Die ersten Leser eines Buches sind "Spürhunde"
Adleraugen statt Zauberhand: Wie Texte zu spannenden Geschichten werden
Natürlich: Ein Manuskript, das sind lose Seiten ohne Buchdeckel und deshalb ist es noch kein Buch. Aber ein Manuskript, das direkt aus der Feder eines Autors kommt, ist auch deshalb kein Buch, weil es noch durch eine Instanz muss, die sich Lektorat nennte. Warum das so ist und was im Lektorat geschieht, das will ich erläutern.
Feilen, hobeln, einstampfen
"Der Unterschied zwischen einem nahezu richtigen Wort und einem treffenden ist groß – es ist der Unterschied zwischen einem Glühwürmchen und einem Blitz." Das hat Mark Twain einmal sehr treffend gesagt, der nicht nur eine Menge toller Bücher geschrieben, sondern sich auch viel zum Thema Bücher-Schreiben geäußert hat. Denn als Autor sitzt man nicht im Wolkenkuckuksheim, in dem auf ihn die Inspirationen wie warmer Sommerregen niedergehen und sich alles wie von Zauberhand aufs Papier schreibt.
Nein. Die meiste Zeit ist man als Autor ein Handwerker, der an seinem Stoff hart arbeitet. Da wird erst eine rohe Textfassung hergestellt, an der dann – meist in Etappen - gefeilt, gehobelt und die manchmal sogar komplett umgeschrieben oder gar eingestampft wird. Ein Buch zu schreiben ist ein langer Prozess und mit jedem neuen Manuskript lernt der Autor dazu. Ob das nun um den Schreibstil geht, wie man eine Szene besonders spannend schreibt oder wie man einen Schauplatz schildert. Und selbst wenn ein Autor schon 500 Bücher geschrieben hat, so wird in jedem fertigen Manuskript immer noch etwas sein, das man besser machen könnte.
Lektoren bohren in Wunden
Und deshalb gibt es die Berufsgruppe der Lektoren. Sie sind bei Autoren mehr oder weniger beliebt und sie treten spätestens dann in Aktion, wenn der Autor sein Manuskript beendet hat. Dann lassen sie ihre Adleraugen über den Text gleiten, suchen nach größeren Brocken, wie zum Beispiel unlogischen Handlungsverläufen, Namensfehlern oder zu langatmigen Erklärungen.
„Ein guter Lektor legt seine Finger in alle Wunden und bohrt darin herum.“ So erkläre ich meinen Schreibkursteilnehmern oft den Sinn eines Lektorats. Lektoren sind Spürhunde. Sie finden jede Ungereimtheit und wenn sie gut sind, auch jedes „Glühwürmchen“. Wie zum Beispiel in meinem Jungendthriller "Feentod", der im Arena-Verlag erschienen ist. Da blickt meiner sechzehnjährigen Heldin Noraya nach dem Lektorat nicht mehr „das Antlitz einer Rothaarigen entgegen, deren Augen wie grüne Äpfel in den tiefen Höhlen lagen“, sondern: „Aus dem Garderobenspiegel blickte ihr ein erschrecktes Gesicht entgegen. Ihre roten Haare waren zerzaust, ihre großen grünen Augen starrten sie aus tiefen Höhlen an.“
Zu dieser Umformulierung hatte mich meine Lektorin Stefanie bewegt und zwar absolut zu Recht: Wozu Äpfel in ein Antlitz pflanzen, wenn es viel einfacher und treffender geht!
Juliane Breinl ist Autorin und Sprechtrainerin. Sie schreibt als freie Redakteurin für die Münchner Wochenanzeiger.
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