"Bei einem Praktikum lernt man immer"
Ist es schwieriger geworden, den richtigen Beruf zu wählen?
Früher kannte man ein Dutzend Berufe von den Menschen, denen man im Dorf oder Viertel begegnete. Damit hatte man auch eine Vorstellung von den Berufsbildern. Für viele Heranwachsende war es sicherlich auch kaum möglich, von einer vorgezeichneten Laufbahn abzuweichen: In welche Familie man hineingeboren wurde, und ob als Junge oder als Mädchen, damit waren oft schon wichtige Weichen gestellt.
Heute gibt es über 400 Ausbildungsberufe und Zehntausende von Studiengängen. In der unüberschaubaren Masse möglicher Berufe ist es unendlich schwer geworden, den „richtigen“ zu wählen. Die Berufsberatung hilft beim Erforschen, was dem jungen Menschen liegt und was ihn interessiert: Möchte man mit den Händen arbeiten? Mit Kunden zu tun haben? Am Bildschirm arbeiten? In einem Labor? Kann man gut mit Zahlen oder mit Sprache umgehen?
Der berufliche Lebenslauf ist heute üblicherweise auch nicht mehr so geradlinig wie früher: Es ist nicht mehr die Regel, dass man nach der Ausbildung bei einer Firma angestellt wird und dort bis zur Rente bleibt. Auch die Möglichkeiten für Fortbildungen und beruflichen Um- und Aufstieg sind schier unbegrenzt. Lebenslanges Lernen ist längst Realität.
"Du kannst dir Pannen leisten"
Die alte Generation: Bernd Großholz, Aktivsenior, 73 J.:
Früher lief es oft so, dass die Väter sich regelmäßig beim Kegeln oder im Schützenverein getroffen haben und die Kinder gegenseitig in ihrem Handwerksbetrieb in die Lehre genommen haben. Das hatte sicherlich Vorteile. Der Vorteil von heute ist, dass man alles schaffen kann. Allerdings setzt das praktisch hundertprozentigen Einsatz des Betroffenen voraus. Gerade für Spätentwickler gibt es noch alle Möglichkeiten: Wenn man auf der Mittelschule ist, kann man eine Ausbildung machen, und mit einer sehr guten Meisterprüfung hat man sogar die Hochschulreife. Es gibt Fachhochschulen und Berufsoberschulen. Man kann Krankenschwester sein und dann immer noch Medizin studieren. Der wunderbare Vorteil von heute ist: Du kannst dir Pannen leisten.
Bei den Aktivsenioren berate ich Acht- und Neuntklässler bei der Berufswahl. Wenn ich ihnen von manchen Plänen abrate, meinen Kollegen oft, ich würde es ihnen zu hart sagen. Aber ich bin nur fair. Ich möchte ihnen ersparen, dass sie erst nach eineinhalb Jahren bei der Zwischenprüfung merken, dass sie die falsche Wahl getroffen haben.
Ich rate immer: Macht Praktika! Kümmert euch rechtzeitig darum! Nur auf diese Weise kann man feststellen, wie es wirklich ist. Bei einem Praktikum lernt man immer. Zum Beispiel, dass dieser Beruf nicht in Frage kommt.
"Der Zugang ist nicht für alle gleich"
Die mittlere Generation: Ismail Sahin, Leiter des Multikulturellen Jugendzentrums Westend, 58 J.:
Bei der Berufsfindung spielen Faktoren wie Erziehung in der Familie, schulische Bildung und gesellschaftliche Rollenbilder oder Stereotypen eine wesentliche Rolle. Jugendliche entscheiden sich nicht immer für Berufe, die ihnen die besten Chancen bieten würden.
Wir beobachten, das der Zugang zu den Berufen auf dem Arbeitsmarkt nicht für alle Jugendliche gleich ist. Je niedriger das Bildungsniveau, bzw. je festgefahrener die Geschlechterrollenbilder, um so schwieriger ist es, einen passenden Beruf zu lernen.
Um die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, führen wir intensive Berufsberatungen und Sozialkompetenztrainings für Jugendliche durch. Darüber hinaus finden im MKJZ Qualikurse und Hausaufgabenhilfen statt, damit Jugendliche die Übergänge in Schulen schaffen oder einen guten Abschluss erzielen. Hier helfen uns viele ehrenamtliche Bürgerinnen und Bürger, die uns freundlicherweise ihre Zeit spenden und ihr Wissen weiter geben. Es ist sehr erfreulich, dass viele Jugendliche dadurch Übergänge schaffen oder eine Berufsausbildung machen.
Bei unseren Beratungen ist es ganz wichtig, dass Jugendliche ihre berufliche Zukunft nicht mit den Kriterien „männlich“ oder „weiblich“ einschränken. Sie sollten vielmehr schauen, was ihre Fähigkeiten und Kompetenzen sind oder welche Stärken und Schwächen sie haben. Wir empfehlen daher, sich ausreichend Zeit bei der Suche des für sie passenden Berufs zu nehmen.
"Die Anforderungen haben sich verändert"
Die junge Generation: Anna-Maria Niagu, Studentin, 20 J.:
Ich stimme der Aussage zu, dass man angesichts der vielen Berufsmöglichkeiten schlucken muss und dass es früher sicher überschaubarer war und daher die Berufswahl schneller getroffen wurde. Aber eine Sache muss ich hier doch klar sagen: Wer heute von dem nicht zu leugnenden riesigen Angebot erschlagen wird, der lässt sich erschlagen.
Die vielen verschieden Berufsbereiche haben sich im Laufe der Zeit herausgebildet und sind bestehen geblieben, weil sie gebraucht wurden und immer noch werden, sonst gäbe es sie nicht. Deutschland hat sich in etlichen Bereichen weiterentwickelt und so auch die Arbeitswelt. Das halte ich für eine logische und unausweichliche Folge.
Die Anforderungen an die, die in die Berufswelt einsteigen, haben sich demnach ebenfalls verändert. Man muss sich eben dementsprechend informieren und Zeit investieren, um herauszufinden, was einem liegt und was man davon sein Leben lang ausüben möchte. Ausbildungsstellen und Hochschulen bieten Tage der offenen Tür an sowie Probevorlesungen und Schnuppertage. Ich selbst habe dadurch meine damaligen Zukunftspläne verworfen. Auch wenn mich das für kurze Zeit sehr verunsichert hat, habe ich so meine jetzigen Studienfächer (Soziologie und Kommunikationswissenschaft) gefunden und bin vollends zufrieden damit. Selbst wenn nicht, wäre das meiner Meinung nach auch kein Problem des großen Angebots, sondern ein „Phänomen“, das es sicher schon immer geben hat. Nur jetzt ist es leichter und wird eher akzeptiert, sich einen neuen Beruf zu suchen.
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