"Von meiner Familie kann ich das unmöglich verlangen"
Wie sorgen wir füreinander?
Das Kümmern und das Sorgen für einen anderen Menschen sind auch in der heutigen Zeit wichtig, obwohl sich beim Thema Fürsorge sicherlich auch einiges geändert hat. In der „guten alten Zeit“ waren die Familien füreinander da; in der Großfamilie war man geborgen oder zumindest versorgt. Heute sind die Familien kleiner, Angehörige sind oft über Hunderte von Kilometern verstreut. Sich umeinander zu kümmern, zum Beispiel im Pflegefall oder bei der Kindererziehung, ist nicht mehr so leicht zu organisieren. Heutzutage sollen Kinder optimal gefördert werden. Es geht nicht mehr nur darum, auf die Kleinen aufzupassen. Auf der anderen Seite werden die Menschen immer älter, was dazu führt, dass sich auch viel länger Pflege benötigen. Dies ist ein Grund, warum sich die Ansprüche an die Altenpflege so extrem verändert haben. Demenz ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern stellt viele Familien auch auf eine Belastungsprobe.
„So lange wie möglich zuhause bleiben“
Die alte Generation: Henning Clewing, Rentner, 86 J.:
Die meisten Menschen wollen, glaube ich, so lange wie möglich zuhause bleiben. Ich will das auch. Ich bin 86 und meine liebe Frau ist vor fast drei Jahren nach langer Krankheit gestorben. Derzeit bin ich noch gut in der Lage, für mich selbst zu wirtschaften. Körperliche Pflege brauche ich noch nicht. Eine Putzhilfe habe ich. Ich begrüße es, dass es immer mehr professionelle Angebote zur ambulanten häuslichen Pflege gibt. Ich werde sie gern in Anspruch nehmen, falls ich sie brauche. Von meiner Familie kann ich das unmöglich erwarten oder gar verlangen. Nur einer meiner drei Söhne lebt mit seiner Familie in München. Seine Frau und er sind beide voll berufstätig und müssen es sein.
Man darf sich nicht gegen die Erkenntnis wehren, dass man eines Tages ohne fremde Hilfe nicht mehr durchs Leben kommt. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Hilfe im benötigten Umfang und in der erwünschten Art und Weise nicht von den Kranken- und Pflegekassen voll bezahlt wird. Eigene Ersparnisse sind nötig. Man kann nicht zu früh damit anfangen, sie auf die hohe Kante zu legen. Dabei ist entscheidend nur, dass auf der hohen Kante etwas liegt. Wie es sich vorher verzinst hat, ist egal. Das heutige Gerede darüber, dass sich das Sparen wegen der niedrigen Zinsen nicht mehr lohne, geht mir gewaltig auf die Nerven. Meine Familie und ich haben immer verhältnismäßig bescheiden, aber gut gelebt. Einen Urlaub auf den Malediven haben wir nicht zu unseren Grundrechten gezählt.
"Kleine Dinge mit oft großer Wirkung"
Die mittlere Generation: Leonhard Agerer, selbstständig, 33 J.:
Gerade um Weihnachten treffen viele Familienmitglieder wieder zusammen, die aus unterschiedlichsten Gründen – sei es örtlich oder zeitlich, vielleicht aber auch aus persönlichen Missstimmigkeiten – nicht den intensivsten Kontakt übers Jahr hatten. Familie ist für die meisten von uns jedoch auch weiterhin einer der großen Anker im Leben. Fürsorge, also ‚füreinander zu sorgen‘, sollte nie eine rein staatliche Aufgabe werden. Neben dem rein zeitlichen Einsatz spielt die menschliche Bindung, also die soziale und emotionale VERbindung unter uns, eine entscheidende Rolle. Die Verbindung zwischen dem Enkel und seinen Großeltern, zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen guten Freunden, ist durch Pflege- oder Betreuungseinrichtungen niemals zu ersetzen.
Wenn wir die staatlichen Angebote für Betreuung und Pflege nicht als Rundum-Sorglos-Pakete sehen – sondern als Ergänzung und Unterstützung, dann bleibt viel Raum für unsere eigene ‚soziale Fürsorge‘. Ein Anruf, ein Besuch, ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte unserer Nächsten – das sind kleine Dinge mit oft großer Wirkung. Vieles lässt sich kaufen und organisieren; Freundschaft und Familie sind kostenlos – aber trotzdem unbezahlbar. Vielleicht haben wir ja genau zwischen den Jahren ein wenig Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Die Oma freut sich sicher über häufigeren Besuch, der Enkel über den Gang in den Tierpark und die Schulfreundin auf einen Cocktail, bei dem sie ihre Probleme in Arbeit oder Beziehung loswerden kann. ‚Fürsorge‘ ist mehr als die reine Betreuung.
"'Familie' muss mit der Zeit gehen"
Die junge Generation: Nico Singer, Bankkaufmann, 19 J.:
"Fürsorge" hat sich zwar mit der Zeit in seiner Umsetzung verändert, jedoch blieb die Kerndefinition immer gleich: "das Bemühen um Personen oder Sachen, die Hilfe benötigen." Wir haben mittlerweile schlichtweg andere Möglichkeiten der Fürsorgeausübung. Nachdem wir heutzutage Getriebene von Karriere, Fortschritt und dem Streben nach Glück in allen Lebensbereichen sind, liefern wir uns täglichem Stress aus und versuchen so schnell wie möglich, alles zu erreichen. Genau dieses gesellschaftliche Verhalten spiegelt sich in der Fürsorge wieder.
Die Abfolgeordnung von einst etablierten Phasen und Ereignissen gelten immer weniger. Um ein Kind großzuziehen, braucht es mittlerweile weder Ehe noch das klassische Familienbild vom verdienenden Mann und der im Haushalt arbeitenden Frau. Wir haben heute eine Fülle von alternativen Familienformen und darauf sollten wir auch stolz sein! Denn "Familie" muss mit der Zeit gehen, um weiter existieren zu können. Familie lebt von Fürsorge und Fürsorge lebt von Familie.
Ebenso verhält es sich mit unserer Gesellschaft, da es ohne Fürsorge niemals ein Miteinander geben wird. Ziel ist es, möglichst viele Bereiche der Fürsorge innerhalb der Familie abzudecken. Sollte dies jedoch aus diversen Gründen nicht möglich sein, muss Fürsorge von unserer Gesellschaft übernommen werden. Uns selbst, unserem Gewissen, aber vor allem unserer Zukunft zuliebe, sollten wir ganz im Sinne der Fürsorge öfter auf unsere Familie, unsere Liebsten und Nächsten schauen. Dadurch trägt jeder seinen eigenen Teil für eine solidarische und gesunde Gesellschaft bei. Außerdem sichern wir jedem, der Fürsorge braucht, diese zu und vergewissern gleichzeitig uns selbst, dass auch uns in der Not die Fürsorge anderer zuteil wird.
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