"Viele haben mit 50 noch nie einen Toten gesehen"
Prof. Claudia Bausewein über verloren gegangenes Wissen, wachsenden sozialen Druck, die Bedeutung des Zuhörens und einen Riesenschritt in die richtige Richtung
Im Mai hat das LMU-Klinikum sein Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin (IZP) zu einer eigenständigen Klinik für Palliativmedizin aufgewertet. Derzeit arbeiten elf Ärzte in der Klinik, die über zehn Betten, einen palliativmedizinischen Beratungsdienst und ein ambulantes Team verfügt. Johannes Beetz sprach mit Prof. Claudia Bausewein, die Direktorin der neuen Klinik.
Jeder hat den Begriff schon einmal gehört: Aber was ist Palliativmedizin?
Prof. Claudia Bausewein: Palliativmedizin will die Lebensqualität von Menschen verbessern, die eine chronische Erkrankung haben, die vorzeitig zum Tod führt. In den letzten Jahren hat sie begonnen, sich nicht nur um Menschen am Lebensende zu kümmern, sondern auch schon ein oder zwei Jahre vor dem Tod des Patienten. Das sind neuere Entwicklungen, denn ursprünglich wurde die Palliativmedizin stark mit dem Lebensende verbunden. Unser Ziel ist die Verbesserung der Lebensqualität durch Symptomkontrolle, durch psychosoziale und spirituelle Betreuung – übrigens nicht nur von Patienten, sondern auch von deren Angehörigen.
"Sterbende haben keine Lobby"
Mit dem Lebensende setzen sich die meisten Menschen aber kaum auseinander. Dabei betrifft Altern, Krankwerden und Sterben jeden: Fast jeder von uns wird zum Beispiel von Demenz betroffen sein - entweder weil er selbst daran erkranken oder weil er demente Angehörige haben wird.
Prof. Claudia Bausewein: Ich weiß nicht, ob es tatsächlich zur menschlichen Natur passt, sich ständig mit dem Lebensende zu konfrontieren. Wir würden wahrscheinlich bewusster leben, wenn wir es uns vor Augen führten. Ich weiß nicht, ob jeder, der hier arbeitet, inklusive mir, ständig darüber nachdenkt, dass sein Leben endlich ist. Man muss ein Stück weit barmherzig sein und den Menschen das zugestehen. Wenn man aber überlegt, wie viele Leute im Freundeskreis oder der Familie kranke Menschen erleben, dann ist es trotzdem ein wichtiges Thema – gerade die angesprochene Demenz: Das wird uns in den nächsten Jahren beschäftigen.
Das Wissen über Palliativmedizin ist deutlich besser als vor zehn oder 15 Jahren. Da hat sich viel getan - auch durch die politische Anerkennung der Palliativmedizin und durch die Diskussion z.B. um Sterbehilfe, bei der die Palliativmedizin immer als Gegenargument und Alternative gebracht wird. Die Hospizbewegung ist die größte deutsche Bürgerbewegung mit 80.000 Ehrenamtlichen. Diesen Multiplikatoreffekt darf man nicht unterschätzen.
Ob mehr Wissen jedoch bedeutet, dass sich die Leute auch mehr mit dem Sterben auseinandersetzen, ist eine andere Frage. Da gibt es aus meiner Sicht ein Spannungsfeld: Wir leben in einer Gesellschaft, die Wert darauf legt, dass man erfolgreich ist, möglichst viel Geld verdient und am besten auch noch jung und attraktiv ist. Alle Themen, die meinen Bereich betreffen – krank sein, leiden müssen, pflegebedürftig werden, Schmerzen haben - sind natürlich nicht besonders attraktiv. Sterbende haben keine Lobby; auch deswegen brauchen sie uns.
"Oft bleibt nicht mehr viel Zeit"
Menschen in meinem Alter haben in der Regel den Tod der Großeltern erlebt und spüren den Tod der eigenen Eltern näher und näher kommen. Trotzdem ist es in den meisten Familien schwierig, über den Tod zu sprechen.
Prof. Claudia Bausewein: Das ist aus meiner Sicht Ausdruck der gesellschaftlichen Veränderung. Vor 50 Jahren hat jeder noch erlebt, wie die Großeltern zuhause gestorben sind und wie das im familiären Umkreis gehandhabt wurde. Heute gibt es viele Menschen, die mit 40 oder 50 Jahren noch nie jemanden sterben und noch nie eine Toten gesehen haben. Da ist ein gesamtgesellschaftliches Wissen verloren gegangen.
Ihr "Vorgänger" Gian Domenico Borasio (der das IZP mitgegründet hat) rät eindringlich, über das Sterben zu reden - unter anderem, weil viele in der Sterbephase auftretende Symptome wie Atemnot oder fehlende Flüssigkeitszufuhr oft völlig falsch bewertet werden und unnötigerweise Angst vor einem qualvollen Ende machen.
Prof. Claudia Bausewein: Das ist vollkommen richtig. Wir erleben mit Patienten und ihren Angehörigen, dass Information ganz wichtig ist, um Ängste abzubauen und realistische Einschätzungen vermitteln zu können. Nachdem das in der Gesellschaft verloren gegangen ist, sind wir gefordert, den Menschen diese Informationen zu geben.
Wenn die Patienten zu uns kommen und viele Dinge nicht geklärt sind, dann ist die Zeit oft sehr begrenzt und es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, zu klären, was die Menschen gerne geklärt haben wollen. Die Patientenverfügung ist ein bisschen ein Katalysator, denn sie sollte ja immer im Kontext einer Werteanamnese entstehen.
"Noch weiter unten ansetzen"
Die müsste eigentlich auf einer anderen Ebene als einer Fachklinik passieren: etwa bei den Hausärzten. 90 Prozent aller sterbenden Patienten werden ja von ihren Hausärzten, nicht von Palliativmedizinern behandelt.
Prof. Claudia Bausewein: Man müsste noch weiter unten ansetzen: Es gibt schöne Projekte wie "Hospiz macht Schule“. Hospizarbeiter gehen in Schulen, um Kindern die Thematik nahezubringen. Man muss diesen gesellschaftlichen Ansatz sehen, denn auch die Patientenverfügungen werden es nicht herausreißen.
Die Frage ist: Wie gehen wir als Gesellschaft mit der Thematik um? Wo sehen wir Lösungsmöglichkeiten? Angesichts des Nicht-Auseinandersetzens, des Nicht-Wissens, was es für Möglichkeiten gibt, und auf der anderen Seite angesichts der Stimmen, die eine aktive Beendigung von Leben wünschen, ist ganz viel Aufklärungsarbeit nötig.
"Meine Sorge ist, dass der Druck wächst"
Sie sprechen von Sterbehilfe. Wie ist Ihre Position dazu?
Prof. Claudia Bausewein: Nicht nur als Ärztin, auch persönlich habe ich da eine klare Position. Ich denke, wir sollten den Menschen erst einmal eine adäquate Betreuung anbieten. Palliativversorgung muss allen zugänglich sein. Meine Erfahrung ist, dass dann die meisten Fragen nach Sterbehilfe, die durchaus kommen, verschwinden. Der Wunsch nach Beendigung des Lebens ist für mich ein Hilfeschrei: "So kann und möchte ich nicht leben!" Die Antwort darauf kann aber nicht sein, dass ich dieses Leben beende, sondern ich muss eine adäquate Betreuung finden. Es wird eine kleine Gruppe von Menschen bleiben, wo Sie auch mit bester Betreuung und guter Symptomkontrolle diesen Wunsch hören, weil die Menschen letztlich so sehr am Leiden leiden, am Verlust der Unabhängigkeit oder an dieser Begrenzung der Existenz. Das muss man anerkennen. Ich glaube nicht, dass die Palliativmedizin die grundsätzliche Antwort auf alles ist.
Die Frage ist nur, ob diese kleine Gruppe von Patienten es tatsächlich rechtfertigt, eine Gesetzesänderung zu machen und Sterbehilfe zu erlauben. Wenn wir uns die gesellschaftliche Entwicklung anschauen, ist meine Sorge, dass wir in zehn bis 20 Jahren viel mehr sozialen Druck haben. In der Schweiz ist gerade der erste Patient mit Demenz für den Suizid akzeptiert worden. Es stellt sich für ganze Patientengruppen die Frage, wer denn für diese Menschen die Entscheidung trifft. Fällt die Entscheidung wirklich autonom? Viele - nicht alle - Menschen, die in so eine Situation kommen, haben eine unbehandelte Depression. Und wieder: Da kann unsere Antwort nicht sein, zu machen, was der Patient möchte, sondern ich brauche eine adäquate Betreuung und Therapie.
Dem Wunsch, zu sterben, liegt demnach meistens das Unwissen über Behandlungsmöglichkeiten zugrunde?
Prof. Claudia Bausewein: So ist es. Ein halbes Jahr starke Schmerzen zu haben, würde wohl jeden von uns in eine solche Situation treiben können.
"Für fast alles haben wir Möglichkeiten"
Sie setzen die Symptomkontrolle dagegen. Welche Möglichkeiten bietet sie?
Prof. Claudia Bausewein: Palliativmedizin wird oft mit Schmerztherapie gleichgesetzt. Aber: Schmerz ist nur ein Symptom von vielen. Wir wissen, dass Patienten zehn bis zwölf Symptome zur gleichen Zeit haben: z.B. Übelkeit, Erbrechen, Schlaflosigkeit, Atemnot, Depression, Verstopfung, Durchfall, Unruhezustände. Die Liste ist lang. Für eigentlich alles haben wir Möglichkeiten, unser Hauptwerkzeug ist die medikamentöse Therapie. Darüber hinaus haben wir weitere Therapiemöglichkeiten, die eher von therapeutischer Seite kommen: Atemtherapie, Psychotherapie, Psychologen für Gespräche. Unsere Seelsorger sind ganz wichtig, selbst für die Schmerztherapie: Wenn Sie die psychosozialen oder existentiellen Nöte von Menschen nicht ausreichend erkennen, dann können Sie pharmakologisch noch so gut sein, Sie werden erleben, dass Ihr Patient nicht schmerzfrei wird, weil er vielleicht einen psychischen Schmerz hat, der seinen körperlichen deutlich verstärkt. Wir brauchen auch unsere Therapeuten und Sozialarbeiter, die sich um die Familien kümmern, um eine wirklich ganzheitliche Betreuung anbieten zu können.
"Die Palliativstation ist keine Einbahnstraße"
Aber wird die psychosoziale Betreuung von vielen Medizinern nicht noch etwas skeptisch beäugt?
Prof. Claudia Bausewein: Viele Mediziner meinen, ein gutes Gespräch wäre, wenn sie viel reden. Das ist gerade nicht der Fall. Wenn man sich Zeit nimmt, sich mal hinsetzt, zuhört und zu verstehen versucht, wie der Patient seine nächsten Tage, Wochen, Monate sieht, kann man ein sehr gutes Verständnis für ihn bekommen. Dann kann man sehen, welche Sorgen und Ängste es gibt, welche Fragen noch geklärt werden sollten, wo zum Beispiel der bevorzugte Ort der Betreuung ist. Im Idealfall können wir auch über den gewünschten Sterbeort reden. Es gibt Patienten, die gehen explizit zum Sterben nach Hause, selbst wenn es nur noch für zwei oder drei Tage ist. Dort haben sie einfach ihre vertraute Umgebung, auch wenn es bei uns schon wesentlich weniger technisch und krankenhausmäßig zugeht.
Die Palliativstation ist keine Einbahnstraße. Wir versuchen, dass etwa 40 bis 45 % der Patienten wieder entlassen werden – ins Hospiz oder nach Hause. Im Idealfall sehen wir Patienten drei oder vier Mal, ehe sie sterben. Mir ist es am liebsten, jemanden vielleicht schon ein halbes Jahr vor seinem Tod kennenzulernen. Der kommt zur Symptomkontrolle, geht heim, es läuft gut, dann kommt er wieder und kann vielleicht ein weiteres Mal heimgehen. Dann kann man überlegen: Wo ist der Ort, wo er am Schluss sein möchte? Es ist aber leider immer noch ein Problem, dass wir viele Patienten erst spät sehen.
"Kollegen kommen an ihre Grenzen"
Hilft die Klinikgründung, dass die Palliativmedizin besser wahrgenommen wird - von Patienten und von Ärzten?
Prof. Claudia Bausewein: Das Klinikum hat sich hier deutlich positioniert und einen Riesenschritt gemacht, indem es der Palliativmedizin den Status einer eigenen Klinik gab. Bisher war die Palliativmedizin in Großhadern sehr eng mit den drei Mutterkliniken (Neurologie, Onkologie, Anästhesie) verbunden, die sich unheimlich engagiert haben, um dieses Fach auf den Weg zu bringen. Inzwischen ist die Palliativmedizin als eigenes, gleichwertiges Fach anerkannt - das aber in viele andere Bereiche hineinreicht. Viele unserer Patienten kommen aus der Onkologie, sind also Tumorpatienten, aber wir sehen immer mehr Patienten mit chronischen Lungen- oder Herzerkrankungen. Neurologische Patienten haben wir sowieso seit langer Zeit. Wir gehen fast querschnittsmäßig in andere Fachbereiche hinein und unterstützen die Kollegen dort.
Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit von der dieser Kollegen in anderen Fachbereichen?
Prof. Claudia Bausewein: Wir haben eine Art allgemeine Palliativmedizin; das machen z.B. die Hausärzte vor Ort oder die Lungenfachärzte oder andere Kollegen, die auch schwerkranke Patienten betreuen. Das ist aber keine Konkurrenz. Bei manchen Patienten werden die Kollegen allerdings an ihre Grenzen kommen. Ich sage immer: Eine ganz normale Schmerztherapie muss jeder Arzt können, da braucht es nicht den Spezialisten. Aber es gibt Patienten, wo es wirklich schwierig ist und Sie mit den herkömmlichen Mitteln und Erfahrungen nicht zurechtkommen, z.B. bei komplexen Schmerzen oder anderen Symptomen. Da braucht es jemanden, der das tagaus, tagein macht.
Wir haben eine Patientin auf Station, die leidet unter starker Atemnot aufgrund ihrer Erkrankung und hat ein kleines behindertes Kind und einen Ehemann, der sich mit der Situation sehr schwer tut. Diese Patientin ist sterbend. Das sind Situationen im psychosozialen Bereich, die für eine allgemeine Station oder einen Hausarzt eine sehr große Herausforderung darstellen. Für diese kleine Gruppe mit komplexen Problemen braucht es eine gewisse Expertise; für diese sind speziell wir zuständig. Aber wir unterstützen die Kollegen vor Ort sehr und versuchen, unsere Erfahrungen zu ihnen zu bringen.
"Betreuung in die Breite tragen"
Ist München mit der neuen Klinik ein Modell für gute Palliativmedizin?
Prof. Claudia Bausewein: Wir haben das Glück, auch ein ambulantes Team zu haben, die spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Dieses Team geht zu den Patienten nach Hause. So macht Palliativbetreuung Sinn, wenn Sie nicht nur eine kleine exklusive Einheit haben, sondern sie in die Breite tragen. München hat eine sehr gute Versorgungsstruktur. Das muss man wirklich sagen. Wir haben 50 oder 60 Palliativbetten, allerdings zu wenig Hospizplätze. Wir haben vier ambulante Teams und die Hospizvereine.
Es gibt sicher Optimierungsmöglichkeiten. Wir könnten manche Patienten, die nicht stationär und nicht ständig betreut werden müssen, eher sehen und eine Ambulanz anbieten. Wir kennen das System Schmerzambulanz; im Ausland gibt es bereits dementsprechend palliativmedizinische Symptomambulanzen. Ich hoffe, wir können diesen Baustein in den nächsten ein oder zwei Jahren auch zusätzlich anbieten.
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