Erfahrung trumpft auf
Wie riecht, wie schmeckt Heimat?
In jedem Kopf läuft ein eigener Heimat-Film ab: Jeder hat andere Erinnerungen, andere Bilder, andere Bezüge zu dem, was wir alle "Heimat" nennen. Es ist ein Mosaik aus vielen verschiedenen Steinchen und Wahrnehmungen aller Sinne. Einer der eher unterschätzten ist der Geruchssinn. Als visuell orientierte Zweibeiner verlassen wir uns vor allem auf unsere Augen, um uns in unserer Umwelt zurechtzufinden. Wenn jedoch Gerüche an Erinnerungen haften bleiben, dann sind diese besonders intensiv - und haben oft mit dem zu tun, was wir als Heimat empfinden.
Dr. Walter G. Demmel: "Wohlgeruch mit Störfaktoren"
Riechen ist entwicklungsphysiologisch der Älteste unserer fünf Sinne, Heimat ein häufig gebrauchter (Bayerisches Fernsehen) und missbrauchter Begriff (NS-Ideologie), und „Die Heimat riechen“ für manche eine Herausforderung und vielen eine Selbstverständlichkeit.
Ein Jugendfreund, mit dem ich viele Jahre in einem niederbayerischen Dorf und dann in München erlebt habe, erwiderte mir auf meine diesbezügliche Frage, dass er weder dieses Dorf als seine Heimat bezeichnen, noch es mit einem Geruch in Verbindung bringen könne. Eine Erklärung: Nach dem frühen Tod seiner Eltern hat er jede Erinnerung, also auch den Geruch an diese Zeit, verdrängt.
Eine junge Sportfreundin erklärte mir, dass sie ihre Heimat in Mecklenburg-Vorpommern immer noch mit dem Geruch von Meer, Wind und Elternhaus verbinde. Eine langjährige Berufskollegin antwortete mir auf meine Frage, sie verbinde mit ihrer Heimat den Geruch von Hochöfen: Sie war in Wetzlar zu Hause! Eine andere Freundin unserer Familie riecht noch das Haus ihres Onkels in Schnett (Thüringer Wald). Ein ebenfalls langjähriger Freund konnte mir sagen, dass in der Antike die Fischer und Schwammtaucher des Nachts zu ihren Heimatinseln zurückgefunden haben, weil sie sich nach den von dort kommenden Gerüchen richteten.
Ich selbst als in Passau geborener Niederbayer (Jg. 1936) kann mich nur für das gesamte Bayern als Heimat entscheiden, weil meine langjährigen Aufenthalte an verschiedenen Orten Nieder- und Oberbayerns (in München seit 1957) die heimatlichen Erinnerungen auch olfaktorischer (riechender) Art sich so sehr vermischt haben, dass eventuelle Einzelgerüche sich zu einem „gesamtbayerischen Wohlgeruch“ mit einzelnen Störfaktoren verwoben haben. Ich gehöre also nicht zu den Heimatriechern.
Abschließend ein auch für mich interessantes Ergebnis meiner Recherchen zur Fragestellung „Wie riecht Heimat?“ Der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.), der im Gegensatz zu Platon, die Seele als Vollendung des Körpers sah, stellte zwar als Erster den Zusammenhang von Geruch und Seele her, hatte mit diesem Sinn aber Schwierigkeiten, weil dessen Eigentümlichkeit nicht so offen zutage trat wie beim Hören oder beim Sehen.
Ingrid Appel: "Der Duft der Mutter"
Es sind nicht die großen Dinge, die uns im Gedächtnis bleiben. Oftmals sind es ganz kleine Begebenheiten, die uns lebenslang in Erinnerung bleiben und Heimatgefühle wecken. Fast jeder erinnert sich an die Weihnachtsfeste der Kindheit, an den Duft von frischgebackenen Plätzchen, Anis, Zimt und all die Gewürze, der Geruch der frischgeschnittenen Tanne: Das ist Heimat! Meine Erinnerung an Heimat ist auch der Geruch nach warmen Brot, nach frisch gemahlenem Kaffee, dies waren in der Nachkriegszeit seltene Genüsse.
Einige Jahre meiner Kindheit habe ich in Spanien in einer großen Familie verbracht. Nachdem ich Jahrzehnte später in einer anderen Stadt weilte, umwehte mich plötzlich ein Hauch von etwas Bekanntem, das mich an meine zweite Heimat erinnerte. Zunächst wusste ich gar nicht, was es war. Meine Begleiterin aus Kindheitstagen erinnerte mich an die riesigen Lorbeerfelder, die diesen Geruch verbreiteten. Dies gab uns Gelegenheit, Erinnerungen an unsere gemeinsam verbrachte Zeit auszutauschen.
Heimat ist aber insbesondere auch der Duft der Mutter bei einer Umarmung, wenn sie sich fein machte und mit 4711 besprühte. Immer wenn ich den selten gewordenen Geruch in die Nase bekomme, umgibt mich Wehmut.
Es sind aber auch die Gerüche der Erde, des Grases, des Waldsaumes nach einem Regenschauer, oder eines frühen Morgens bei einer Gebirgswanderung, die den Geruch der Heimat, meiner Heimat ausmachen.
Wenn ich nach einer Reise nach Hause komme, merke ich schon am Geruch im Stockwerk, dass ich daheim bin; dass ich dahin gehöre.
Ulrike Mascher: "Das war das Allerhöchste"
Ich wurde in München geboren und die ersten zehn Jahre hier haben meine Heimatgefühle für diese Stadt geprägt. Eingeschult wurde ich im September 1945 in der Volksschule am Nymphenburger Kanal. Mit Schulranzen und Essgeschirr, denn es gab „Schulspeis“ von den Amerikanern – Haferbrei oder Nudeln. Brot war knapp und nur auf Lebensmittelmarken zu bekommen. Ganz ohne Lebensmittelmarken gab es in der städtischen Wärmestube – heute die schöne Schlosswirtschaft Schwaige – ein rotes, süßes Heißgetränk. Für meine Freundin Elli und mich war das das Allerhöchste im Winter. Den Geschmack habe ich heute noch in Erinnerung.
Zu den schönen Erinnerungen zählt auch der Nymphenburger Schlosspark gleich bei der Schule. Alle Prinzessinnen aus den Märchen wohnten in der Amalienburg, war ich überzeugt. Ein krasser Gegensatz dazu waren die Fahrten mit der Trambahn in die Stadt. Die Trümmerfelder, durch die ich gefahren bin, habe ich immer noch vor Augen. Ich weiß, was ich für ein Glück hatte. Der Vater kam relativ früh aus dem Krieg zurück, die Wohnung war nicht zerstört. Das war ein Luxus, auch wenn wir sie mit einer Untermieterin teilten und nur ein Zimmer geheizt war. Trotz Kälte und wenig zu essen: Die Erinnerung an meine Kindheit und mein Heimatgefühl für München sind vor allem mit einem herrlichen roten, süßen Heißgetränk verknüpft.
Winfried Bürzle: " Einmalig wie ein Fingerabdruck"
Heimat ist, wo ich daheim bin! An jenem Ort, an dem ich mich geborgen fühle wie an keinem anderen. An dem mich das Urvertrauen ergreift, ein Vertrauen, das unerschütterlich ist. Der Ort, an dem mir alles bekannt und nichts fremd ist.
So ist meine erste Heimat wohl zwangsläufig dort, wo ich herkomme. So wie ein Mutterschoß, einmalig, nicht austauschbar. Erfahrungen und Erinnerungen daran bleiben für immer abgespeichert, vor allem in Form von Bildern und Tönen.
Auch ich habe jene Bilder und Töne meiner Kindheit für immer und ewig im Kopf. Aber fast noch stärker als die Bilder und Töne sind die Gerüche von Heimat. So stark, dass die zugehörigen Bilder und Töne auftauchen, sobald ich die Gerüche nur wahrnehme. Gerüche als Produzenten von Kopfkino, eines Heimatfilms.
Ich muss nur die Augen schließen. Rieche ich saftiges, frisch gemähtes Gras, so sehe ich das Ried unterhalb meines Heimatdorfes vor mir. Dort, wo wir Lausbuben gerne Streiche ausgeheckt haben. Dringt der Geruch von Schmierstoffen und Diesel in meine Nase, so habe ich bis heute das stoßweise, schwere Schnaufen des alten Lanz-Bulldogs im Ohr, den ich als Bub bei der Kartoffelernte über das Feld manövrieren durfte. Und die Geruchsmischung aus heißem Fett und leicht geröstetem Kraut liefert mir das Bild der überdimensionalen Pfanne, in der die fleißigen „Köche“ beim Dorffest jedes Jahr so schmackhafte Krautspatzen zubereitet haben.
Noch unverwechselbarer sind die Gerüche der Menschen. Vor allem jener, die man liebt. Der Geruch von Zuhause! Dieser ganz individuelle Duft eines Hauses, einer Familie. Wie ein Stempel prägt er die Menschen, die dort leben, die dort daheim sind.
Mögen Gerüche von Gras, Essen oder Maschinen austauschbar sein. Der Geruch von Zuhause ist es nicht. Er ist einmalig wie ein Fingerabdruck.
Der vertraute Duft von geliebten Menschen, Teil von Heimat. Für viele Menschen in der Fremde ist der geliebte Partner oft sogar die einzige „Heimat“. Und die es dennoch vermag, jene unverzichtbare Geborgenheit zu vermitteln. Geborgenheit, die wir gerne offenbaren mit den wunderbaren Worten: „Ich kann Dich riechen“.
Ein geliebter Mensch als Heimat für einen anderen. Wunderschön erzählt, bestätigt und besungen auch in dem Lied „Wie schön Du bist“ von Sarah Connor: „Du weißt, wo immer wir auch sind, dass ich Dein Zuhause bin“.
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