Niemand muss bei null anfangen
Anselm Bilgri war bis 2004 Benediktinermönch, Cellerar der Abtei St. Bonifaz in München und Andechs sowie Prior des Klosters Andechs. Seit seinem Austritt aus dem Orden ist er ein Gratwanderer zwischen Kirche und Welt. Er berät Unternehmen, ist weiterhin seelsorgerisch tätig sowie als Vortragsredner und Autor. Durch seine besondere Biografie spannt Anselm Bilgri einen Bogen von der Philosophie und Religion zur Wirtschaft und Gesellschaft.
Vom Vater aller Philosophen, dem Athener Steinmetzen Sokrates kursiert folgender Text: "Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer."
"Mit Gelassenheit anders sein lassen"
Auch wenn es nicht sicher ist, ob Sokrates dies wirklich gesagt hat, ein ähnliches Lamento über die "Jugend von heute" gab es schon bei den Sumerern und Assyrern. Es ist offensichtlich, dass von Generation zu Generation Werte weitergegeben werden und sich dabei verändern. Es gehört zur Jugend, es besser, auf jeden Fall anders machen zu wollen als die Eltern. Und doch, wenn die Jugend selbst älter wird und ihre Werte weitergeben will, verfällt sie in das gleiche Lamento. Daher gibt es nur ein Rezept: Die anderen, und seien es die eigenen Kinder oder Eltern, mit Gelassenheit anders sein lassen.
"Der Mensch ist ein soziales Wesen", sagt ein anderer griechischer Philosoph, Aristoteles. Dies gilt nicht nur horizontal, für die gleiche Altersstufe, sondern auch vertikal für die verschiedenen Generationen. Wir sind aufeinander angewiesen und brauchen einander. Wir bauen an dem weiter, was die Altvorderen angefangen haben und geben selbst wieder unser Wissen, unsere Erfahrung, unsere Lebensleistung weiter an die Jungen. Niemand muss bei null anfangen und nach keinem kommt aller Wahrscheinlichkeit nach die Sintflut. Allein schon diese Erkenntnis verpflichtet uns auch zu Solidarität nicht nur mit den "Fernsten" in anderen Regionen der Welt, sondern vor allem mit den "Nächsten" in den Generationen der eigenen Familien, mag es noch so schwierig sein angesichts des Auseinanderfallens der Lebensräume bei uns modernen Menschen.
"Wir sind aufeinander angewiesen"
Ich bewundere immer wieder Angehörige, die von weither anreisen, um Enkelkinder zu hüten oder nach dem altgewordenen Elternteil zu schauen. Dies ist nicht immer selbstverständlich in der großräumig gewordenen Umwelt. Es scheint ein Paradox zu sein angesichts der Entwicklung zur Kleinfamilie: Gerade weil die Menschen immer älter werden und daher die Altersvorsorge zu einem immer wichtigeren und auch problematischen Bereich des gesellschaftlichen Lebens wird, und wegen der Vereinzelung der Menschen brauchen wir einander mehr als je zuvor. Es werden andere Formen des generationenübergreifenden Zusammenlebens sein, freie Zusammenschlüsse statt familienbedingte Zusammengehörigkeit. Es wird spannend, wo die Reise hingeht!
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