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"Es braucht Ärzte mit Herz und Verstand"

Einblicke in die Palliativstation der Barmherzigen Brüder

Auf Palliativstationen sterben Menschen. Ärzte und Pfleger zielen hier nicht auf Heilung sondern auf Linderung ab. Dennoch sind die Stationen nicht nur Ort des Sterbens, sondern auch des Lebens. (Bild: Albrecht E. Arnold / pixelio.de )

Der Eingangsbereich der "Abteilung Palliativmedizin St. Johannes von Gott" ist in hellen Tönen gehalten: gelbe Säulen, orange Stühle. Große Fenster in der Decke lassen Licht herein. Nur das Februarwetter spielt nicht mit – statt Sonne nur graue Wolken. Die Palliativstation des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder liegt hinter der niedrigen Mauer des südlichen Nymphenburger Schlossrondells. Deutschlands größte Palliativklinik hat einen kleinen Garten, 32 Patientenbetten und warme Farben an den Wänden. Über dem Besucherkopf hängt ein schweres Kreuz.

Es riecht nicht nach Krankenhaus, die Atmosphäre ist anders: Keine hektischen Ärzte auf den Gängen, keine gehetzten Schwestern mit Infusionsbeuteln. Es ist ruhig hier, eine angenehme Stille. Klinikleiter Marcus Schlemmer, Internist, Onkologe und Palliativmediziner, begrüßt einen Patienten, legt ihm die Hände auf die Schultern, die beiden duzen sich. Solange Schlemmer sich um seinen Patienten kümmert, findet Caudia Hüttemann ein paar Minuten, um sich zu unterhalten. Hüttemann arbeitet mit 49 Pflegedienstkollegen auf der Station, dazu kommen fünf Ärzte. Seelsorger, Sozialarbeiter und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen ergänzen das multiprofessionelle Team. "Auf Normalstationen sind zwei Pflegekräfte für 30 Patienten zuständig, hier betreut eine Schwester zwei, maximal drei Personen", erklärt Hüttemann. "Dadurch können wir auf individuelle Bedürfnisse eingehen, wir erfassen den Menschen vor uns ganzheitlich, nehmen seine Nöte und Ängste wahr."

"Auf individuelle Bedürfnisse eingehen"

Wer auf der Palliativstation gepflegt wird, ist unheilbar krank. Krebspatienten gehören dazu, aber auch Menschen, die an neurologischen Krankheiten im Endstadium leiden. Die zu Grunde liegende Krankheit ist nicht entscheidend, es geht darum, wie sehr jemand leiden muss. Wer Symptome hat, die unerträgliche Schmerzen verursachen, wird therapeutisch behandelt. Im Durchschnitt bleibt ein Patient knappe zwei Wochen in der Klinik. Die Hälfte der Kranken wird im Anschluss nach Hause, in eine Pflegeeinrichtung oder ein Hospiz entlassen, die anderen sterben in der Abteilung. Hier wird niemand mehr gesund. Moderne Palliativmedizin heilt nicht, sie ist eine hochspezialisierte Disziplin, die schwer Leidenden gutes Sterben ermöglicht.

Das müssen auch die Pflegenden aushalten können. "Wir haben nur Schwestern und Pfleger mit viel Berufserfahrung", bestätigt Hüttemann, "Außerdem ist es hilfreich, wenn man familiär gut aufgestellt ist, Freunde da sind." Auf der Station gebe es regen Austausch, Supervision und Besprechungen, um die Tätigkeit zu erleichtern. Hüttemann: "Wem es trotzdem zu viel wird, der hat außerdem jederzeit die Möglichkeit, Stunden zu reduzieren."

"Schmerz und Leid sind ein komplexes System"

Es klopft, Schlemmer ist zurück – fliegender Wechsel, Hüttemann muss sowieso dringend los, ihre Patienten warten. Das Team behandelt zum einen Schmerzen und Symptome: Medikamentöse Therapie nimmt Erbrechen oder Übelkeit. Zum anderen muss der sterbende Mensch, müssen dessen Angehörige psychisch betreut werden. "Schmerz und Leid sind ein komplexes System, es gibt immer eine somatische und eine seelische Komponente", erläutert Schlemmer. "Ganz einfach – wenn Sie eine Grippe haben, dann sind Sie auch schlecht drauf." Bei einem Krebspatienten werde jeder somatische Schmerz auch als Bedrohung wahrgenommen. "Der Patient merkt, 'mein Schmerz wird schlimmer', daraus schließt er, 'der Krebs wird schlimmer', seine Angst wächst."

"Was würde ich für mich wollen?"

Schlemmer ist sich sicher, dass bereits vieles gewonnen ist, wenn der behandelnde Arzt sich traut, offen mit seinem Patienten zu sprechen: "Die meisten Menschen spüren, wie krank sie sind. Kommunikation ist einer der wichtigsten Pfeiler der Palliativmedizin." Erkrankte seien dankbar, wird ihr eigenes Gefühl benannt. "Wir müssen als Ärzte lernen, weniger um den heißen Brei herumzureden." Und wenn ein Patient sich nicht mehr selbst ausdrücken kann? "Es braucht Ärzte mit Herz und Verstand, die medizinische Situationen einschätzen können. Es reicht, wenn man sich fragt: 'Was würde ich für mich wollen?'." Schlemmer empfiehlt außerdem jedem eine Vorsorgevollmacht: "Ich habe oft besonders kluge Kollegen erlebt, die in blindem Aktionismus gehandelt haben." Da helfe ein Bevollmächtigter, der klar benennen kann, was ein Patient wolle und was eben nicht.

Mehr Geld für menschliche Linderung

Schlemmer sieht hier einen grundsätzlichen Fehler im Gesundheitssystem: "Wir haben viele Milliarden zur Verfügung. Das Geld muss umverteilt werden. Größere Teile müssen zur Palliativmedizin, zur menschlichen Linderung, verwendet werden." Das mache mehr Sinn und erziehe Ärzte dazu, offener mit ihren Patienten zu sprechen, einfach zu sagen "Sie sterben", anstatt eine weitere sinnlose Chemotherapie anzubieten. Schlemmer und sein Team lassen das Sterben zu. "Mit einer schweren Krankheit hat man viel erlitten, Sterben zu wollen ist ein nachvollziehbarer Wunsch, würden wir diesen öfter akzeptieren; wir würden viel Elend aus der Welt nehmen. Niemand würde mehr in Pflegeheimen künstlich lang am Leben gehalten."

"Sich jeden Tag hinterfragen"

Für die Palliativmedizin wünscht sich der Arzt mehr Einsicht von Politik und Krankenkassen: "Wir brauchen mehr Ressourcen, das bedeutet ganz klar: mehr Geld." Nur dank der Trägerschaft der Barmherzigen Brüder und großzügiger Spender sei in Nymphenburg ganzheitliche Palliativmedizin möglich, das müsse sich ändern. "Außerdem müssen wir uns und unsere Arbeit jeden Tag hinterfragen", sagt Schlemmer, "wir müssen uns versichern, 'Habe ich das gut gemacht, war das wirklich würdevoll für diesen Menschen oder habe ich ihm eigene Vorstellungen aufgestülpt'." Nur wenn die individuelle Würde des einzelnen Patienten respektiert werde, sei selbstbestimmtes, gutes Sterben möglich.

Schlemmer verabschiedet sich: 32 Menschen und deren Angehörige verlassen sich auf ihn. Der Besucher steht noch kurz im Eingangsbereich, das große Kreuz über dem Kopf. Der Blick durch die Deckenfenster bezeugt den Wunsch nach ein bisschen Sonne, ein bisschen Wärme – Sterben ist ein schmerzhaftes Thema. Der Himmel ist weiter grau. Gut, dass die Wände hier hell, die Säulen gelb und die Menschen voll Wärme sind.


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