„Jeder braucht eine Chance“
Sommergespräch: Wie fängt man junge Menschen auf, die keinen Schulabschluss haben?
Eigentlich dürfte es sie gar nicht geben – Jugendliche ohne einen Ausbildungsplatz, denn die Situation auf dem Ausbildungsmarkt ist hervorragend. Statistisch gesehen gibt es zwei Ausbildungsstellen für einen Bewerber. „Wir hatten noch nie eine so günstige Relation zwischen Schulabgängern und gemeldeten Ausbildungsstellen“, erklärte Harald Neubauer, Chef der Münchner Arbeitsagentur. Viele Betriebe suchen händeringend nach Lehrlingen. Und trotzdem gibt es einen nicht unerheblichen Anteil an jungen Menschen, die wieder leer ausgehen werden, vor allem diejenigen, die ohne Abschluss die Schule verlassen haben. Zwar konnte diese Anzahl in den letzten fünf Jahren von bayernweit 8,5 Prozent auf 4,8 Prozent verringert werden. In der Großstadt München sind in diesem Jahr rund 7 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss geblieben. In Zahlen sind das 1000 junge Menschen. 1000 junge Menschen, die dringend gebraucht werden und die der Wirtschaft fehlen, wenn es nicht gelingt, sie in einem Beruf auszubilden und bei denen die Gefahr groß ist, dass sie nicht nur ohne Ausbildung, sondern auch ohne Arbeit bleiben werden.
"Wir brauchen jeden in diesem Land, jedes Talent, jede Begabung, egal, was er später einmal machen möchte“, fasste es Georg Eisenreich zusammen. Die Münchner Wochenanzeiger haben zu einem Runden Tisch in den Hirschgarten geladen, um über das Thema „Auf der Strecke geblieben – ohne Abschluss kein Job?“ zu diskutieren. Über das Thema sprach der Chef der Münchner Agentur für Arbeit, Harald Neubauer, CSU-Landtagsabgeordneter Georg Eisenreich, SPD-Landtagsabgeordneter Florian Ritter, Angela Globig, Handwerksbetrieb Sanitär Heizung, Mittelschulleiter Bernhard Detsch und die Jugendlichen Leyla, Miroslav, Burak und Berker.
München steuert seit Jahren auf einen Facharbeitermangel zu. Angesichts dieser Situation kann es sich die Gesellschaft nicht leisten, dass junge Menschen ohne Berufsausbildung bleiben. Einig waren sich alle: „Jeder Schüler braucht eine Chance auf eine Ausbildung und einen Beruf, damit er sein Leben selbst gestalten kann“, wie es Georg Eisenreich formulierte. Und Florian Ritter betonte: "Ausbildung ist immer ein Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Politik. Einer allein kommt da nicht weiter. Da müssen alle zusammenspielen."
Faktor "Motivation"
Seit elf Jahren ist Bernhard Detsch Schulleiter an der Mittelschule Blumenau. In diesem Jahr haben vier von 63 Schülern die Schule ohne Abschluss verlassen. „Drei davon kamen aus Übergangsklassen“. Das sind Klassen für Kinder, die beispielsweise erst vor kurzem nach Deutschland gekommen sind und die Sprachprobleme haben. Andere Schüler, die nach der achten Klasse ihre Schulpflicht beendet hatten, konnte die Schule dagegen überzeugen weiterzumachen, „die möchten auf jeden Fall einen Schulabschluss machen“. Solange die Jugendlichen noch Schulen besuchen, sei die Betreuungssituation „ziemlich gut“, aber wie komme man an sie ran, wenn sie die Schule verlassen haben und wie geht die Gesellschaft mit den Jugendlichen um, die sich schwer tun in das System reinzukommen?, wollte Florian Ritter wissen.
Allein gelassen seien solche Schüler nicht, betonte Detsch. Es gibt Projekte, die sich um junge Menschen ohne Schulabschluss annehmen. Ob die Schüler die Hilfe dann annehmen, hängt viel vom familiären Umfeld und der Eigenmotivation ab, weiß Detsch. „Motivation“ ist denn auch einer der wichtigsten Faktoren für Erfolg, war sich die Tischrunde einig.
Vier Pädagogen
Am Biergartentisch erläuterte Eisenreich seine Theorie: „Es gibt vier Pädagogen in der Schule. Das eine ist der Lehrer, der nächste der Mitschüler, dann der Raum und zuletzt der Schüler selbst." Seiner Meinung nach, sei es für die Motivation wichtig, dass man wüsste, wofür man lerne. „Nicht für die Schulaufgabe, sondern für einen späteren guten Job, den der Schüler bereits in Praktika kennen gelernt hat". Für die Mittelschulen gab es von Eisenreich in diesem Zusammenhang ein dickes Lob: „Die Berufsorientierung ist wirklich ein Schwerpunkt der Mittelschule."
Seit ein paar Jahren veranstaltet die Arbeitsagentur gemeinsam mit der IHK ein „Sommercamp“ für die Vorabgangsklassen, berichtete Neubauer. „Hier setzen wir auch bei der Motivation an“. Eine Woche lang würden sich die Teilnehmer „intensiv mit den Themen Schule und Beruf“ auseinandersetzen. „Wenn die Schüler in die Schulen zurückkommen, sind die oft wie umgewandelt“, freute sich Neubauer.
Klare Ziele vor Augen
Aus erster Hand erfuhren die erwachsenen Diskussionsteilnehmer von den Mittelschülern Leyla, Burak, Miroslav und Berkem was ihnen in ihrer Schulkarriere geholfen hat. Die vier haben klare Ziele vor Augen. Leyla hat ihren Quali gemacht, möchte noch die Mittlere Reife draufsatteln „und dann Kinderkrankenschwester werden“. Miroslav ist erst 14, hat aber bereits seinen Hauptschulabschluss gemacht und fängt im September eine Lehre als Kfz-Mechatroniker bei Mercedes an. Berkem ist auch 14, er möchte nach dem Quali eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann machen und Burak, ebenfalls in der achten Klasse, plant die Mittlere Reife, „anschließend die FOS und dann etwas in Richtung Autos oder bei der Bank“. Alle kennen sie Mitschüler, bei denen es nicht läuft. „Schüler, die nicht gut deutsch können, haben von Anfang an keinen Erfolg in der Schule, dadurch verlieren sie die Lust am Lernen und denken, dass das Ganze sowieso nichts bringt“, weiß Burak. Ausbilderin Angela Globig sieht das genauso: „Manche hatten schon seit der ersten Klasse Probleme in der Schule. Wenn die zu uns in die Ausbildung kommen, dann sind sie schulmüde und haben in der Berufsschule eine regelrechte Blockade."
Böses Erwachen
Manche Schüler seien aber auch einfach „faul“, erklärte Leyla. „Die wachen dann oft erst nach der Prüfung auf, vor allem wenn sie keine Unterstützung von Zuhause haben“. Es helfe aber auch, wenn die Freunde sie unterstützten. Für Miroslav ist ein gutes Verhältnis zu den Lehrern für den Schulerfolg mit ausschlaggebend, „wenn man sich mit dem versteht, dann macht Schule Spaß."
In Ansätzen werden diese Gedanken in der Praxis umgesetzt. So gebe es bereits im Kindergartenalter Deutschkurse, „die Kinder sollen die Sprache können, wenn sie in die Schule kommen“, so Eisenreich. In den Schulen werden Schulsozialarbeiter eingesetzt „und wir haben die Klassenstärken gesenkt, damit sich die Lehrer besser um Einzelne kümmern können." In München beträgt die Durchschnittsgröße einer Mittelschulklasse derzeit nur mehr 19. Florian Ritter ergänzte die Fördermöglichkeiten noch mit der Ganztagesbetreuung, die unbedingt ausgeweitet werden müsse. „Die wurde den Schülern lange verwehrt und ist erst jetzt im Kommen."
Detsch warnte davor, alle Probleme auf die Sprache zu schieben. In seinen Übergangsklassen säßen häufig Kinder, die unter schrecklichen Umständen aus dem Ausland hatten fliehen müssen. „Die haben null häusliche Unterstützung, wohnen zum Teil in Gemeinschaftsunterkünften, aber sind hoch motiviert." Diese Schüler würden häufig besonders schnelle Lernfortschritte machen.
Jeder ist wichtig
Seit 30 Jahren bildet Angela Globig, Chefin eines Sanitär- und Heizungshandwerkbetriebs aus. Dabei gibt sie jungen Menschen mit schlechten Zeugnissen oder Abgängern von Förderschulen eine Chance. Es ist nicht nur der Mangel an Bewerbern, der Frau Globig dazu veranlasst hat. „Auch Leute, die nicht so gut sind, brauchen eine Chance und jeder ist auf seinem Platz für die Gesellschaft wichtig, egal, auf welcher Sprosse der Leiter er steht“. Allerdings muss sie sich für ihre „besonderen Kandidaten“ ganz schön einsetzen, damit diese die Lehre durchziehen. „Es gab Zeiten, da stand ich in der Früh beim Frühstück, an jedem Ohr ein Handy, um die Jugendlichen aus dem Bett zu klingeln." Unterstützung von außen bekomme sie keine und auch der Kontakt mit den Berufsschulen müsste intensiver sein. Globig wünscht sich Sozialpädagogen als Ansprechpartner, außerdem Dolmetscher, um mit Eltern, die kein Deutsch können, sprechen zu können, vor allem wenn es darum geht, einen Schüler zum Lernen zu bewegen, „da weiß ich oft nicht, ob die Eltern die Problematik wirklich verstanden haben."
Florian Ritter stellte der Tischrunde ein Projekt der Stadtwerke München vor. „Hier werden Jugendliche ausgebildet, die unter schwierigen Verhältnissen leben. Neben der gewerblichen Ausbildung werden sie zusätzlich sozialpädagogisch unterstützt. Wenn kleine Betriebe solche Unterstützungen bekämen, wäre es leichter für sie auch schwierige Auszubildende einzustellen. „Es ist schließlich ein Unterschied, ob bei Siemens oder BMW 15 Azubis bereits in der Werkstatt schleifen und der 16. fehlt noch, als wenn beim kleinen Betrieb alle dastehen und am Auto warten, um zum Kunden zu fahren und der Lehrling ist noch nicht da."
Dabei gibt es von der Arbeitsagentur die Möglichkeit „Nachhilfe“, sogenannte ausbildungsbegleitende Hilfen, zu bekommen. Aber die Plätze reichen nicht aus. „Wir haben Wartelisten, weil die Zahl derer, die Nachhilfe benötigen von Jahr zu Jahr steigt“, bedauerte Neubauer. „Lohnt sich denn das zusätzliches Engagement?“, wollten die Münchner Wochenanzeiger wissen. Schließlich könnten es die Ausbildungsfirmen mit guten Schülern einfacher haben.
Einer, der es geschafft hat
„Es gibt Bildungsträger, die befassen sich mit Jugendlichen, denen kein Unternehmen einen Ausbildungsvertrag geben würde“, erklärte Neubauer. Ein Junge sei beispielsweise in schwierigen Verhältnissen groß geworden. „Das Jugendzimmer war der Platz hinter der Wohnzimmercouch." Der alkoholkranke Vater habe den ganzen Tag getrunken und ferngesehen. „Der Sohn hat die Schule nicht gepackt, ist kriminell geworden." Aus dieser Situation hat der Bildungsträger ihn herausgeholt, ihn mit Hilfe von Sozialpädagogen aufgebaut und eine Kfz-Mechatroniker-Lehre vermittelt. Anfangs war es schwierig und die Betreuer mussten immer wieder beim Ausbilder um Verständnis werben. „Es hat seine Zeit gebraucht, bis sich der Junge an die Regelmäßigkeit gewöhnt hatte." Mittlerweile hat er ausgelernt und der Betrieb hat ihn sogar übernommen,. „Er hat es geschafft aus seinem schlechten Milieu herauszukommen“, freute sich Neubauer. Das Ganze habe aber „richtig viel Geld gekostet“. „Meine Bitte an die Politiker ist, dass nicht nur Forderungen gestellt werden, sondern dafür Haushaltsmittel bereit gestellt werden“ und für die Zukunft wünschte sich Neubauer „dass wir die Zahl der 1000 Schulabgänger ohne Abschluss halbieren."
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Unser nächstes Sommergespräch
In unserem nächsten Sommergespräch "Am Ende des Weges" geht es um unseren Umgang mit Sterben und Tod. Wie hat sich unsere Einstellung verändert? Palliativmediziner, Hospizmitarbeiter, Bestatter und Geistliche diskutieren mit MdB Hans-Peter Uhl und Stadrat Andreas Lotte. Lesen Sie mehr im nächsten Samstagsblatt.
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