"Wir ziehen teilweise fatale Schlüsse"
Wie wahr ist das, was wir aus der Flut an Informationen herauslesen?
Print oder Digital, Buch oder Tablet: Unsere Lesegewohnheiten verändern sich. Ebenso unsere Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit. Lange Gedichte wie die Alten lernen die Jungen heute nicht mehr – dafür können sie Hunderte von fiktiven Pokemonfiguren auseinanderhalten. Was bedeutet das für den Zugriff auf eigenes Wissen? „Was du Schwarz auf Weiß besitzt, kannst du getrost nach Hause tragen“, meinte einst Goethe. Ersetzt heute ein Sammelsurium aus Klick-Wissen eine fundierte Allgemeinbildung?
Die Vielzahl an Informationskanälen beschleunigt den Takt neuer Informationen, was zugleich eine Überprüfung der Quelle und des Wahrheitsgehalts verhindert. Wir werden schneller, aber auch unzuverlässiger informiert – mit allen mitunter vernichtenden Konsequenzen für die Personen, die Gegenstand solcher medialer Schnellschüsse werden. Geht die Glaubwürdigkeit von Medien unter, bricht ein zentraler Stabilitätspfeiler der Gesellschaft zusammen.
Posts in „sozialen“ Medien, Online-Nachrichten, Bestellangebote: Was wir überhaupt erfahren, bestimmen mehr und mehr Algoritmen und damit Firmen, die wir gar nicht kennen. Nachprüfbares Wissen ist unverzichtbar für politische und gesellschaftliche Teilhabe. Geben die Jungen dieses Fundament gerade preis?
"Fakten spielen keine Rolle mehr"
Die alte Generation: Christa Hennings, Kultur in Hadern e.V., 78 J.:
Im US-Wahlkampf 2016 behauptete Rudy Giuliani, vor Obama hätte es keine nennenswerten Terroranschläge auf amerikanischem Boden gegeben. Wie wir alle wissen, war am 11. September, dem größten Terroranschlag in der Weltgeschichte, George W. Bush Präsident der USA und Rudy Giuliani Bürgermeister von New York! Jeder kann diese Lüge mühelos durchschauen, aber für die Leute im Publikum ist es gefühlt wahr, dass seit Obama alles schlimmer geworden ist, auch der Terror. Das postfaktische Zeitalter ist angebrochen. Fakten spielen keine Rolle mehr in politischen Auseinandersetzungen. Immer größere Bevölkerungsgruppen beharren darauf, ihre gefühlte Wahrheit stimme nun mal nicht mit den Fakten überein. Und überhaupt seien die Fakten gar keine Fakten, sondern Machenschaften der "Lügenpresse". Donald Trump wird amerikanischer Präsident, obwohl ihm die Medien von Anfang an nachweisen konnten, dass er unfassbar viele Lügen und Halbwahrheiten verbreitet hat.
Wie sollen Jugendliche, die ihre Informationen nicht mehr aus seriösen Medien, sondern aus den sozialen Medien einseitige und falsche Informationen aufgreifen, Meinungen und Emotionen von Fakten trennen? Demokratie ist der politische Raum, der uns das Recht für dieses Fragen gibt. Aber die Grundwerte der Demokratie, Aufklärung und Rechtsstaat sowie elementarer Respekt und Anstand sind gefährdet. Medienerziehung und politische Bildung sollten deshalb bereits in den Schulen zum Pflichtfach gehören! Und wir Älteren sollten nicht aufhören, mit ihnen darüber zu reden.
"Literatur funktioniert auf dem Smartphone nicht"
Die mittlere Generation: Andreas M. Bräu, Lehrer, Schauspieler, Autor, 30 J.:
Rein quantitativ sehe ich, wie das Lesen zugenommen hat. Aufgrund der Verfügbarkeit durch Smartphones informieren wir uns durchwegs im öffentlichen Nahverkehr, gehend, wartend und zu oft selbst im Restaurant. Google prüft, die Onlinezeitung bietet Schlagzeilen, Wikipedia gibt Hintergrundwissen. Auch bei Jugendlichen verfolge ich diese positive Entwicklung hin zum Eigenstudium, zum ständigen Fortbilden, teils jedoch mit unsicheren Quellen und nicht vertrauenswürdigen Autoren.
Angst jedoch macht mir die Überlektüre in dem Sinne, dass wir das ästhetische Lesen nicht vergessen dürfen, dass Literatur auf dem Smartphone nicht funktioniert, sondern das Buch als sinnliches Lesen ob der Spannung, der Freude der Lust nicht verloren geht. Erfundenes, Phantastisches, Literarisches und Erdachtes muss seinen Platz behalten. Wir sollten dazu den Bildschirm wieder öfters ruhen lassen, weniger selbst kommunizieren und Nichtigkeiten des vergrößerten digitalen Freundeskreises zwischen Twitter-Schnipseln, Snapchat-Geplänkel und Facebook-Bespiegelung ruhen lassen, um die Meister zu Wort kommen zu lassen und großen Dialogen eines Goethe, einer Highsmith, eines Irvings zu folgen, Seiten umzublättern und entschleunigt in einen Schmöker zu versinken, der nichts anderes will als zu unterhalten. Denn das macht qualitatives Lesen aus und ermöglicht uns Autoren auch weiterhin, einem Publikum unsere Geschichten zu erzählen und sie nicht mit Postings zu umwerben, sondern durch unsere Figuren und Worte zu sprechen.
"Wieder etwas langsamer werden"
Die junge Generation: Jasmin Seidl, Texterin, 26 J.:
In unserer heutigen Gesellschaft werden wir über das Fernsehen, Internet und Social Media sehr schnell mit unglaublich vielen Informationen konfrontiert und ziehen dadurch oftmals voreilige und teilweise fatale Schlüsse, da wir nicht die Möglichkeit oder die Zeit haben, alles zu prüfen. Deshalb lasse ich nur dann Nachrichten aus der Welt und aus meinem Umfeld an mich heran, wenn ich das möchte und die nötige Zeit habe, mich damit auseinanderzusetzen. Daher bevorzuge ich auch Gespräche von Angesicht zu Angesicht, denn so kommt die Information direkt von der Quelle und ich kann viel besser auf meinen Gesprächspartner eingehen und versuchen ihn zu verstehen.
Als Mitglied der digitalen Generation bin ich natürlich mit Fernsehen, Handy und Facebook groß geworden und konnte nicht nur sehen, sondern selbst miterleben, wie rasant sich die Technik weiterentwickelt. Doch obwohl ich damit aufgewachsen bin, versuche ich nicht immer, auf dem neuesten Stand zu sein, sondern bleibe auch mal einen Schritt zurück. Meistens stelle ich fest, dass ich dann mehr von meiner Zeit habe. So lese ich immer noch viel lieber in Büchern als eBooks. Das nimmt oft das Tempo ein wenig raus und ich bin sehr viel entspannter. Vielleicht sollten wir überhaupt wieder etwas langsamer werden, denn je rasanter wir leben, desto schneller erreichen wir die Endstation und unser Leben würden wir nur in verschwommenen Bildern an uns vorbeirauschen sehen ohne selbst daran teilzuhaben.
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