"Den Charakter der Absicherung verloren"
Ist die Institution Ehe in einer modernen Gesellschaft überholt?
Artikel 6 des Grundgesetzes stellt die Ehe und Familie unter den „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Dieser Schutz verlangt, dass Ehe und Familie gegenüber anderen Lebensgemeinschaften privilegiert sind. Allerdings werden die Begriffe im Grundgesetz nicht definiert. Ganz automatisch wird bei der Ehe von einer lebenslangen monogamen Verbindung zwischen Mann und Frau ausgegangen, die eine Vorstufe zur Familie mit Kindern bildet.
Steigende Single-Haushalte, kinderlose Ehen oder gar andere Formen des dauerhaften Zusammenlebens verdeutlichen aber, dass sich die deutsche Gesellschaft verändert hat. Eingetragene Lebenspartnerschaften, die seit 2001 auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren möglich sind, werden verfassungsrechtlich zwar nicht geschützt, die Unterschiede zur Ehe sind jedoch gering geworden. Die Vorrechte für Ehepartner bestehen im Wesentlichen nur noch darin, dass sie das steuerlich günstigere Ehegattensplitting genießen und Kinder adoptieren können.
„Im Jahr 2015 haben 400.000 Paare den Bund der Ehe geschlossen. Das ist eine Steigerung um 14.000 beziehungsweise 3,6 Prozent gegenüber 2014 (386.000)“, heißt es auf der Internetseite des Statistischen Bundesamts. Und auch die verhältnismäßig hohen Scheidungszahlen sind rückläufig: „Im Jahr 2015 wurden in Deutschland 163.335 Ehen geschieden, das waren 1,7 Prozent weniger als im Vorjahr.“ Was zunächst nach einem Aufwärtstrend klingt, kann nur durch Vergleiche mit früher richtig eingeordnet werden. So heirateten beispielsweise im Jahr 1950 deutschlandweit (Ost- und Westdeutschland) rund 750.400 Paare, wohingegen im selben Jahr „nur“ 134.600 Ehen geschieden wurden.
Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob die Ehe für die Stabilität einer Gesellschaft überhaupt wichtig ist. Hält man in Deutschland durch den verfassungsrechtlichen Schutz der Institution Ehe an einer überholten Gesellschaftsstruktur fest? Ist den Jungen die Ehe weniger wichtig als den Alten? Oder entscheiden sie sich bewusster, während die Alten „mussten“?
"Das wäre früher undenkbar gewesen"
Die alte Generation: Werner Wolf, Seniorenvertreter, 67 J.:
Ich bin seit 29 Jahren verheiratet und habe mittlerweile einen erwachsenen Sohn. Das Thema Ehe wird von der jüngeren Generation meines Erachtens nicht mehr so eng gesehen, wie noch zu früheren Zeiten. Heute gibt es sehr viele Alleinerziehende, deren uneheliche Kinder problemlos im Kindergarten, Schule sowie im privaten Umfeld aufwachsen. Das wäre früher undenkbar gewesen, da wurden diese Kinder sowie auch ihre Mütter von der Gesellschaft ausgegrenzt. In einer Ehe oder eheähnlichen Beziehungen ist es außer der großen Liebe wichtig, dass man sich gegenseitig hilft, vertraut, führsorglich miteinander umgeht, den Nachwuchs gemeinsam erzieht und bis zum Einstieg in das Berufsleben beratend begleitet.
Auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden mittlerweile von der Gesellschaft toleriert. Hierzu sollte sich auch die katholische Kirche etwas neuzeitlicher aufstellen. Ebenso sollte sie sich endlich vom Zölibat loslösen und den Geistlichen die Gelegenheit geben, auch eine Familie zu gründen.
"Für alle Liebenden wichtig"
Die mittlere Generation: Heidi Rehn, Journalistin und Schriftstellerin, 50 J.:
Schon mehr als 20 Jahre sind wir verheiratet und noch länger sind mein Mann und ich zusammen. Zu heiraten war für uns beide ein Zeichen, unsere Partnerschaft auf besondere Weise zu besiegeln: wir gehören zusammen, wir gehen unseren Weg gemeinsam, auch wenn er manchmal holprig ist, und wir sind füreinander da, ganz gleich, was kommt. Was kann es Schöneres geben, als sich auf diese Weise zueinander zu bekennen?
Das finde ich für alle Liebenden wichtig, für Mann und Frau ebenso wie für Frau und Frau oder Mann und Mann. Deshalb sollte die Ehe für alle möglich sein, die sie einzugehen wünschen. Das Bekenntnis zueinander sollte allerdings immer aus freien Stücken und aus wirklicher Liebe und nicht aus materiellen oder sonstigen Zwängen heraus erfolgen.
Mit Religion und Kindern hat das für mich nichts zu tun. Religion ist Glaubens- und damit Privatsache, Kinder können, müssen aber nicht in einer Ehe sein. Kinder brauchen liebende Bezugspersonen, die für sie da sind. Nur daraus entsteht in meinen Augen Familie. Die sollte deshalb unabhängig von der Ehe betrachtet und auch geschützt werden. Für mich persönlich ist es ein großes Glück, Kinder mit meinem Mann zusammen zu haben. Das verbindet uns noch einmal ganz anders als unsere Ehe.
"Heiraten scheint wieder modern zu sein"
Die junge Generation: Gerti Erli, Studentin, 28 J.:
Wenn ich mich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis umsehe, kann nicht davon gesprochen werden, dass Hochzeit und Ehe bei jungen Erwachsenen weniger erstrebenswert sind – ganz im Gegenteil. Heiraten scheint vielmehr wieder modern zu sein. Die Hochzeitseinladungen flattern nur so in den Briefkasten und ich nehme mit Freude an den wundervollen, bis ins letzte Detail perfekt organisierten, rauschenden Festen teil.
Die Motive für die Ehe sind dabei weniger rational orientiert oder werden mit der rechtlichen Sonderstellung und den Vorteilen einer Eheschließung begründet. Heiraten hat vielmehr eine romantische Komponente, der gemeinsame Lebensweg, den man mit dem Partner bestreiten möchte, steht im Vordergrund. Dennoch würde ich behaupten, dass die Entscheidungen für eine Heirat sehr bewusst und wohldurchdacht getroffen werden.
Auch auf mich persönlich trifft das zu. Als (noch) Studentin kann ich mir derzeit nicht vorstellen zu heiraten, ich möchte nach dem Studium zunächst meine Karriere verfolgen und auf eigenen Beinen stehen. Ehe bedeutet für mich persönlich somit 'erwachsen sein' und in meiner aktuellen Lebenssituation scheint das noch nicht das Passende zu sein. Das soll jedoch nicht bedeuten, dass ich Heiraten und Job als Gegensätze betrachte. Eigentlich ist es doch eine sehr positive Entwicklung, dass die Entscheidung für oder gegen eine Heirat bewusst getroffen werden kann, die Ehe dadurch ihren Charakter als notwendige familiäre Absicherung (besonders für Frauen) verloren hat und die romantischen Gründe in den Vordergrund rücken.
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