"Wir haben eine üppige Tafel an Möglichkeiten für jeden"
Fachkräftemangel? Auch "schwierige" Jugendliche starten in der Ausbildung plötzlich richtig durch
Es gibt mehr offene Lehrstellen als Bewerber, im Handwerk fehlen Auszubildende und im Erziehungsbereich können aus Personalmangel Kindergruppen nicht eröffnet werden. Dazu kommt der demographische Wandel, der die Situation in den nächsten Jahren noch verschärfen wird. Steuern wir kopflos in den Fachkräftemangel oder gibt es Maßnahmen und Konzepte, um die Situation in den Griff zu bekommen? Das waren die Fragen, zu denen unsere Experten beim Sommergesprächs im Hirschgarten Stellung bezogen.
"Es gibt ihn nur in manchen Bereichen"
Einen generellen Fachkräftemangel mochten die Teilnehmer nicht bestätigen. "Es gibt ihn nur in manchen Branchen, Regionen und Bereichen", erklärte Guido Werl. So würden Mechatroniker fehlen, Fachkräfte im Energiebereich, Maschinenbau, in der Gesundheit, Erzieher, Pfleger, Bäcker. Und der Fachkräftemangel werde laut Prognosen in einigen Bereichen sogar bis 2030 steigen, ergänzte Peter Kammerer. Zum Beispiel bei der Malerinnung. "Wir haben einen Rückgang in den Ausbildungszahlen, der ist zwar nicht dramatisch, aber liegt konstant im einstelligen Bereich", erklärte Uli Faßnacht. Auch er geht davon aus, dass der Rückgang sich in den nächsten Jahren fortsetzen werde.
"Es ist keine Überraschung"
Allerdings ist die Situation seit langem prognostiziert worden und keine Überraschung. Von "kopflos" könne keine Rede sein, versicherten die Fachleute. "Prognosen sind dafür da, dass man Maßnahmen einleitet, damit sie dann nicht mehr eintreffen", sagte Kammerer. Er glaubte fest daran, dass dank attraktiver Angebote zukünftige Fachkräfte gefunden werden können. Die Experten am Tisch zählten eine Reihe von Konzepten auf, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, um die Anforderungen an ältere Arbeitnehmer durch Qualifizierungsmaßnahmen anzupassen oder um die vergleichsweise niedrigen Ausbildungsquoten von Menschen mit Migrationshintergrund anzuheben.
Offene Türen: Abbrecher auffangen
Trotzdem – befriedigend ist die Situation noch nicht. "Es gibt noch viel Handlungsbedarf für alle Beteiligte", gab Kammerer zu. Das war das Stichwort für Guido Werl: Die Arbeitsagentur versuche auf verschiedenen Ebenen dem Fachkräftemangel gegenzusteuern. In den Schulen gibt es intensive Berufsberatung, die "stille Reserve" der Hausfrauen und –männer soll durch Kurse und Fortbildungen motiviert werden, wieder in den Beruf einzusteigen, auch Studien- und Ausbildungsabbrecher sollen aufgefangen und in neue Ausbildungsverhältnisse vermittelt werden. Außerdem sei die Arbeitsagentur offen für neue Ideen. Gemeinsam mit den Arbeitgebern könnten neue Ideen und Strategien entwickelt werden. "Unsere Türen stehen offen für Kooperationen", versprach Werl.
Solche Projekte klangen in den Ohren der Tischrunde vielversprechend. Doch die tollsten Konzepte nützen nichts, wenn sie nicht angenommen werden. "Uns fehlen die Kunden", bedauerte Werl. Zum Beispiel bei der Teilzeitausbildung. Sie sei ein hervorragendes Mittel, um beispielsweise Müttern mit Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Von den Zahlen her müsste eine rege Nachfrage nach einer solchen Qualifizierung bestehen, doch die Realität sieht anders aus.
"Frauen sind nach der Geburt weg"
Ursula Roßgoderer hat zwar keinen Rückgang der Anmeldungen an ihrer Schule festgestellt und "nach einem dreiviertel Jahr konnten wir sogar eine Klasse auflösen, weil alle über Praktika in den Einzelhandel vermittelt werden konnten", aber auf der anderen Seite gibt es eine hohe Abbrecherquote, "diese Jugendliche verschwinden einfach", berichtete die Berufsschullehrerin. Darunter sind viele schwangere Frauen "98 Prozent der Frauen sind nach der Geburt weg“. Hier müssten flexible Teilzeitausbildungen angeboten, aber auch angenommen werden.
"Es tobt der Kampf um Erzieherinnen"
Im Erziehungsbereich sind solche Angebote gang und gäbe. "Wir machen alles, um neue Erzieherinnen zu bekommen“, erklärte Elke Prumbach. "In München tobt der Kampf um Erzieherinnen“, berichtete sie. Um den Bedarf der Eltern an Kinderbetreuungseinrichtungen zu bedienen, seien in den letzten Jahre die Einrichtungen wie Pilze aus dem Boden geschossen, "wo das ganze Personal dafür herkommen soll, daran hat keiner gedacht", kritisierte sie. Mit der Folge, dass vor kurzem eine neue Krippe aus Personalmangel mit einer statt mit vier Gruppen starten musste. "Kopflos in den Facharbeitermangel – im Erziehungsbereich trifft das zu. Da ist gehörig etwas schief gelaufen."
Undurchschaubare Berufsbilder
"Die Betriebe stehen im Wettbewerb um die Jugendlichen", erklärte Jürgen Weber. Diese hätten heutzutage mit einem schier unübersichtlichen Angebot an Berufsbildern zu kämpfen. "Wir hatten vor 40 Jahren vielleicht 100 verschiedene Ausbildungen, mittlerweile sind es 400", berichtet Berufsschullehrer Lazar. "Bei vielen kann man aus dem Namen nicht einmal erkennen, worum es sich handelt". Die Aufgabe sei, den Jugendlichen zu vermitteln, "was steckt dahinter, bei welchen Firmen kann man das machen und was verdient man später dabei". Und dann müsste der Wert der dualen Ausbildung besser transportiert werden. Etliche Jugendliche würden sich beispielsweise dafür entscheiden, sofort mit einem Job anzufangen, da man auch als unqualifizierter Arbeiter anfangs mehr verdiene als in einer Lehre.
"Von 'schwierig' zum Innungssieger"
Viele Innungen haben deswegen Qualitätsoffensiven für ihre Berufe gestartet. So wurden die Ausbildungen innerhalb der Malerinnung attraktiver gestaltet. Jürgen Weber: "Wir haben für begabte Lehrlinge einen elfwöchigen Leistungskurs, in dem alte Techniken wie Vergolden oder Marmorieren gelehrt werden", erklärte er. Zu dem Kurs gehören Museumsbesuche, "das sind Dinge, die man nicht von einem Maler erwarten würde". Nachwuchs für die Ausbildungsstellen requiriert die Malerinnung auch aus dem Pool an Jugendlichen mit schlechten Zugangsvoraussetzungen. Diese werden besonders gefördert und in Praktika vermittelt. Die Vermittlungsquote an Betriebe betrage 80 Prozent, freute sich Jürgen Weber. "Einer dieser schwierigen Jugendlichen ist sogar Innungssieger geworden".
"Anspruchsvoller als viele meinen"
Im Verkaufsbereich, in dem Heinz Hoffmann "händeringend nach Verkäuferinnen sucht", soll sich ebenfalls einiges ändern. Zu wenige Lehrlinge wählen in München diesen Beruf, da er in der Öffentlichkeit als nicht sehr anspruchsvoll angesehen werde, bedauerte Hoffmann. Eine Fehleinschätzung. "Man lernt nicht umsonst drei Jahre", mahnte er und berichtete von schlechten Erfahrungen mit überforderten Aushilfskräften. Um mehr Leute für den Beruf zu interessieren, werden nun neue Schulungsmethoden ausprobiert. "Wir sind dabei, eine Art Meisterbrief auszuarbeiten", erklärte Hoffmann. Außerdem soll es Aufstiegschancen für Verkäuferinnen geben: Verkaufsleiterinnen, Verkaufstrainerinnen.
Duygu Goeler hat sich im zweiten Anlauf für eine Lehre als Verkäuferin in einer Bäckerei entschieden. Der Beruf "Verkäuferin" mache ihr viel Spaß, "der ist anspruchsvoller als viele meinen“, wusste die 19-Jährige. "Mein Ziel ist, die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Durchhalten ist manchmal sehr schwer“.
"Durchhalten" lohnt sich
"Durchhalten" ist auch oberstes Ziel bei Florian Würdinger. Trotz der guten Lehrstellensituation "war es schwierig eine Lehrstelle zu finden“, berichtete der 17-Jährige, der gerade ein Berufsvorbereitungsjahr macht. "Ich musste 25 Bewerbungen schreiben, bis ich eine Lehrstelle zum Kfz-Mechatroniker gefunden habe". Ob der junge Mann nach der Berufsausbildung den Beruf langfristig ausüben wird, ist – zumindest statistisch gesehen - ungewiss. Helmut Spratter weiß, dass Mechatroniker zwar als Wunschberuf bei den jungen Leuten ganz oben auf der Liste stehe, "aber 50 Prozent, die den Beruf lernen, hören wieder auf". Sie wandern ab in Berufe, in denen sie sich "weniger schmutzig machen und mehr verdienen".
"Ich habe mir schon überlegt Leute aus Spanien zu holen", gibt Spratter zu. Für Obermeier ist das keine Alternative. "Wir haben das probiert, doch dabei unterschätzt man das Heimweh". Menschen aus Regionen mit schlechten Arbeitsbedingungen in andere zu karren, würde nicht so leicht funktionieren. Berufsschullehrerin Ursula Roßgoderer fand die Idee mit den spanischen Fachkräften dagegen nicht schlecht. An ihrer Berufsschule startet im nächsten Jahr sogar ein Projekt, bei dem eine ganze Klasse aus Spanien in München unterrichtet werden soll. Das Arbeitsamt versucht im Pflegebereich Auszubildende aus dem Ausland zu akquirieren. "Wir haben europaweit Vermittler installiert, um zu beraten", so Werl.
"Wir dürfen keinen zurücklassen"
Robert Lazar kennt das Missverhältnis zwischen offenen Lehrstellen und Bewerbern aus der Schulpraxis. Hier hat er es oft mit "schwierigen Jugendlichen" zu tun, die er bei der Ausbildungssuche unterstützt. "Die Vermittlungsquoten von uns sind je nach Klasse und Berufsfeld unterschiedlich", wusste Lazar. In der Berufsvorbereitung werden die Jugendlichen für die Ausbildung "fit" gemacht. "Manchen fehlen die Grundtugenden, die sie dazu befähigen, überhaupt eine Ausbildung anzufangen“, bedauerte der Lehrer. Um den Horizont zu erweitern und Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit zu fördern, werden Schüler für Praktika ins Ausland geschickt, "die kommen als ganz andere Menschen zurück", schwärmte Lazar. "Die Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auch nur einen Schüler zurückzulassen“, mahnte er. "Wir müssen jedem eine Chance geben und wenn er eine zweite, dritte, vierte Chance braucht, müssen wir sie ihm auch geben", appellierte Lazar an die Ausbildungsbetriebe. Das gelte übrigens auch für Schul- oder Studienabbrecher.
"Was mich prägte, war die Lehrzeit"
Dem stimmten die Gesprächspartner zu. Keine "Berührungsängste" habe er bei Studienabbrechern und Abiturienten für eine Ausbildung zu werben, sagte Faßnacht. "Ich bin zwar Akademiker, aber das, was mich im Leben geprägt hat, das war meine Lehrzeit". Das könne durch keine noch so exzellente Schule, universitäre Ausbildung und Managementseminaren vermittelt werden. Für viele Eltern würde aber außer Gymnasium und Studium nichts anderes zählen. Handwerksberufen in der Gesellschaft mehr Anerkennung zu verschaffen, sei deswegen unabdingbar. "Wenn wir die Akademisierung der Gesellschaft weiter vorantreiben, werden wir unseren Wirtschaftsstandort schwächen", prophezeite Kammerer. Die duale Ausbildung sei das Erfolgsrezept der bayerischen Wirtschaft.
"Es gibt auch andere Wege als Studium"
"Karriere- und Aufstiegschancen sind über das Handwerk oft besser zu erreichen als über ein Studium", gab Kammerer zu bedenken. Den Studienabbrechern sollten Handwerksberufe als Alternative schmackhaft gemacht werden. "Wir haben 30 Prozent Abbrecher, die muss man in das Berufsleben holen", so Kammerer. Vor allem da viele dann endlich ihre praktischen Talente entfalten könnten, "sie wurden vorher in ein Studium hineingetrieben und haben dann einen Höllenspaß, endlich praktisch loslegen zu können". Das Studium wollte Kammerer zwar nicht schlecht reden, "aber man sollte den Abiturienten zeigen, dass es neben dem Studium auch andere Wege gebe". Werl appellierte deswegen an die Unternehmen eine "Willkommenskultur" für Studienabbrecher zu entwickeln.
Zustimmendes Nicken bekam Kammerer am Schluss für seine Aussage, "wir haben noch viele Stellen, wo man ansetzen und Potenziale nutzen könnte". Poetisch fasste es Faßnacht in Worte: "Wir haben eine köstliche üppige Tafel an Möglichkeiten für jeden."
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Guido Werl (Arbeitsagentur München, Teamleiter Arbeitgeberservice)
Peter Kammerer (stv. Hauptgeschäftsführer der IHK für München und Oberbayern und Leiter des Bereichs Volkswirtschaft Handel Dienstleistungen)
Robert Lazar (Lehrer an der städt. Berufsschule zur Berufsvorbereitung)
Florian Würdiger (Schüler an der städt. Berufsschule zur Berufsvorbereitung)
Elke Prumbach (stv. Geschäftsführung Sozialdienst kath. Frauen)
Ursula Roßgoderer (Lehrerin an der städt. Berufschule für den Einzelhandel)
Duygu Goeler (Schülerin an der städt. Berufschule für den Einzelhandel)
Uli Faßnacht und Jürgen Weber (Obermeister und Geschäftsführer der Malerinnung)
Heinz Hoffmann (Obermeister der Münchner Bäckerinnung und Inhaber Bäckerei / Konditorei Hoffmann)
Helmut Spratter (Inhaber Autohaus Spratter)
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