Mode und Lyrik der Jahrhundertwende
Gemeinsamer Kalender der Orag und des Münchner Stadtmuseums
Eine gute Nachbarschaft hält länger als ein Jahr – unter diesem Motto ist in Zusammenarbeit der ORAG, eine der ältesten Schneidergenossenschaften der Landeshauptstadt, und dem Münchner Stadtmuseum ein Modekalender mit Gedichten und Grafiken aus der Zeit um die Jahrhundertwende entstanden. „Der Kalender ist sehr schön geworden“, betont Heinz Hußmann, der langjährige Vorstandssprecher der Schneidereinkaufsgenossenschaft, anlässlich der Vorstellung des Projekts im Orag-Haus am Oberanger. Und Edeltraud Löffelmann, Orag-Aufsichtsratsvorsitzende, ergänzt: „Zu Zeiten der Jahrhundertwende war die Schneider-Familie das stärkste Gewerk in München. Wir waren Riesen damals!“
Die Entstehungsgeschichte des Kalenders beschreibt Hußmann folgendermaßen: „Es ist so ungefähr 20 Jahre her, dass mein Freund Willi Flingelli meinte, das wir doch mal einen Kalender mit Münchner Stadtansichten machen könnten. Er hätte da so einige Zeichnungen." Dies habe man dann auch gemacht, „in schwarz-weiß natürlich. Farbdruck war damals noch unerschwinglich.“ Nun müsse er natürlich noch erklären, wer Willi Flingelli eigentlich war. „Er war in meinen Augen der beste Herrenschneider der Welt, hatte einen tollen Betrieb und war bei uns im Aufsichtsrat.“ Flingelli sei aber auch ein sehr guter Kunstmaler, ein begnadeter Pianist „und der wertvollste und sympathischste Mensch, den man sich denken kann.“
„Umfangreiche Materialsammlung“
Der nun vorliegende Kalender für 2015 trägt nach Angaben von Heinz Hußmann überwiegend die Handschrift von Esther Sophia Sünderhauf, der Leiterin der Von Parish-Kostümbibliothek. „Wir hatten einen fulminanten Spätstart“, erzählt Hußmann. Erst am 9. Oktober dieses Jahres habe man das erste Mal miteinander gesprochen. „Ich hatte aber schon eine ziemlich umfangreiche Materialsammlung mit Gedichten der Jahrhundertwende zusammengetragen.“ Die Gedichte, die sich im Kalender befinden, sind auf die Bilder auf der Vorderseite des jeweiligen Blattes thematisch abgestimmt. „Ich finde es ganz gut, wenn man versucht, sich zusätzlich zu den Bildern dem Zeitgeist schriftstellerisch zu nähern“, betont der 81-jährige Herrenschneidermeister, der noch heute als Prokurist in der Orag-Geschäftsleitung fungiert. Die Orag ist zudem die einzige Schneidereigenossenschaft Deutschlands.
Esther Sophia Sünderhauf habe nun das Kunststück fertiggebracht, „zu zwölf Gedichten aus meiner Sammlung passende Graphiken auszuwählen und zwar mehrere pro Gedicht“, so Hußmann weiter. Die endgültige Auswahl habe man dann gemeinsam getroffen, und zwar „an einem Nachmittag, an dem viel gelacht wurde. Die Paarungen Bild und Vers sind also ziemlich spontan und ursprünglich. Das hat aber auch seinen Reiz.“ Er selbst sei dann aber auf dem großen Teil seiner Gedichte sitzen geblieben. „Das ein oder andere hätte ich schon gern im Kalender gehabt“, erzählt Hußmann schmunzelnd. „Auf lange Sicht freue ich mich auf die Zusammenarbeit mit Frau Dr. Sünderhauf, vor allem im nächsten Jahr, wenn wir Biedermeier machen.“
Von Parish-Kostümbibliothek
Die Von Parish-Kostümbibliothek in Nymphenburg bewahrt alle Kleider vergangener Epochen auf – nämlich als Abbild in Form von Graphik, Zeichnung und Fotografie, in alten Zeitschriften und raren Büchern und in einer Dokumentation, in der Dinge gesammelt werden, die sonst keine Bibliothek verwahrt“, betont Esther Sophia Sünderhauf. Die Sammeltätigkeit erstreckt sich weltweit über alle Epochen. „Die VPK, wie unser Haus auch kurz genannt wird, ist somit eine der größten Fachsammlungen zur Kostümgeschichte weltweit.“
Die Kostümbibliothek befindet sich in einer Jugendstilvilla in Nymphenburg. Hier lebte und arbeitete die Begründerin der Sammlung, Hermine von Parish (1907-1998). Sie sei eine geradezu manische Sammlerin gewesen. „Alles wurde aufgehoben, ausgeschnitten, aufgeklebt“, so Sünderhauf. 1970 habe Hermine von Parish Villa und Sammlung der Stadt München für das Stadtmuseum übergeben, erst damit sei das „Archiv zur Erforschung der Kostümgeschichte“ gegründet worden. „Mit dem Orag-Kalender hält man eine Kostprobe dessen in den Händen, was sich bei uns befindet.“
„Paris war das unangefochtene Zentrum der Damenmode“
Was die Graphiken im Kalender anbelange, so entstammen sie überwiegend Pariser Modejournalen und zeigen Garderoben von Pariser Couturiers. Um 1900 war Paris das unangefochtene Zentrum der Damenmode. Die Schönsten sind der damals nur in wenigen Auflagen gedruckten „Gazette du Bon Ton“ entnommen, die den neuen Stil der damaligen Mode „wohl am konsequentesten propagierte“, wie Sünderhauf betont. „Sie sprechen uns bis heute unmittelbar an. Und in diesem Sinne einer fortdauernden Gegenwärtigkeit der Kunst möge sich jeder von unseren Modegraphiken durch das nächste Jahr begleiten lassen."
Der Kalender ist übrigens nicht nur das Ergebnis einer guten Nachbarschaft der kleine Genossenschaft mit dem Stadtmuseum. Man verstehe sich am St.-Jakobs-Platz mit allen Nachbarn sehr gut, betont Hußmann. Die Anlieger könnten unterschiedlicher allerdings nicht sein. „Paarweise aufgezählt sind das zwei Gotteshäuser, die katholische St. Jakobs-Gemeinde und die jüdische Synagoge, das Angerkloster und die Israelitische Kultusgemeinde, das Stadtmuseium und das Jüdische Museum, das Alten- und Service-Zentrum und als einziger privater Anlieger da Orag-Haus.“ Seitdem man zum 850. Stadtgeburtstag gemeinsam eine große Veranstaltung unter dem Motto „Nachbarn bauen Brücken“ organisiert habe, fühle man sich freundschaftlich verbunden. Für die Zukunft sind weitere Veranstaltungen geplant.
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