"Die Hilferufe häufen sich"
VdK warnt: Corona lässt die soziale Kluft wachsen
Auf seiner Jahrespressekonferenz hat der Sozialverband VdK Bayern eine Bilanz des Corona-Krisenjahres 2020 gezogen. Die Sorgen der Menschen nehmen zu. Das zeigt sich an der VdK-Beratungsstatistik. Und bei vielen Mitgliedern geht es um existenzielle Fragen.
„Die wichtigste Lehre aus Corona lautet: Mehr Sozialstaat bringt uns durch die Krise“, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele. Instrumente wie das Kurzarbeitergeld wirken zwar sehr gut, aber schon jetzt zeichne sich ab, wer auf der Verliererseite steht: „Untere Einkommensgruppen müssen überproportional hohe Einbußen hinnehmen. Corona lässt die soziale Kluft wachsen“, so Bentele.
"Sozialversicherung für alle"
Sie forderte steuerliche Umverteilung und eine Kursänderung in der Sozialpolitik: „Die Pandemie erfordert mehr denn je soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Der Sozialstaat und das Sozialversicherungssystem müssen deshalb gestärkt werden. Das werden wir auch im Bundeswahlkampf deutlich einfordern“, so Bentele weiter. Konkret nannte sie den Abbau prekärer Beschäftigung und eine generelle Sozialversicherungspflicht auch für Jobs mit geringem Stundenumfang. Wie wichtig das ist, zeigt die Tatsache, dass unzählige Menschen wegen der Corona- Auswirkungen ihre Minijobs verloren haben und jetzt nicht mehr über die Runden kommen, darunter viele Rentner. Eine zentrale VdK-Forderung ist die Einführung einer „Sozialversicherung für alle“, also für alle Beschäftige, egal ob Angestellte, Selbstständige, Beamte sowie Politiker.
Der Kampf gegen Altersarmut und eine Stärkung der gesetzlichen Rente wird im kommenden Jahr für den Sozialverband VdK eine große Rolle spielen. „Die Grundrente ist ein erster und wichtiger Schritt, aber nur ein kleiner Baustein“, erklärte Bentele. Die gesetzliche Rente dürfe nicht immer weiter ausgehöhlt werden, etwa durch die Förderung riskanter Altersvorsorgeprodukte oder das stete Absenken des Rentenniveaus.
Pflegende Angehörige brauchen Soforthilfen
„Schon vor der Pandemie war die Situation in der häuslichen Pflege äußerst angespannt, jetzt muss man den Katastrophenfall ausrufen“, sagte VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher. Der VdK Bayern hat sich in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Anlaufstelle für Angehörigenpflege entwickelt. „Das liegt vor allem daran, dass es in Bayern fast keine Pflegestützpunkte gibt, die für diese Familien da sein sollten“, kritisierte Mascher.
Seit Frühjahr häufen sich die Hilferufe beim VdK. Teilweise befinden sich pflegende Angehörige seit März in einer nicht ganz freiwilligen Quarantäne. Die Kontakte wurden zwangsläufig heruntergefahren, um die Pflegebedürftigen zu schützen. Zudem gebe es kaum noch Entlastungsangebote. „Vereinsamung und Überforderung nehmen zu. Irgendwann brechen diese Menschen zusammen“, warnte Mascher.
Auch finanziell stehe vielen das Wasser bis zum Hals, zumal Kranken- und Pflegekassen Leistungen oft verweigern. Der VdK Bayern fordert ein Sofortprogramm für pflegende Angehörige: Dazu gehört die Auszahlung eines Corona-Pflegebonus von bis zu 1.500 Euro, gestaffelt nach Pflegegraden. Zudem müssen die Tages- und Nachtpflegeeinrichtungen eine zuverlässige Notbetreuung einrichten, damit Angehörige weiterhin berufstätig sein können. Bei der Ausstattung mit Schutzkleidung und Masken müssen Pflegehaushalte mit Kliniken und Pflegeheimen gleichgestellt werden. Und bei den kommenden Impfungen müssen pflegende Angehörige genauso vorrangig berücksichtigt werden wie andere Pflegekräfte.
Unternehmen beschäftigen zu wenig Schwerbehinderte
VdK-Landesgeschäftsführer Michael Pausder warnte davor, die Corona-Pandemie als Vorwand zu nehmen, erste Erfolge der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt wieder zurückzufahren: „Ich finde es skandalös, dass 7.417 bayerische Unternehmen keinen einzigen Schwerbehinderten beschäftigen. Wir begrüßen es, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil eine langjährige VdK-Forderung aufgreift und die Ausgleichsabgabe für solche Unternehmen deutlich erhöhen will. Das ist das richtige Signal.“
Die Zahl der sozialrechtlichen Beratungen sei gegenüber dem Vorjahr um 8,2 Prozent gestiegen – das wertet Pausder auch als Indiz für die zunehmende soziale Verunsicherung. „Der VdK ist gefragter denn je: Selbst in einem schwierigen Jahr wie diesem setzt sich die positive Mitgliederentwicklung der Vorjahre fort. 53.000 Mitglieder konnten neu aufgenommen werden, so dass der VdK Bayern mit 743.000 Mitgliedern das Jahr 2020 abschließt“, bilanzierte er. Das Einschalten des VdK in sozialrechtliche Auseinandersetzungen lohnt sich: „2020 konnten wir für die VdK-Mitglieder die Rekordsumme von 77,6 Millionen Euro an Nachzahlungen erstreiten“, so Pausder. Auffallende Änderungen in den Beratungen lassen sich unmittelbar auf die Auswirkungen der Pandemie zurückführen. Drohende oder bereits eingetretene Arbeitslosigkeit, hohe psychische Belastung und damit die Frage nach einer Erwerbsminderung, Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) oder Grundsicherung – um diese Themen ging es deutlich häufiger als 2019. Besonders auffallend war der Anstieg der Auseinandersetzungen im Bereich der Pflegeversicherung.
"Der Sozialstaat bringt uns bisher ganz gut durch die Krise"
VdK-Präsidentin Verena Bentele:
"Die wichtigste, für mich aber nicht überraschende Erkenntnis lautet: Der Sozialstaat bringt uns bisher ganz gut durch die Krise. Ich bin mir sicher, dass diese Erkenntnis nicht allen gefällt. Allen voran den marktliberalen Kräften, die am liebsten jeden Einzelnen für sein Überleben alleine verantwortlich machen wollen. Instrumente wie das Kurzarbeitergeld haben sich bewährt. Auch der vereinfachte Zugang zu Grundsicherungsleistungen und Steuererleichterungen für Eltern. Das wird in allen Studien zur finanziellen Auswirkung der Pandemie auf die Bevölkerung herausgehoben.
Trotz aller staatlichen Bemühungen lässt Corona die soziale Kluft wachsen. Deshalb halten wir an unserer Forderung nach steuerlicher Umverteilung fest. Schon eine einmalige Vermögensabgabe für Einkommen oberhalb von einer Million Euro würde den Bundeshaushalt deutlich entlasten."
"Wie es diesen Menschen ergeht, bekommt kaum jemand mit"
VdK-Landesvorsitzende Ulrike Mascher:
"Wir alle kennen die Bilder von hilflosen Seniorinnen und Senioren und wissen von überforderten Pflegekräften, die in Pflegeheimen unter den Corona-Einschränkungen leiden. Was wir so gut wie nie sehen, sind Bilder von Familien, in denen Pflegebedürftige von ihren Angehörigen im häuslichen Umfeld versorgt werden. In Bayern werden aktuell mehr als 283.000 Menschen ambulant gepflegt. Das entspricht rund 70 Prozent aller Pflegebedürftigen in Bayern. Der größere Teil davon wird sogar exklusiv von Angehörigen gepflegt: rund 186.000 Menschen. Sie erhalten ausschließlich Pflegegeld. Wie es diesen Menschen ergeht, bekommt kaum jemand mit."
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