"Mehr gewonnen als verloren"
Wie wird die Europäische Union heute wahrgenommen?
Mehr als eine halbe Milliarde Menschen leben in den 28 Staaten der EU. Nach den vernichtenden Weltkriegen gelang es den verfeindeten Ländern, sich Schritt für Schritt näher zu kommen. Fast ein Menschenleben lang - 71 Jahre - blieben die heute in der EU verbundenen Staaten vor weiteren Kriegen untereinander verschont. Diese historisch einmalige Leistung erkennt der Friedensnobelpreis an, den die EU 2012 erhielt. Die EU-Bürger genießen einen bislang nicht erlebten Lebensstandard.
Wie wird die Europäische Union bzw. die hinter ihr stehende Idee heute wahrgenommen? Ist sie für die Jungen mehr als ein bürgerfernes Bürokratiemonster oder ein Synonym für "die da oben"? Können die Alten die Bedeutung der EU für Frieden, Sicherheit und Stabilität auf dem Kontinent noch vermitteln? Verspielen sie mit der Betonung nationaler Interessen diese Bedeutung für die nächsten Generationen oder öffnen sie neue Mitgestaltungsmöglichkeiten? Gelingt es den Jungen, die Idee weiterzutragen und die Union zukunftsfähig zu reformieren?
"Insel der Stabilität in einer unruhigen Welt"
Die alte Generation: Edmund Stoiber, ehem. bayerischer Ministerpräsident und Leiter der EU-Arbeitsgruppe zum Bürokratieabbau, 75 J.:
Für die Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg stand die europäische Idee für Frieden, Freiheit und Wohlstand. Heute verbinden viele Menschen die Europäische Union nur noch mit Bürokratie, Bürgerferne und ihrer Hilflosigkeit, die großen Probleme Europas zu lösen. Das ist extrem bedauerlich. Die europäische Einigung ist nach wie vor ein grandioses Friedenskonzept, die EU eine Insel der Stabilität und des Wohlstands in einer unruhigen Welt. Aber dieser Zustand ist keine Selbstverständlichkeit. Das müssen wir „Alten“ mit aller Leidenschaft gerade den jungen Menschen klar machen.
Frieden und Freiheit müssen immer wieder aufs Neue gegen Anfeindungen verteidigt und erneuert werden. Um die Faszination für Europa neu zu wecken, muss sich die EU wieder auf die großen Dinge konzentrieren. Sie muss stark sein in der Migrationspolitik und der Bekämpfung des globalen Terrorismus. Auch als Wirtschaftsgemeinschaft ist die EU weitaus stärker als es ein einzelnes Land jemals sein kann. Und sie muss endlich gegenüber den Ländern die Konsequenzen ziehen, die mehr Schulden machen als erlaubt und damit zu einer Schwächung des Euro beitragen.
Dagegen muss sich die EU dort zurückhalten, wo eine europäische Regelung nicht notwendig oder sogar schädlich ist. Das gilt zum Beispiel für eine europäische Einlagensicherung von Sparguthaben, mit der deutsche Sparer für Schieflagen von Banken in Italien oder Spanien haften müssten. Wir müssen also zurückkehren zu einer konsequenten Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, das bereits 1992 im Vertrag von Maastricht verankert wurde, das im Laufe der Zeit aber immer stärker in Vergessenheit geraten ist.
Europa den Menschen wieder näher zu bringen, ist ein mühsames Geschäft. Aber es lohnt sich: Die europäische Idee ist es wert, dafür zu kämpfen!
"Europa ist unsere Chance"
Die mittlere Generation: Florian von Brunn, Landtagsabgeordneter, 47 J.:
Seit rund 70 Jahren herrscht Frieden in Europa. So lange, wie niemals zuvor in unserer Geschichte. Die Europäische Union ist auch eine Friedensunion. Nie gab es so viel Freiheit und Freizügigkeit auf dem europäischen Kontinent. Wir können frei reisen, arbeiten, und junge Menschen können überall in Europa studieren.
Europa wird viel kritisiert: Brüssel sei weit weg und zu bürokratisch. In mancher Hinsicht stimmt das. Aber Europa regelt auch vieles gut: Die EU hält die Mitgliedstaaten an, Umwelt und Natur zu schützen oder die Wasserqualität zu verbessern. Viele Fortschritte wären ohne Europa nicht denkbar.
Auf der anderen Seite die TTIP-Verhandlungen gezeigt, dass die EU-Kommission intransparent handelt. Sie will mehr Freihandel und mehr Privatisierung, ohne die Nachteile ausreichend zu beachten.
Die EU hat auch keine Mittel, um Regime wie in Ungarn und Polen wieder auf den rechten Weg der Demokratie zu bringen. Oder um mehr Solidarität aller Mitgliedsstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu erreichen.
Trotzdem: Ohne Europa haben wir keine Chance. Weder auf dem Weltmarkt noch bei der Lösung von globalen Krisen wie der Klimaerwärmung. Wir müssen Europa gemeinsam weiterentwickeln. Europa darf nicht von der Wirtschaft regiert werden. Die politische und soziale Union muss weiter ausgebaut werden. Europa muss demokratischer und transparenter werden. Mit einem starken europäischen Parlament. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft.
"Man ist zuhause"
Die junge Generation: Amelie Sittenauer, Studentin, 20 J.:
Es ist ein Privileg, auf diesem reichen Kontinent von solch vielfältiger Kultur und Sprache aufgewachsen zu sein, grenzenlos umherziehen zu können- und das ganz ohne Währungswechsel. Nächstes Jahr möchte ich ein Erasmussemester machen, man ist weg und trotzdem zuhause, in Europa eben. Denn ich glaube, durch Offenheit und Austausch wird mehr gewonnen als verloren. Muss das europäische Ideal der Realität zwar manchmal weichen, bin ich dennoch der festen Überzeugung, dass uns mehr verbindet als nur die anfänglichen wirtschaftlichen Interessen. Oft wird man erst im außereuropäischen Ausland zum Europäer, schätzt die Kultur, die geteilten Werte und die geteilten Ziele.
Leider spiegelt sich dieses Identitätsgefühl in der politischen EU kaum wider. Wenn Politiker in Brüssel zu fremden Akteuren werden und Interessen der Wirtschaft vor Interessen der Bürger stellen oder Populisten Angst und Hass sähen um nationalistische Ziele zu verfolgen, bange ich um den Fortbestand dieser europäischen Gemeinschaft. Was sind unsere Gemeinsamkeiten, nicht unsere Unterschiede? Universelle Werte wie Freiheit, Menschenrechte und Demokratie machen auch an den EU-Außengrenzen nicht halt, und ich hoffe wir gehen in Zukunft verantwortungsvoll und würdig mit ihnen um. Mag man mich idealistisch nennen, welche Jugend war das nicht? Und weil es bei der EU an der Ausführung noch hapert, muss der Gedanke doch nicht schlecht sein.
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