"Manchmal braucht es einen kleinen Umweg"
Julia Sterzer, Geschäftsführerin AWO München-Stadt
Mit 17 Jahren ....
… wollte ich Modedesignerin werden. Nachdem mich weder Lust noch Leistungen länger als bis zur 10. Klasse auf dem Gymnasium gehalten haben, beschloss ich, meinen Weg mit dem mittleren Schulabschluss in der Tasche mit einer handfesten Berufsausbildung zu beginnen und machte in Ermangelung einer Schneiderinnen-Lehrstelle eine Ausbildung zur Handweberin. Mein Plan war, später noch irgendwie an die Hochschulreife zu kommen, um Textildesign studieren zu können. Heute bin ich froh, dass meine Tochter, mit der ich am Ende meiner Lehre schwanger war, meinen Weg in eine andere Richtung gelenkt hat. Mir schien der hart umkämpfte Mode-Markt nicht für eine junge Mutter geeignet. Zudem machte sich bereits während der Lehre deutlich das Bedürfnis bemerkbar, mich nicht den ganzen Tag alleine mit irgendwelchen Fäden und Stoffen beschäftigen zu wollen, sondern lieber mit Menschen. Ich habe schon immer gerne und viel kommuniziert und diskutiert und die wirklich spannenden Fragen waren – und sind - die danach, wie es den Menschen um mich herum geht.
Also nach einem Baby-Jahr fix in einem Jahr Fachoberschule (ich konnte die Gestaltungs-FOS wegen meiner einschlägigen Ausbildung verkürzen) die Fachhochschulreife mit Bestnoten erworben und los ging es mit dem Studium der Sozialpädagogik. Nachdem Krippenplätze damals tatsächlich noch rarer waren als heute (von einem Rechtsanspruch ganz zu schweigen), war dies nur mit Unterstützung meiner Eltern, insbesondere meiner Mutter, möglich, welcher an dieser Stelle nochmal herzlich gedankt sei.
Die Studienwahl hat sich als genau richtig erwiesen, die Inhalte haben Spaß gemacht und mich auch in meiner persönlichen Entwicklung weitergebracht. Als ich mich 1996 dann als frisch diplomierte Sozialpädagogin ins Arbeitsleben stürzen wollte, musste ich feststellen, dass es kaum Stellen gab. Das ist heute, wo alle händeringend sozialpädagogische Fachkräfte suchen, kaum vorstellbar. Daher war ich sehr froh, als ich dann bei der Münchner AWO eine befristete Teilzeitstelle als Sozialdienst einem Pflegeheim bekam. Dieser folgte eine dann eine weitere unbefristete Sozialdienst-Stelle. Die Arbeit mit den teils schwer pflegebedürftigen Menschen hat mir gut gefallen, insbesondere, weil ich immer das Gefühl hatte, etwas Sinnvolles zu tun und dazu beizutragen, ihre Tage etwas bunter und abwechslungsreicher zu gestalten oder auch einfach die Zeit zu haben, zuzuhören. Ich habe in dieser Arbeit sowohl von den uns anvertrauten Menschen, als auch von ihren Angehörigen viel Herzlichkeit und Dankbarkeit erfahren. Auch den Einblick in die Arbeit der Pflegekräfte möchte ich nicht missen. Sie leisten mit viel Herz und hohem Sachverstand eine wirklich wertvolle Arbeit.
Als ich dann eines Tages einen Anruf aus der AWO-Geschäftsstelle bekam, und mir angetragen wurde, mich für die vakante Stelle der Leitung des Referats für Kindertagesbetreuung zu bewerben, war ich erstmal erstaunt, da dieser Geschäftsbereich abgesehen von meiner persönlichen Erfahrung als Mutter, mir nicht unbedingt vertraut war. Mir war aber auch schnell klar, dass ich ganz offensichtlich nun auch einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und man eine solche Aufstiegschance nicht allzu oft bekommt.
Also habe ich mich beworben, wurde tatsächlich genommen, habe wegen des nun nötigen Vollzeit-Einsatzes die Betreuung meiner Tochter, wieder mit familiärer Hilfe, organisiert und bin sehr schnell zu der Erkenntnis gelangt, dass ich das große Glück hatte, ohne meinen Traum vorher so genau zu kennen, nun in meinem Traumjob gelandet zu sein. In diesem Bewusstsein habe ich in dieser Position fast 20 Jahre lang geschaltet, gewaltet und gewirkt. Um meinen Aufgaben, insbesondere im Hinblick auf meine umfangreiche finanzielle Verantwortung, noch besser gerecht werden zu können, absolvierte ich in den Jahren 2013 – 2016 berufsbegleitend auch noch ein betriebswirtschaftliches Master-Studium (MBA).
Ich konnte den Bereich der Kindertagesbetreuung im Laufe der Jahre deutlich ausbauen und gemeinsam mit der Geschäftsführung und einem Team von Fachreferentinnen konzeptionell weiterentwickeln und vieles gestalten. Die AWO beschäftigt in ihren über 50 Kindertageseinrichtungen inzwischen rund 850 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Maßgeblich zu meiner Arbeitszufriedenheit beigetragen hat immer die Übereinstimmung meines Werteverständnisses mit dem Leitbild der AWO. Ich empfinde es als großes Privileg, eine Arbeitgeberin zu haben, mit deren Grundwerten Solidarität, Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Gerechtigkeit ich mich voll und ganz identifizieren kann.
So fühlte ich mich also schon seit langer Zeit am richtigen Ort. Als im vergangenen Jahr eine unserer beiden Geschäftsführungsstellen vakant wurde, bot sich erneut eine große Chance für mich. Im Oktober entschied unser Vorstand, dass meine Bewerbung den Anforderungen gerecht wird und bestellte mich einstimmig zur Geschäftsführerin. Übrigens die erste Frau in dieser Position in der Geschichte der Münchner AWO.
Es erfüllt mich mit großer Freude, gemeinsam mit meinem Geschäftsführer-Kollegen Hans Kopp, diese verantwortungsvolle Aufgabe ausfüllen zu dürfen. Die AWO ist für die Menschen da, die unsere Angebote und unsere Unterstützung brauchen. Wir machen uns insbesondere für die Menschen stark, die in unserer schönen Stadt am Rande der Gesellschaft stehen und auf Beratung und Hilfe angewiesen sind. Dafür setzen wir uns auch bei der Politik ein.
Ich möchte alle jungen Menschen ermutigen, sich zu trauen, sich ihren Weg zu suchen, auch wenn es nicht unbedingt immer der ganz gerade Weg ist. Manchmal braucht es einen kleinen Umweg, um sich selbst besser kennen zu lernen und seine Stärken zu entdecken. Wichtig ist es, loszugehen und aufmerksam zu bleiben, dann kann man auch spannende Schlupflöcher entdecken oder begegnet Menschen, die einem weiterbringen.
Übrigens: Marie Juchacz, die Frau, welche die AWO vor genau 100 Jahren gegründet hat, war Schneiderin.
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