"Sich die Rosinen rauspicken"
Verlieren Religion und Kirche an Bedeutung?
„Das Herz ist Gottes Stimme“, so heißt es in Friedrich Schillers „Wallenstein“. Der Glaube an diese göttliche Stimme, das Vertrauen auf etwas Höheres und die Hinwendung zu Gott scheinen jedoch rückläufig zu sein. Das Bekenntnis gläubig zu sein oder das gemeinsame Gebet sind jedenfalls aus dem Alltag weitestgehend ausgeschlossen. In der Kunst – dem Spiegel der Gesellschaft – lobt und preist kaum noch ein zeitgenössischer Maler, Dichter oder Musiker den lieben Gott. Das war früher anders, wenn man an Michelangelo, Sebastian Bach oder Goethe denkt.
Religion ist Privatsache geworden. Oder entsagen wir Gott sogar gänzlich? Haben wir das Beten verlernt? Die Statistiken jedenfalls belegen eine Abkehr. Seit den 70er Jahren ist in Deutschland ein Mitgliederschwund bei den christlichen Volkskirchen zu verzeichnen: Etwa 210.000 evangelische und knapp 182.000 katholische Deutsche sind 2015 aus der Kirche ausgetreten. Nur knapp 60 Prozent der Deutschen gehören einer christlichen Kirche an. Einstellig ist der Prozentsatz der auf Gläubige der orthodoxen Kirche, des Islam, des Judentums und andere Weltreligionen in Deutschland entfällt. Und alle übrigen? Atheisten? Doch wie der Volksmund sagt: „Auch der Atheist glaubt an etwas – nämlich dass es keinen Gott gibt.“ Konfessionslos bedeutet nicht notwendigerweise frei von Glauben zu sein. Angebot und Nachfrage spiritueller Lehrer, Bücher und Gemeinschaften untermauert dies. Die Suche nach etwas Übergeordneten, das Halt und Sinn gibt, besteht durchaus.
Die christlichen Kirchen spielen jedenfalls für viele immer noch eine tragende Rolle: Als soziale Institution oder geistige und seelische Heimat, wo Traditionen wie Taufe und Heirat Segen finden. Und auch der christliche Glaube wird noch gelebt – und zwar generationenübergreifend.
"Unsere geistige und seelische Heimat"
Die alte Generation: Reinholde Lippl, kaufmännische Angestellte in Rente, 68 J.:
Mein Mann und ich sind beide evangelisch getauft, demnach konfirmiert und auch somit getraut worden und wir haben in unserer Kirche auch dort unsere geistige und seelische Heimat gefunden und diese bewahrt. Und daran ändern wir auch nichts. Für uns haben diese Inhalte ihren festen Bestandteil und somit Platz im Leben gefunden, was auch selbstverständlich im Trauerfall zutrifft. Auch wir bemerken mit großer Sorge und Unbehagen die große Anzahl der Kirchenaustritte. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es gibt aber auch viel zu wenig Platz in den Medien, wo Kirche wieder als Stätte der Begegnung in seinen ursprünglichen Fundamenten und Gedankengut angeboten wird. Dieser Mangel ist eben nur durch die Intensivierung der Präsentation in den Medien wieder aufzuholen, wenn nachhaltig wie bei Werbung immer wieder darauf aufmerksam gemacht wird.
Klar, auch die christlichen Kirchen als Institution haben gravierende Fehler gemacht, die Veröffentlichungen in den letzten Jahren sprechen schwierige Inhalte.
Wir sind zu anderen Kirchen und Religionen tolerant, wenn diese so praktiziert werden, dass sie von sich aus ebenfalls die Toleranz zur christlichen Kirche zeigen.
"Wo tiefer Frieden herrscht"
Die mittlere Generation: Ondine Höhne, Therapeutin für Psychotherapie und Stadtplanerin, 40 J.:
Von Kindheit an wurde ich von den Erwachsenen an Orte mitgenommen, an denen Menschen beten. In katholische, orthodoxe und evangelische Kirchen und auf jeden Friedhof der Stadt. Alle Familienmitglieder hatten so ihre Vorlieben. Nicht alle meine drängenden Fragen zum Leben und zum Sterben waren willkommen, besonders die nicht, die den Tod betrafen. Und so fiel der eine oder andere Friedhofsbesuch im Laufe der Zeit für mich aus. An all diesen Orten wurde auf unterschiedliche Weise gebetet. Wie es jedoch aussieht, wenn jemand in seinem Gebet beantwortet wird, hab ich an meiner Urgroßmutter beobachten können. Jeden Nachmittag zog sie sich für etwa eine halbe Stunde zum Gebet zurück. In dieser Zeit war sie von tiefem Frieden umgeben und das Gesicht dieser stolzen, kräftigen, willensstarken Frau war in Sanftmut und Liebe getaucht. Die ansonsten so rauen Ecken und Kanten, die sie sich im Laufe ihres Lebens wohl zulegen musste, waren in dieser halben Stunde nicht mehr spürbar. Ich durfte diese Gnade erleben, in der sie heil war und wusste, wo der Ort zu finden ist, an dem tiefer Frieden herrscht: Überall, wo gebetet wird, im Inneren des Menschen.
"Die Kirche tut viel Gutes"
Die junge Generation: Marlene Fertig, Studentin, 24 J.:
Religiös zu sein, ist in meinem Umfeld keine besonders positive Eigenschaft. Wenn sich meine Freunde über Religion unterhalten, so sind sie sich meist darüber einig, dass, sich selbst als „gläubig“ zu bezeichnen, auf eine verschrobene Einstellung zum Leben hindeutet. Gläubig zu sein wird automatisch überheblich belächelt. Leichtgläubigkeit wird hier dem Mutigen – denn das muss man sein, um für seinen Glauben überhaupt zu stehen – vorgeworfen.
Es ist ein interessantes, zwiespältiges Verhältnis, das die moderne Gesellschaft zu Religion hat. Auch ich bin eine, die zwar den biblischen Glauben nicht komplett annimmt, sich dann aber doch die Rosinen rauspickt. Die zehn Gebote würde ich sofort unterschreiben und irgendwie denke ich auch, dass es eine übermenschliche Kraft geben muss. Die Erde ist einfach zu perfekt und schön. Als angehende Lehrerin wird auch eines meiner obersten Bildungsziele, neben der Achtung der religiösen Überzeugung, die Ehrfurcht vor Gott sein. Ich schätze die Kirche als soziale Institution. So finde ich es bewundernswert, dass meine Mutter in der Kirche ehrenamtlich mit anderen Gemeindefeste organisiert und damit dem Stadtteil etwas Leben einhaucht. Genauso ist es großartig, dass viele Flüchtlinge als erstes die Hilfe christlicher Sozialwerke empfangen. Die Kirche als Gruppe hilfsbereiter Menschen tut viel Gutes.
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