarbeit geleistet wird, ist dem Einsatz und der Mehrarbeit von Lehrern zu verdanken. Lehrer stehen aber auch vor vielen Unwägbarkeiten, z.B. den hohen Lebenshaltungskosten in München und ungewissen Perspektiven beim Berufseinstieg. Was wünschen Sie sich an Unterstützung für die Lehrer?
Waltraud Lucic: Die besondere Situation der Großstadt München hat Auswirkungen auf die Lehrer. Lehrer werden nicht dort ausgebildet, wo sie gebraucht werden. 50 % des neuen Personals in Oberbayern ist nicht aus Oberbayern und möchte schnellstmöglich wieder zurück in die Heimat. Wir brauchen Anreizsystheme, damit Lehrer gerne nach München kommen und hier dann auch bleiben. Eine München-Zulage würde das Leben etwas erleichtern.
"Wir brauchen Zeit, Zeit, Zeit!"
Lehrer bemühen sich um ein möglichst hohes Maß an Chancengerechtigkeit für die Kinder in der Großstadt. Was brauchen sie am meisten?
Waltraud Lucic: Bildung und Erziehung brauchen drei Dinge: Zeit, Zeit, Zeit.
Erstens: Zeit für Ausgleich von Defiziten und zur Ausprägung individueller Stärken. Bei uns München ist die Heterogenität der Begabungen in den einzelnen Klassen nachweisbar sehr hoch - vom hochbegabten Kind bis hin zum sehr schwach begabten Kind; in einer Klasse finden sich nicht selten 17 Nationen wieder. Bei uns ist Inklusion nichts Neues. Wir inkludieren schon sehr lange Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen. Das ist unser Alltagsgeschäft.
Zweitens: Zeit für Ausbildung. In München werden Schulen und Kindertagesstätten gebaut und Pädagogen gebraucht. Jährlich wird München eine hohe Anzahl von Lehramtsanwärtern zugewiesen. Es ist gut so, gerade deswegen müssen wir achtsam mit ihnen umgehen und sie ausbildungsgerecht einsetzen. Wie soll das gelingen, wenn an einer Schule bis zu fünf Lehramtsanwärter eingesetzt werden? Wie kann dann noch Ausbildung Vorrang haben, auch wenn alle Beteiligten sich bemühen?
Die Gestaltung der fachgerechten Einsatzpläne ist nicht mehr zu gewährleisten. Lehramtsanwärter brauchen eine Heimat. In München ziehen sie mittlerweile wie Nomaden durch die Schullandschaft, weil Schulen keine Räume mehr zur Verfügung haben.
Drittens: Zeit für Beziehungsarbeit. "Soziale Beziehungen und Emotionalität sind die Basis der intellektuellen Entwicklung!" Es gäbe keine Motivation ohne Beziehung, sagt der Freiburger Hirnforscher Prof. Bauer. Motivation ist eng verknüpft mit den körpereigenen Botenstoffen im Gehirn eines Menschen. Diese werden aktiviert durch "gute zwischenmenschliche Beziehungen" - und Fächer wie Musik, Sport, Kunst, Werken / Gestalten.
17 BLLV-Forderungen für die Ü-Klassen
Integration muss aus gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Gründen gelingen. Um den Kindern und Jugendlichen eine positive Zukunft in Deutschland zu ermöglichen, müssen sich grundsätzliche Rahmenbedingungen vor dem Eintritt in die Ü-Klasse, während des Besuchs der Ü-Klasse und im Anschluss daran ändern.
Deswegen folgende Forderungen:
Vor Eintritt in die Ü-Klasse:
Medizinische Untersuchung (evtl. mit Dolmetscher) der Kinder (vergleichbar mit der medizinischen Untersuchung bei der Einschulung in die Grundschule).
Während des Besuchs der Ü-Klasse:
Team-Teaching mit 15 zusätzlich auszuweisenden Stunden, gebunden an die Ü-Klassen (zweite Lehrkraft oder Förderlehrkraft).
Im Rahmen der eigenverantwortlichen Schule sollen mindestens 10 Stunden für jeden Übergangsklassenstandort zur Differenzierung im erforderlichen Lernbereich (Deutsch, Mathematik oder wahlweise Englisch) bereitgestellt werden. In diesen Kursen können Schüler auch aus verschiedenen Klassen zusammengefasst werden (z. B. Alphabetisierungen).
Höchstgrenze der Klassenstärke: 16 Schüler (keine Mindeststärke festlegen).
Additive Schulsozialarbeit an Schulen mit Ü-Klassen.
Einrichtung von zusätzlichen Ü-Klassen auch während des Schuljahres, wenn die Kapazitätsgrenze an allen anderen Schulen erreicht ist. Ü-Schüler dürfen nicht vorzeitig, nur um Platz zu schaffen, in Regelklassen „abgeschoben“ werden.
Zusätzliche Lehrkräfte im MSD (Mobiler sonderpädagogischer Dienst) oder Erhöhung der Stundenzahl für den MSD, um Migranten größtmöglich individuell zu unterstützen, falls Förderbedarf notwendig ist.
Nach Abschluss der zweijährigen Ü-Klasse:
Fach Englisch: Kinder und Jugendliche aus Übergangsklassen, die nach Ablauf der zwei Jahre in Regelklassen übertreten, sollten im Fach Englisch eine zusätzliche Förderung erhalten, um die Grundkenntnisse der Sprache (welche in unserer heutigen Zeit unerlässlich sind) zu erwerben und zu erweitern. Ziel ist es, möglichst schnell den Anschluss in der Regelklasse zu finden bzw. die Möglichkeit zu haben, eine höhere Schullaufbahn anzustreben.
Nach den zwei Jahren Übergangsklasse sollten Kinder mit Migrationshintergrund die Möglichkeit haben, weiterhin im gewohnten Lernumfeld der Ü-Schule die Regelklasse zu besuchen.
Dafür sollen die Schüler weiterhin der Schule zugewiesen bleiben, um somit auch Kosten für die Nahverkehr-Fahrkarten weiterhin bezahlt zu bekommen. Bleiben die Schüler in ihrer gewohnten Umgebung können sie zielgerichtet weiter gefördert werden können (kein Zeitverlust, Stärken und Schwächen sind bekannt).
Dazu müssten den Schulen extra Stunden zur weiteren Förderung dieser Schüler zugewiesen werden (kein Gießkannenprinzip, sondern zielgerichtete Förderung in Gruppen mit Schülern mit gleichem Sprachniveau).
Übergang von der Ü-Klasse (Ü9) in den Beruf:
Einige Übergangsklassenschüler bekommen am Ende der Ü9 (meistens mit dem Hauptschulabschluss und aufgrund guter Leistungen im Betriebspraktikum) einen Lehrstellenvertrag. Das Problem während der Ausbildungszeit ist nicht die Praxis im Betrieb, sondern vielmehr die Überforderung mit dem Unterricht in der Berufsschule. Es sollen hier Sonderregelungen für ehemalige Übergangsklassenschüler gefunden werden, um ihnen den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern und die Motivation, überhaupt einen Beruf zu erlernen, zu erhalten.
Übergang von der Ü-Klasse (Ü9) in berufsvorbereitende Maßnahmen:
Ehemalige Ü-Klassen-Schüler sollen bedarfsgemäß in speziellen Kursen gebündelt werden, um Defizite in den Kernfächern ausgleichen zu können.
Änderung der Lehrerausbildung:
Deutsch als Zweitsprache und interkulturelle Weiterbildung soll verpflichtend in die Lehrerausbildung aufgenommen werden.
Rahmenbedingungen für Ü-Klassen:
Die Übergangsklassen sollen wieder doppelt gezählt werden (vgl. 9. Klassen), da die Arbeitsstunden der Verwaltungsangestellten an die Anzahl der Klassen gekoppelt sind (extrem hoher Verwaltungsaufwand für Ü-Klassen).
Bereitstellung zusätzlicher Budgets durch den Schulaufwandsträger zur Anschaffung erforderlicher Materialien (Beamer, Freiarbeitsmaterial, Wörterbücher in verschiedenen Sprachen, Bildwörterbücher im Klassensatz,…)
Erhöhung des Kopier-Etats.
Einrichtung eines Dolmetscher-Netzwerks für Schulen mit Ü-Klassen zur Kontaktaufnahme mit Migranten. Gerade dann, wenn Migranten kurz in Deutschland sind, können sie oder ihre Eltern kaum kommunizieren. Dabei wäre es für Übergangsklassen-, aber auch für Regelklassenlehrkräfte hilfreich, wenn es Dolmetscher gäbe, die man kontaktieren könnte, wenn z.B. Eltern wegen der Sprachbarriere gar nicht greifbar sind.
Der Einsatz in Ü-Klassen sollte sich positiv auf die amtliche Beurteilungen der betroffenen Lehrkräfte auswirken, da ihre erbrachte Arbeitsleistung überdurchschnittlich ist.
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