"Wahlfreiheit ist in München ein leerer Begriff"
Round-Table-Gespräch von Stadtratskandidaten zum Thema Ganztagsbetreuung
Die Bildung unserer Kinder muss uns lieb und teuer sein, nötig sind Qualität und ein vielfältiges Angebot: Darüber herrschte Einigkeit am Runden Tisch zum Thema Ganztagsschulen, zu dem das Samstagsblatt geladen hatte. Wir baten neun Stadtratskandidatinnen und -kandidaten von CSU, SPD, FDP und Grünen, ihre persönlichen Ideen und Ziele zu diesem Thema vorzustellen. Diskutiert wurden der Mangel an Räumen und Personal, die Betreuung in den Ferien, die Rolle der Vereine, die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Ausbildung von Erziehern. Die üblichen Schuldzuweisungen zwischen Freistaat und Landeshauptstadt über Versäumnisse in der Schulpolitik kürzte Michael Mattar ab: "Defizite gibt es auf allen Ebenen", meinte der FDP-Stadtrat.
"Eine gute Ganztagsschule ist die Zukunft", lautet die Überzeugung von Anja Berger, selbst Lehrerin an einem Förderzentrum. Der Unterricht müsse rhythmisiert sein, das heißt, es wechseln sich Lern- und Entspannungsphasen ab. "Neben den Lehrkräften brauchen wir auch anderes pädagogisches Personal, sowie musische und sportliche Angebote." Was meint sie zur Wahlfreiheit für Schüler, die lieber mittags nach Hause gehen wollen? Ihre Vision: Das Ganztagsangebot soll in einigen Jahren so gut sein, dass die Schüler es begeistert annehmen.
"Ein Armutszeugnis für eine wohlhabende Gesellschaft"
"Für eine so wohlhabende Gesellschaft ist es ein Armutszeugnis, wenn nicht genug für Bildung und Erziehung der Kinder getan wird", meint Serdar Duran. In seiner eigenen Kindheit waren seine Eltern beide berufstätig, er trug den Hausschlüssel an einer Kette um den Hals und er hätte sich viel mehr Angebote für sich und seine Freunde gewünscht: Sport und Hausaufgabenbetreuung zum Beispiel. Neu gebaute Schulen müssten unbedingt gleich mit den nötigen Räumen für Ganztagsbetrieb ausgestattet werden – dem wollte niemand widersprechen.
Die Wahlfreiheit ist eine zentrale Forderung von FDP-Kandidat Michael Mattar. Er will keinen Zwang zur Ganztagsschule und er fordert ein vielfältiges Angebot, zu dem auch Hort und Mittagsbetreuung gehören. Bei rhythmisierten Ganztagsschulen sieht er noch die größten Defizite. Dass eine Mittagsbetreuung nur gefördert wird, wenn sie ihre Räume unmittelbar an der Schule hat, hält er für ein Unding und erntete dafür allgemeine Zustimmung. Die Einbindung der Vereine und eine Betreuung in den Ferien nannte er als weitere Schwerpunkte.
Manuela Olhausen wies auf den enorm hohen Betreuungsbedarf in München hin und plädierte ebenfalls für ein breites Angebot an Möglichkeiten. Die Stadt setze zur Zeit zu einseitig auf rhythmisierte Ganztagsschulen. "Bei Mittagsbetreuungen und Horten ist es leichter, flexible Abholzeiten anzubieten", gab sie zu bedenken. Ihrer Erfahrung nach wünschen Eltern Wahlfreiheit. Das große Problem an den Schulen sei der Platzmangel. Und: In Obersendling sei ein komplettes Areal gebaut worden und die Schule steht noch nicht: "Wie kann denn das passieren?" Ihre Forderung, es müsse Geld für den Ausbau der Betreuung in die Hand genommen werden, blieb unwidersprochen.
"Für mich wäre das nichts gewesen"
"Für mich wäre die Ganztagsschule nichts gewesen", erklärte Leonhard Agerer. "Ich habe fünf Geschwister und wir hatten zuhause unseren Spaß miteinander." Doch natürlich sieht er den Bedarf vieler Familien, auch von Alleinerziehenden, an Ganztagsbetreuung. Wert legt er nicht nur auf die Quantität, sondern auch auf die Qualität der Betreuung. Er fordert Schulräume mit Wohlfühlcharakter, "es dürfen nicht Verwahranstalten sein".
Städtische Flächen für Bildungsangebote
Bei der Qualität knüpfte gleich der Sendlinger Bezirksausschussvorsitzende und SPD-Stadtratskandidat Markus Lutz an: "Weder der Freistaat noch die Stadt dürfen versuchen, Geld an der Bildung zu sparen. Da müssen wir uns als Bildungspolitiker gegenüber den Finanzkollegen durchsetzen." Ganztagsbetreuung sei wichtig, Vereine und Musikschulen müssten eingebunden werden. Zu den bestehenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung hatte Lutz einige Lösungsvorschläge: Teilweise lägen die Probleme an veralteter Planung. "Ich bin Anhänger einer groß angelegten Verwaltungsreform." So soll die Zusammenarbeit von Planungsreferat, Baureferat, Referat für Bildung und Sport effizienter werden. Zum Glück habe die Stadt ja den Neubau von Schulen geplant. An den bestehenden Schulen in München gebe es eindeutig zu wenig Platz und meist auch keine Erweiterungsmöglichkeiten, wie zum Beispiel an der Gotzinger Schule. Doch an der Großmarkthalle würden Grundstücke frei, und so werde dort die Gotzinger Schule erweitert. "Wenn städtische Flächen frei werden, soll geschaut werden, ob der Platz für Betreuungsangebote gebraucht wird, bevor Grundstücke verkauft werden. Da hat die Bildung Vorrang. Die Infrastruktur muss geschaffen werden, München wird weiterhin wachsen."
Geld nicht nur für Hochschulen
Max Straßer, Vater dreier Kinder im Alter von 4, 11 und 13 Jahren, will die Beratungsmöglichkeiten für Eltern-Kind-Initiativen ausbauen. "Bei den Schulen setze auch ich auf die Wahlfreiheit. Aber hier in München ist das ein leerer Begriff. Wer die Möglichkeit hat nach der Schule zu den Eltern zu gehen soll das nutzen – höchste Qualität bei den Eltern. Aber wir wissen alle: dem ist nicht so." Deshalb solle der vorhandene Mix an Betreuungsmöglichkeiten ausgebaut werden. Er lobte die rhythmisierte Ganztagsschule, die seine Tochter besucht, das Elsa-Brändström-Gymnasium. Straßer gab zu bedenken: "In die Hochschulbildung wird sehr viel Geld gesteckt, das ist auch wichtig. Aber für die frühkindliche Bildung muss auch sehr viel mehr ausgegeben werden – ich bin für mehr Ausgewogenheit im Schulbereich."
Mutter "leider" nicht daheim?
Louisa Pehle aus Sendling machte sich für das Angebot so genannter "24-Stunden-Kitas" stark, was natürlich nicht bedeutet, dass ein Kind 24 Stunden am Stück dort ist. Es ist vielmehr ein Angebot für Eltern, die zu ungewöhnlichen Zeiten arbeiten, wie zum Beispiel Ärzte und Krankenpfleger. "Ich wehre mich auch gegen diesen oft gehörten Ausspruch: ,Früher war die Mutter zuhause, heute ist es leider nicht mehr so.' Wieso denn ,leider'? Frauen haben eine gute Ausbildung und wollen auch wieder in den Beruf zurück", ist sich die 29-Jährige sicher.
Christian Müller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der SPD-Stadtratsfraktion, ist froh, dass im Kindergarten- und Krippenbereich eine Vollversorgung erreicht wurde. Für Schulkinder gebe es ein "buntes Feld" an Angeboten: Horte, Tagesheime, Mittagsbetreuungen – für die Eltern nicht wirklich überschaubar. Das Ziel müsse sein, dass es eine rhythmisierte Ganztagsschule gibt, dass die städtischen und staatlichen Angebote ineinander greifen. Der Stadtpolitiker sparte nicht mit Forderungen an den Freistaat: Der Einsatz von Erziehern in Horten müsse auch für die Zeit zwischen 8 und 11 Uhr bezuschusst und die Förderung im Bereich des BayKiBiG (Bayerisches Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz) insgesamt angehoben werden. Diese decke nur noch 50 bis 60 Prozent der Personalkosten.
"Staat zahlt zu wenig"
Von städtischer Seite sei dafür gesorgt, dass es ausreichend Ferienbetreuung gibt, erklärte der SPD-Stadtrat. Neben den bekanntesten Angeboten Lilalu und Kibelino gebe es weitere rund 1.000 Angebote freier Träger. "In den letzten Jahren hatten wir eine klare Priorität auf der Finanzierung der Kinderbetreuung. Durch die sogenannte Münchner Förderformel haben wir 50 Millionen zusätzlich draufgelegt. Wo es möglich war, haben wir Räume zugebaut. Und es stehen keineswegs genügend staatliche Zuschüsse zur Verfügung. Allein 170 Millionen Euro spart sich der Freistaat jährlich, indem er städtisches Lehrpersonal nur zu einem Bruchteil finanziert." Zum Teil seien schulische oder Ganztagsangebote zu spät errichtet worden, räumte Müller ein.
Dringend gehandelt werden müsse, um den Erzieherberuf attraktiver zu machen, fügte Müller an. Vor allem die fünfjährige Ausbildung schrecke viele junge Leute davon ab, "und da ist leider vom Kultusministerium keine Bewegung zu erwarten." Die Berufsverbände selbst seien gegen eine Verkürzung, wusste Manuela Olhausen. Leonhard Agerer steuerte Wissen aus dem persönlichen Umfeld bei: Sein Bruder mache eine Ausbildung zum Erzieher, und die Fachakademie sehe eine Verkürzung tatsächlich kritisch. "Die schimpfen eher über die Bezahlung." Doch Anja Berger ließ das Argument nicht gelten: "Wer macht denn die Politik – die Verbände oder wir?"
Wohnungen für Erzieherinnen
Das Ansehen des Erzieherberufs muss steigen, mehr männliche Erzieher werden gebraucht: Es muss Extra-Zulagen geben und am besten auch Wohnungen – diese Ideen wurden genannt. Für das Ganztagskonzept brachte Serdar Duran noch einen Vorschlag ins Spiel, den alle für gut befanden: Eltern, die Zeit haben, sollen mit eingebunden werden.
Unsere Gäste
An unserem Round-Table-Gespräch nahmen teil:
Manuela Olhausen, Stadträtin CSU
Serdar Duran, Stadtratskandidat CSU
Leonhard Agerer, Stadtratskandidat CSU
Max Straßer, Stadtratskandidat CSU
Christian Müller, Stadtrat SPD
Markus Lutz, Stadtratskandidat SPD
Louisa Pehle, Stadtratskandidatin SPD
Michael Mattar, Stadtrat FDP
Anja Berger, Stadträtin Grüne.
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH