"Manchmal hilft auch nur trösten..."
Kostenfrei und anonym: die Nummer gegen Kummer 116111 für Kinder und Jugendliche
Seit dem Jahr 2000 engagiert sich Uli Scheele als ehrenamtliche Beraterin beim kostenfreien Kinder- und Jugendtelefon/ Nummer gegen Kummer. Vor etwa 15 Jahren hat sie die Koordination für den Münchner Bereich und 2019 auch für JbJ München (Jugendliche beraten Jugendliche) übernommen. Fürs Samstagsblatt berichtet sie, wie sich die Sorgen und Nöte der Kinder und Jugendlichen im Laufe der Jahre verändert haben, wie die Corona-Zeit sich auswirkt und wie die Unterstützung und Hilfe aussieht, die man übers Telefon geben kann.
"Ich wollte einfach mehr erfahren"
Sie sind seit über 20 Jahren Beraterin bei der Nummer gegen Kummer. Wie sind Sie dazu gekommen? Was war Ihre Motivation, dieses Ehrenamt zu übernehmen?
Uli Scheele: Eine Freundin war damals ehrenamtliche Beraterin und meinte, es gäbe eine neue Ausbildungsgruppe zum Telefonberater für Kinder-und Jugendliche und ob ich mir das nicht mal anschauen wollte. Ich bin dann zum Infoabend.
Aus 60 Leuten wurden 18 als zukünftige Berater ausgesucht... ich war dabei und unheimlich stolz. Beim Einzelgespräch fragte mich der Ausbilder, warum ich das machen möchte und ich gab damals die gleiche Antwort, die ich heute noch geben würde: Ich bin halt ein unheimlich neugieriger Mensch. Ich wollte einfach mehr über Kinder-und Jugendliche erfahren, wie unterschiedlich sie ticken und wo die Probleme so liegen. Meine Kinder waren damals 14 und 19 Jahre alt und wurden langsam flügge.
"Es klingelt fast ununterbrochen"
Wie viele Beraterinnen und Berater gibt es derzeit, wie werden sie eingeteilt und wie groß ist das Verbreitungsgebiet, in dem die Beratung stattfindet? Kurz gesagt, kann man auch aus Weilheim oder Schongau anrufen?
Uli Scheele: Es gibt 76 Beratungstelefone von dem Verein Nummer gegen Kummer e.V. über ganz Deutschland verteilt und alle erreicht man unter der Nummer 116111. München ist eines von drei in Bayern, wir haben ca. 30 Beraterinnen und Berater im Alter von 20 bis 70 Jahre. Der Anrufer weiß nie, an welchem Standort er rauskommt, d.h. wir hier in München bekommen Kinder aus ganz Deutschland ans Telefon.
Gibt es "Stoßzeiten", in denen die Nummer besonders häufig gewählt wird?
Uli Scheele: Wir sitzen von 14 bis 20 Uhr am Telefon und es klingelt fast ununterbrochen. Falls man nach einem schwierigen Gespräch mal kurz durchschnaufen muss, haben wir früher den Hörer neben das Telefon gelegt, heute drücke ich ein Knöpfchen am PC, aber im Hinterkopf hat man immer, welches Kind mit welchem Problem hat jetzt ein Besetztzeichen.
Wobei die Statistiken zeigen, in 2020 wurde am Montag am meisten angerufen.
"Die Kinder sind jünger geworden"
Haben sich die Probleme, mit denen Sie konfrontiert werden, in den letzten 20 Jahren verändert und wenn ja, in welcher Hinsicht?
Uli Scheele: Früher haben die Kinder vom Festnetz angerufen. Es war ein bisschen spannender, weil ja immer die Eltern was merken konnten, was sie auf keinen Fall sollten. Heute haben fast alle ein eigenes Handy und können telefonieren oder ins Netz, wann sie wollen.
Die Kinder sind jünger geworden, auch wenn heute der Schwerpunkt bei 12 bis 17 Jahre liegt, gibt es viele 9- bis 11-Jährige, die von ihrem Seelenschmerz berichten – das gab es früher nicht.
Früher riefen sie an und haben gefragt, ob man vom Küssen schwanger werden kann oder wie man ein Kondom benutzt, das ist vorbei. Aufklärung findet heute im Internet statt.
Mobbingprobleme hatten sie früher mit einer Person und das konnte man persönlich z.B. auf dem Schulhof klären, heute findet viel Mobbing im Internet statt – Fotos gepostet und intime E-Mails über Verteiler geschickt. Die große Frage ist: Wem kann ich noch was anvertrauen, ohne dass es hinterher die ganze Schule weiß? Und da wird wieder klar, wie wichtig es ist, dass wir anonym sind.
Heute haben wir auch immer wieder Kinder und Jugendliche, die die Verantwortung in der Familie übernehmen müssen, weil die Eltern es nicht schaffen.
"Wir versuchen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben"
Wie lange dauert ein durchschnittliches Kummergespräch und wie gehen Sie dabei vor?
Uli Scheele: Gespräche können fünf Minuten dauern oder bis zu einer Stunde oder länger. Das kommt immer aufs Thema an. Wir versuchen Hilfe zur Selbsthife zu geben, d.h. dass durch geschickte Fragestellungen, die Kinder-und Jugendlichen von selbst auf die Antwort kommen, was erstaunlich gut funktioniert und immer wieder die Anrufer erstaunt.
Und wenn das Leid so groß ist, dass es sich nicht in Worte fassen lässt (oder nicht in Worte gefasst werden kann), dann schweigen wir zusammen, erzählen eine Geschichte oder lesen etwas vor... Da zählt nur: Hauptsache es ist jemand da und der Anrufer oder die Anruferin fühlt sich für einen Moment nicht allein. Oft ist das dann ein Anfang von einer Reihe von Anrufen und jedesmal traut sich der oder die Anrufende etwas mehr aus seinem Schneckenhaus.
Manchmal hilft auch nur trösten oder gemeinsam einen Blick in die Zukunft zu werfen mit der Frage: Was machst du, wo bist du in 10 Jahren? Wohin geht die Reise? Wir schließen die Augen und schauen mal, wo wir landen.
Oder nach einem Weinkrampf machen wir zusammen Atemübungen oder bei Wut sagen wir zum Beispiel: "Willst du sie rauslassen? Ich muss nur schnell den Hörer weglegen, damit mein Trommelfell nicht platzt."
Oft meinen die Kinder und Jugendlichen aber auch, es geht nur ihnen so, dann reicht oft ein "nein, das geht ganz vielen so".
"Auch Gewalt in Wort und Tat ist oft mit dabei"
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Telefonberatung aus und welche Sorgen stehen bei Gesprächen zu diesem Thema im Mittelpunkt?
Uli Scheele: Seit letztem Jahr haben ganz klar zugenommen, die Probleme in der Familie, die häusliche Enge und die trotzdem dadurch entstehende Einsamkeit. Auch Gewalt in Wort und Tat ist oft mit dabei.
Wenn wir die Kinder gefragt haben, was vermisst ihr am meisten, dann war die Antwort meistens: "Meine Freunde".
Viele Eltern sind genervt und den Kindern fehlt es an Zuneigung, ich hatte neulich ein 9-jähriges Mädchen am Telefon, das meinte, meine Mutter ist immer so gestresst und umarmt mich jetzt immer so "unlieberhaft", dabei will ich doch nur, dass sie mich lieb hat. Es fehlt an Zuwendung von der besten Freundin oder dem besten Freund und von den anderen Menschen, z.B. der Oma, dem Opa, dem Lehrer oder der Lehrerin, die einfach nur mal die Hand auf den Arm legen oder über den Kopf streicheln.
Was ist, wenn das Problem oder die Sorgen so groß sind, dass ein Gespräch nicht reicht und man eigentlich aktiv etwas tun müsste, um Schlimmeres zu verhindern?
Uli Scheele: Wir sind die erste Kontaktstelle und vermitteln Hilfe im psychosozialen Netz in ganz Deutschland. Allerdings entscheiden immer die Kinder-und Jugendlichen, wie weit sie sich outen wollen. Sie fühlen sich ja mitschuldig, und wir versuchen ihnen klar zu machen, dass das auf gar keinen Fall so ist. Wir geben ihnen Telefonnummern oder Adressen von der für sie/ihn passenden Institution und hoffen, dass sie irgendwann den Mut haben, sich dort zu melden. Aber wir haben auch Anrufer, die wir monate- oder jahrelang begleiten, bis sie ihre Anonymität aufgeben. Manchmal rufen sie Jahre später an und sagen, "danke, ohne euch hätte ich diese Zeit nicht überstanden".
"Im Gepsräch bleiben"
Obwohl es manchmal befreiend ist, mit jemanden zu sprechen, den man nicht kennt, könnten natürlich auch die Eltern den Kindern so manche Ängste nehmen. Was raten Sie den Eltern diesbezüglich?
Uli Scheele: Ich glaube, das Wichtigste ist zuhören, Nähe und im Gespräch bleiben, das eigene Kind mit seinen Sorgen ernst nehmen, auch wenn man die Ängste nicht nachvollziehen kann oder die Sorgen so schrecklich klein erscheinen... sind sie nicht.
Es sollte versucht werden, keine Ratschläge zu geben, außer man hat mindestens ein paar zur Auswahl, dann kann das Kind oder der Jugendliche selbst entscheiden – und das ist entscheidend.
Es wäre schön, wenn Eltern uns als Entlastung sehen würden und ihren Kindern unsere Nummer geben würden.
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