"Der Ausbildungsberuf ist die ganz wichtige Grundlage für alles"
Der neue Arbeitsagenturchef Wilfried Hüntelmann über Quote und Menschen, zweite Chancen und alternative Wege
Im September hat Wilfried Hüntelmann den Vorsitz in der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit München übernommen. Mit ihm sprach Johannes Beetz.
"Ich rede nicht so gerne von Vollbeschäftigung"
Mit einer Arbeitslosenquote von 3,9 Prozent haben wir in München praktisch Vollbeschäftigung. Das klingt perfekt - heißt das aber nicht auch, dass jenseits der saisonalen Schwankungen nur noch marginale Verbesserungen möglich sind mit entsprechend wenig Möglichkeiten z.B. für Gruppen wie Langzeitarbeitslose und Eltern, die nach der Familienpause von Teilzeit auf Vollzeit wechseln wollen?
Wilfried Hüntelmann: Wir haben insgesamt eine gute Situation in Süddeutschland. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Wir haben in Stadt und Landkreis, in unserem Agenturbezirk, an die 40.000 Arbeitslose. Das Eine ist die Quote: Man kann sagen, die ist vergleichsweise niedrig. Das Andere ist die Zahl von 40.000 Menschen.
München zeichnet eine hohe Dynamik aus: Wir haben viele Menschen, die sich neu arbeitslos melden, weil sie aus einer Erwerbstätigkeit, einer Ausbildung oder Qualifizierung kommen.
40.000 Arbeitslose sind kein fester Block, denn es kommen immer viele dazu und viele fallen weg. Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen die passenden Dienstleistungen anzubieten.
Wir haben zudem – auch wenn die Zahl in letzter Zeit glücklicherweise sinkt – 11.000 Langzeitarbeitslose, die länger als zwölf Monate ohne Arbeit sind. Daher rede ich nicht so gerne von Vollbeschäftigung. Das hört sich nach „alles ist gut“ an. So ist es aber nicht.
In Zeiten niedriger Arbeitslosigkeit sind das die Rahmenbedingungen unserer Arbeit mit Menschen, die besondere Hebel brauchen. Man muss sehr individuelle Ansätze finden, um für sie etwas auf dem Arbeitsmarkt zu bewirken. Wir haben andererseits 13.000 offene Stellen im Bestand. Die meisten – über 90 Prozent – auf Facharbeiterniveau oder im akademischen Bereich. Da werden Experten gesucht. Unsere Aufgabe ist es, die Personen, die bei uns gemeldet sind, in den Ausbildungs- oder Arbeitsmarkt hineinzubringen.
"Auch eine nachgeholte Ausbildung lohnt sich"
Für Münchner Betriebe wird es zunehmend schwieriger, Ausbildungsstellen zu besetzen. Immer mehr Fachkräfte fehlen in immer mehr Branchen. Wie können wir diese Lücken füllen?
Wilfried Hüntelmann: Es gibt in der Ausbildung zwei Strategien: Das Eine ist zu schauen, dass jeder Schulabgänger versorgt ist.
Das Andere ist die hohe Anzahl an unbesetzten Ausbildungsplätzen. Im letzten Jahr waren es über 1.000. Das ist schon eine Hausnummer. Wir müssen sehen, dass wir diese betrieblichen Stellen auch anderweitig besetzen: nicht nur mit Schulabgängern, sondern auch mit Menschen über 25 oder 30, die aus irgendwelchen Gründen keine Ausbildung gemacht haben. Die sind ja noch sehr jung und wir müssen heute lange arbeiten. Auch eine nachgeholte Ausbildung lohnt sich.
Ein Klassiker ist die Alleinerziehende, die wegen ihres Kindes keine Ausbildung machen konnte. Auch Studienabbrecher sind ein Potential. Für sie gibt es viele attraktive Ausbildungsberufe.
Letzten Endes geht es darum, diese alternativen Ausbildungsmöglichkeiten zu nutzen – auch eine Teilzeitausbildung ist möglich für Eltern oder z.B. für diejenigen, die ihre Eltern pflegen. Natürlich wird das Gros der Auszubildenden immer aus den Reihen der Schulabgänger kommen.
"Schüler müssen ihren Berater kennen"
Erfolgt die Berufsorientierung zu spät? Müsste man hier nicht viel früher - gerade in den Schulen - gegensteuern?
Wilfried Hüntelmann: Es muss der dafür geeignete Zeitpunkt genutzt werden: Wir sind nicht am Ende des Schuljahres vor Ort, sondern schon viel früher.
Das Ganze ist ein Prozess: Er besteht aus der Berufsorientierung mit der Klasse. Hier kann man Partnerschaften mit Betrieben nutzen. Berufsorientierung erfolgt ja oft schon früh – vielleicht sogar schon im Kindergarten. Da leisten auch Lehrer und Unterrichtsfächer ihren Beitrag, um Berufswunschmuster zu bilden.
Es ist außerdem wichtig, dass Berufsberater in den Schulen präsent sind. Wir bieten eine solche Beratung an. Die Berufswahl ist ein Prozess. Schüler müssen ihren Berater kennen und zwischendurch mit ihm reden können.
"Die Beratung ist unsere Stärke"
Jugendliche, die vor der Berufswahl stehen, sehen sich einer unüberschaubaren Vielfalt von Ausbildungsberufen (über 400) und Studiengängen (mehr als 10.000) gegenüber. Wie sollen sie – und ihre Eltern – sich in diesem Dschungel zurechtfinden? Was raten Sie?
Wilfried Hüntelmann: Wir haben vielfältigste Informationsmöglichkeiten und die digitale Welt unterstützt das. Wir haben gute Angebote, um den Berufswahlprozess zu unterstützen. Da wird nicht nur gezeigt, was der Dachdecker macht, sondern man kann interaktiv Informationen holen. Es sind ja nicht alles höchst unterschiedliche Berufe, sondern Berufsstämme, die sich aufgefächert haben.
Man muss aber verstehen, was den Mechatroniker vom Kfz-Mechaniker unterscheidet. Mit dieser Fülle muss man sich beschäftigen. Weil es diesen Dschungel gibt, ist die Vielfältigkeit nicht unbedingt hilfreich, die eigene Entscheidung zu treffen. Hier setzt die Beratung an: Je mehr Möglichkeiten es gibt, umso wichtiger ist sie. Die Beratung ist unsere Stärke – für die Schulabgänger, aber auch für deren Eltern.
"Möglichst alle Schulabgänger zu Fachkräften ausbilden"
Viele Betriebe klagen zugleich, dass es vielen Auszubildenden heutzutage selbst an Schlüsselkompetenzen wie Lesen und Schreiben und Umgangsformen fehlt. Ein nicht unerheblicher Teil der Ausbildungen wird inzwischen abgebrochen. Ihr Vorgänger hat dazu einmal gesagt, „wir können es uns gar nicht leisten, auch nur einen Jugendlichen zu verlieren.“ Sind junge Leute wirklich „schwieriger“ als früher? Müssen Betriebe heute mehr leisten als „nur“ auszubilden? Wie kann die Agentur für Arbeit hier unterstützen?
Wilfried Hüntelmann: Ich kann die Aussage meines Vorgängers nur bekräftigen. Wir brauchen Fachkräfte. Da macht es Sinn, dass wir möglichst alle Schulabgänger zu Fachkräften ausbilden. Die jungen Leute sind wie sie sind. Da gibt es auch Schwächere, das ist nichts Neues. Es geht darum, sie alle fit zu machen. Das muss der Anspruch sein: Jeden in eine Ausbildung zu bekommen.
Keine Ausbildung zu haben ist schlichtweg das Risiko Nummer eins, in Arbeitslosigkeit zu kommen – und zu bleiben.
Es ist wichtig, jedes Jahr die Schulabgänger zu erreichen: Das ist ein präventiver Ansatz, um künftige Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden.
Wir haben z.B. das JiBB (Junge Menschen in Bildung und Beruf) mit verschiedenen Partner, um mit vielen Instrumenten für alle Lebenslagen Lösungen aus einer Hand anzubieten. Ein Jugendlicher mit einer bestimmten Problemlage findet hier eine Lösung und wird nicht von Pontius zu Pilatus geschickt.
Wir haben berufsvorbereitende Lehrgänge, um Jugendliche fit für die Ausbildung zu machen. Wer Nachhilfe oder sozialpädagogische Unterstützung braucht, kann eine Ausbildungsbegleitung bekommen: Bildungsträger unterstützen den Betrieb bei der Ausbildung.
Neu ist die assistierte Ausbildung: Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsbetrieb zu finden, werden mindestens ein halbes Jahr begleitet.
Man versucht wirklich, unterschiedliche Wege anzubieten, damit möglichst jeder Jugendliche in eine Ausbildung findet.
"Die Qualifikation ist das Entscheidende"
Immer mehr Menschen sind in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt oder bekommen nur noch befristete Jobs. Wer heute keine tragfähige Berufsperspektive hat oder einigermaßen gut verdient, wird später keine ausreichende Rente beziehen. Was kann die Agentur für Arbeit tun, um den Arbeitsmarkt in Richtung nachhaltiger Beschäftigung auszurichten?
Wilfried Hüntelmann: Der Ausbildungsberuf ist die ganz wichtige Grundlage für alles Weitere.
Natürlich braucht man eine Grundaffinität zu einem Beruf. Es ist ein Unterschied, ob ich in den kaufmännischen oder in den handwerklichen Bereich gehe. Aber wenn man eine Ausbildung im dualen System gemacht hat, ist es heute ja nicht mehr so, dass man ein Leben lang in diesem Feld bleibt. Wir haben eine Fülle von Weiterbildungsmöglichkeiten, es gibt Aufstiegsmöglichkeiten in Richtung Technik und Meister. Das ist auch nötig, denn wir müssen stärker als früher begreifen, dass man tatsächlich lebenslang lernen muss, um eine gute Erwerbsbiografie zu haben.
Unser Ansatz ist, Menschen, die keine abgeschlossene Ausbildung haben, zur Ausbildung zu führen. Wenn das nicht geht, dann kann man zumindest eine Teilqualifizierung machen, denn letzten Endes ist die Qualifikation das Entscheidende für jede Erwerbsbiographie.
"Der Wandel ist da"
Wir stehen vor einer Digitalisierung auch unserer Arbeitswelt, die unsere Gesellschaftsstrukturen womöglich ähnlich grundlegend verändern wird wie ihrerzeit die industrielle Revolution. Welche Veränderungen erwarten Sie?
Wilfried Hüntelmann: Der Wandel ist da - mit allen Facetten. Tätigkeiten verändern sich und dadurch auch die Arbeitsplätze. Und es werden Übergangsprozesse entstehen. Es ist wichtig, unsere Beratung für die Menschen auszuweiten, die von diesen Veränderungen betroffen sind. Wir müssen ja so qualifizieren, dass es zur Nachfrage der Wirtschaft passt.
Es gibt erste Modellprojekte wie die „lebensbegleitende Berufsberatung“. In einer sich verändernden Berufswelt ist die neutrale Beratung gefragt. Da sind wir dran.
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH