Die Gründerzeit im Spiegel von Mode und Lyrik
Gemeinsamer Kalender von Orag und Stadtmuseum für 2016
Erneut haben die beiden Nachbarn am Jakobsplatz, die Schneidereigenossenschaft Orag und das Münchner Stadtmuseum, einen Jahreskalender gestaltet, der Mode und Lyrik zum Thema hat. Waren es in der Ausgabe für 2015 Verse und Kleidung aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so ist es in der Neuerscheinung für 2016 die Gründerzeit, die im Mittelpunkt von Wort und Bild steht.
Die Gedichte von Theodor Fontane, Hoffmann von Fallersleben, Hermann Löns, Ada Christen und anderen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts hat Heinz Hußmann, der Prokurist der Orag ausgewählt. Für die Zusammenstellung der Modegrafiken und ihre Erläuterungen zeichnet Dr. Esther Sophia Sünderhauf verantwortlich. Sie leitet die zum Stadtmuseum gehörende Von Parish Kostümbibliothek, die eine der größten Fachsammlungen ihrer Art beherbergt. Die Gründerin, Hermine von Parish, trug ihr Leben lang Bücher, Zeitschriften, Grafiken und Bildmaterial zur Bekleidung und Körpergestaltung der Menschen zusammen. 1970 vermachte sie der Stadt München die umfangreiche Sammlung, die heute vor allem von Modedesignern, Studenten und Kostümbildnern genutzt wird.
Opulente Darstellungen
14 Grafiken aus den Jahren zwischen 1850 und 1890 hat Esther Sophia Sünderhauf ausgewählt, zwölf davon zieren die einzelnen Monatsblätter. Das Titelblatt zeigt zwei Damen in Promenadenkleidern beim Einwurf von versiegelten Billets in den Briefkasten. Das Original ist ein handkolorierter Stahlstich, der 1875 in der "Illustrierten Frauenzeitung" erschien. Bei der Vorstellung des Kalenders berichtete Sünderhauf, dass sie selbst fast überrascht davon gewesen sei, wie opulent die Darstellungen jener Zeit seien.
"Der Reichtum der Gründerjahre wurde in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt. Mit der Industrialisierung und dem Bankenwesen erlebte das Bürgertum einen fulminanten Aufstieg. Bei den Aufsteigern galt soziales Prestige alles und wurde zuvorderst durch materiellen Besitz definiert, der öffentlich und verschwenderisch zur Schau gestellt wurde", erklärte die Bibliotheksleiterin. Die Darstellungen zeigten nur einen kleinen Teil des damaligen Lebens, führte sie aus, nämlich eine vermögende Gesellschaft im Müßiggang. "Von der Realität, von der hektischen Betriebsamkeit im Ambiente von Industriewerken, Handelskontoren, Aktiengesellschaften, Banken und Börsen" sei nichts zu spüren. Dennoch gebe es über diese Zeit viel zu erzählen. Die Erfindung der Nähmaschine, die Errichtung von großen Warenhäusern und die beginnende Produktion von Konfektionskleidung falle in diese Jahre.
Harte Arbeit für wenig Geld
Was diese Neuerungen für die Schneider bedeuteten, erläuterte Heinz Hußmann in seiner kleinen Ansprache. Sie verloren einen großen Teil ihrer Kundschaft und seien gezwungen gewesen für den Einzelhandel in Stücklohnarbeit fertige Kleidungsstücke herzustellen. "Die Reden vom 'armen Schneider', vom 'aus dem Schneider sein' oder 'herein wenn's kein Schneider ist' stammen aus der Zeit", sagte Hußmann.
Als gegenläufige Bewegung zur Konfektionsware seien die großen Modehäuser und die großen feinen Herrenschneidereien entstanden, denn in besseren Kreisen trug man selbstverständlich nur Maßgeschneidertes. "Konfektion war plebejisch, völlig unmöglich. Das Handwerk lieferte aber auch eine sehr gute Qualität. Wenn Sie sich die Bilder im Kalender anschauen, die Sachen waren nicht nur so schön gemalt, sie waren wirklich so", betonte Heinz Hußmann und fügte hinzu: "Dabei muss ich persönlich immer an die armen Frauen denken, die die ganze Pracht mit allen Schleifchen, Blüten und Verzierungen für Hungerlöhne nähen mussten."
Geglückter Versuch
"Aus dieser ziemlich schwierigen Lage des Schneiderhandwerks heraus wurde anno 1881 die Orag gegründet", fuhr Hußmann fort. Die "Oberbayerische Rohstoff und Arbeitsgemeinschaft" sei der Versuch gewesen, der Macht des Großkapitals zumindest auf der Einkaufseite etwas entgegenzusetzen. Ein einigermaßen geglückter Versuch und gleichzeitig die letzte Genossenschaft ihrer Art, musste der Prokurist der Orag zugeben. "Damals im Deutschen Reich hatte fast jede Großstadt ihre Schneidergenossenschaft. Wir sind heute die einzige in der Bundesrepublik."
Mit dem Kalender kann man in eine Zeit eintauchen, die umwälzende Veränderungen mit sich gebracht hat und gleichzeitig in vielen Dingen – auch der Mode – rückwärtsgewandt war. Die wirklich sehenswerten Grafiken zeigen die privilegierte Gesellschaft, die versucht, den Glanz vergangener Zeiten zu konservieren. Erhältlich ist "Mode und Lyrik der Gründerzeit" im Orag-Ladenschäft am St.-Jakobs-Platz gegen eine Schutzgebühr von zehn Euro. Um unseren Lesern den Weg in die Stadt zu ersparen, halten die Münchner Wochenanzeiger einige Exemplare im Werbe-Spiegel-Buchshop in der Fürstenrieder Straße 9 bereit.
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH