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"Mit Verständnis füreinander“

Wann machen Veränderungen Angst?

Wann machen Veränderungen Angst? (Bild: colourbox.com)

Neuanfänge begleiten uns unser ganzes Leben lang. Nicht nur wir verändern uns ständig, auch unser Umfeld, die Beziehungen, unser Job und die Gesellschaft sind im dauernden Wandel. Noch vor 30 Jahren dachte niemand an den Fall der Berliner Mauer und die nachfolgenden Entwicklungen in Europa, um nur ein Beispiel zu nennen. Der Naturforscher Charles Darwin brachte es für uns auf den Punkt: „Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel“, sagte er. Wir müssten es also wissen. Und trotzdem tun wir uns im Allgemeinen mit Veränderungen schwer.

"Es beschleunigt alles"

„Ich merke vor allem an meinen pubertierenden Kindern, wie schnell die Zeit vergeht und sich die Dinge ändern“, meint SPD-Landtagsabgeordneter Florian von Brunn lachend. Das zögerliche Umgehen mit Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext nehme er allerdings sehr ernst. „Ich glaube, das hängt auch mit der Zeit zusammen, in der wir leben. Die Industrialisierung hat schon sehr viel verändert. Die heutige Digitalisierung beschleunigt alles noch einmal.“

Die einen passen sich schnell an die ungewohnten Dinge an, andere nicht. „Das hat etwas mit dem Charakter zu tun“, sagt Diana Sturzenhecker, Leiterin des Altenheims Maria Eich in Krailling. „Im Altenheim kann man dies sehr genau beobachten. Manche Bewohner sind zufrieden mit sich und der Welt trotz Schmerzen und Verlusten. Andere hadern mit ihrem Dasein, obwohl sie liebevoll von Kindern und Enkeln umsorgt sind." Einen Wunsch für ihre eigene Zukunft schließt sie gleich an: „Ich hoffe, dass ich mich später auch positiv arrangieren kann.“

Alles nur Kopfsache?

„Wir haben unsere Konzepte, wer wir sind und was wir wollen“, argumentiert Anke Witzel, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei ehret + klein. „Je stärker wir in diesen Konzepten verhaftet sind, um so schwerer fallen uns Veränderungen. Je leichter wir uns distanzieren können, desto offener geht man mit Neuem um.“

Das beste Beispiel sei das sich wandelnde Stadtgefüge. Siedlungsdruck, verstopfte Straßen, weniger Grün, die Hektik – da denkt manch einer an die guten, alten Zeiten. „Aber der Fortschritt der Stadt ist wichtig, München muss wachsen!“, betont Oswald Utz, Grünen-Stadtrat und ehrenamtlicher Behindertenbeauftragter der Stadt München. „Als Politiker fällt mir oft auf, dass die Leute mehr Wohnungen, mehr Parkplätze haben wollen, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür. Das hat mit Toleranz und Bequemlichkeit zu tun. Da muss jeder etwas von seinen Pfründen abgeben.“

„Beim Wohnen ist jeder betroffen“

Doch manchmal sind es viel mehr als ein paar Pfründe, sondern es geht um die Existenz. „Unsere Familie hat seit 1945 in einem Mehrfamilienhaus gewohnt. Jetzt mussten wir raus. Das war ganz, ganz schrecklich. Ich habe lange gebraucht, bis ich diesen Schritt gehen konnte“, berichtet Sylvia Zenkner vom Dschungelpalast. „Wir haben Glück gehabt und schnell etwas Neues gefunden. Aber die Alten im Haus oder die junge Mutter mit zwei kleinen Kindern finden einfach nichts Bezahlbares. Das macht eine Wahnsinnsangst, das kann ich sehr gut nachvollziehen.“

„Beim Wohnen ist jeder betroffen“, bestätigt Anke Witzel von ehret+klein. „Auch wenn man gar nicht derjenige ist, dessen Haus abgebrochen wird. Wir reagieren als Menschen mit Verständnis füreinander!“ Die Projektentwicklungsfirma ehret+klein ist zwar nicht unmittelbar im Wohnungsbau tätig. „Trotzdem sind wir immer sehr bemüht, eine Vertrauensbasis in der Nachbarschaft und im weiteren Umfeld zu schaffen. Das gelingt am besten durch viele Gespräche. Wir wollen erfahren, was vor Ort gewünscht ist und welche Vorbehalte bestehen. Darauf können wir reagieren.“

Leute mitnehmen!

Für den Wiederaufbau des Kaufhauses Beck in der Fürstenrieder Straße gilt das auch. „Als wir das Kaufhaus 2014 gekauft haben, stand es schon seit über 20 Jahren lang leer. Hier wollen die Leute, dass sich endlich mal was ändert“, erzählt Witzel. „Trotzdem sind wir sichtbar für alle und bieten so viele Infos wie nur möglich, damit sich jeder auf das Neue einstellen kann."

Bei gewerblichen Immobilien ist das immer einfacher, meint Oliver Rob von der „Standortinitiative Großmarkt in Sendling. Jetzt.“. „Wir als Initiative wollen zum Beispiel den baufälligen und sanierungsbedürftigen Großmarkt in Sendling erhalten. Den gibt es dort seit 1912. Mittlerweile sind dort 400 Unternehmen ansässig mit vielen Mitarbeitern und Hilfskräften, die im unmittelbaren Umfeld wohnen. Das ist gelebte Integration in Sendling! Und der Markt ist prägend für ganz München. Wir finden, dass der dort bleiben soll.“

Spagat zwischen Tradition und Moderne schaffen

Wie sehe denn Sendling aus, wenn der historische Markt mit seinen gewachsenen Strukturen an den Stadtrand verschwände, wo bliebe der Charme des Viertels? „Ich denke, dass Kommunikation richtig und wichtig ist. Aber unterm Strich zählt für die Investoren die Wirtschaftlichkeit und da hört der unmittelbare Einfluss der Leute, die sich engagieren wollen, auf.“

„Da muss die Politik einhaken!“, fordert von Brunn. „Durch die extremen Bodenpreise, den Zuzug, die Spekulation kann sich die alteingesessene Bevölkerung ihr angestammtes Quartier nicht mehr leisten und muss wegziehen. Dieses Problem müssen wir beim Namen nennen und reagieren.“

„Ich frage mich oft, wie unsere Mitarbeiter das schaffen, die wenig Geld haben“, so Sturzenhecker. „Da wohnen manchmal zwei Familien in einer Wohnung, weil es gar nicht anders geht. Oder eine Mutter mit ihrer erwachsenen Tochter auf 22 Quadratmetern. Das ist schwer vorstellbar. Aber wo sollen sie im Würmtal oder Umgebung eine bezahlbare Wohnung finden? Das ist aussichtlos!“ Oder nehme man das Projekt „Betreutes Wohnen in Krailling“, bei dem die Gemeinde das Grundstück geschenkt bekäme. „Nur wollen die Anwohner die Bebauung verhindern, weil sie einen Wertverlust ihrer Grundstücke sehen. Das sagen sie ganz offen. Aber wo soll das hinführen? Es geht doch um Menschen!“

Ganz wichtig: Bürgerbeteiligung

Ohne Einflussnahme der Politik gibt es keine Lösung, darin sind sich die Gesprächsteilnehmer einig. „Ich freue mich, dass so viele Ansätze und Ideen entstehen, wie die Kommunen das Thema Bezahlbares Wohnen angehen können. Das sehe ich in München, bei uns in Gräfelfing ist das nicht anders“, meint Klaus Tonte, Vorstand der Volkshochschule Würmtal e.V. „Nur kommen dann oft die Nachbarn auf den Plan, die gegen die Baumaßnahmen sind und ein Bürgerbegehren erwirken."

Das sei absolut legitim und eine Errungenschaft unserer sozialen Demokratie, betont von Brunn. „Bürgerbeteiligungen sind für die Akzeptanz von Projekten wichtig. Die zwingen auch die Behörden zu Offenheit und Transparenz!“ Das viel größere Problem sieht von Brunn darin, dass vorwiegend die Verhinderer aktiv werden. „Wir bieten Bürgerbeteiligungen an und dann kommen nur die Interessensvertreter von der Gegenseite und dann ist wieder Stillstand. Das kann es auch nicht sein.“

Privilegien verlieren? Neues gewinnen!

Steckt man einmal in einer Krise und steht mit dem Rücken zur Wand, kommt eine Veränderung oft wie gerufen. Wenn gerade alles super läuft, will man davon nichts wissen. Aber Veränderungen geschehen nun einmal. Gibt es Strategien, sich positiv darauf einzustellen? Dazu meint Witzel: „Vielleicht sollte man nicht beim Gedanken stehen bleiben „es wird sich etwas verändern“. Sondern man sollte sich die neue Lage lebhaft vorstellen, sich ein Bild vom Neuen kreieren. Das ist die Kunst, im Privaten wie im Beruflichen!“

Aber was ist, wenn die neue Situation schlechter ist als vorher? „Verlierer gibt es immer!“, ergänzt Utz. „Und das macht den Menschen Angst!“ Trotzdem solle diese Angst nicht lähmen und den Fortschritt behindern. Utz nimmt als Beispiel seine Kinder, die mit ganz unterschiedlicher Frustrationstoleranz ausgestattet sind. „Und da bin ich gleich beim Bildungssystem. Es ist zum Kotzen, wie da mit Misserfolg umgegangen wird!“

In der Schule beginnt´s!

Der dortige Leistungsdruck bringe Menschen hervor, die sich schwer mit Frust und Veränderungen tun. „Das macht mir Sorge, wenn ich an die Zukunft unserer Kinder denke. Denn die müssen dem rasanten Wandel gerecht werden. Denn ja: Es gibt eine Menge Veränderungen zu unserem Nachteil, die mit Enttäuschung und vielleicht sogar Leid einhergehen“, betont Utz.

„Genau! Wie akzeptiert unsere Gesellschaft Misserfolge? Bietet sie andere Wege an? Das sind sehr interessante Fragen“, findet von Brunn. „Vielleicht sollten wir demjenigen mehr Anerkennung zollen, der sich wieder aufgerappelt und neue Wege beschritten hat.“

„Was ist schon ein Misserfolg?", entgegnet Tonte. "Das kann auch eine Erfahrung sein, nämlich eine gute! Wenn wir uns das vor Augen führen, ist schon viel erreicht.“ Von Brunn ergänzt: „Und wir müssen gesamtgesellschaftlich darauf achten, dass sich die vielen und schnellen Veränderungen unserer Zeit am Wohl der Menschen orientieren.“

 

Unsere Sommer-Frage

Was war für Sie die größte, schwierigste, überraschendste, grundlegendste oder gewinnbringendste Änderung, die sich bei uns in den letzten 100 Jahren bei uns vollzog? Unsere Gäste antworten:

Oliver Rob: "Der Computer und seine Einflüsse in die Arbeits- und die private Welt haben für mich die größte und schwierigste, aber sicherlich auch die gewinnbringendste Veränderung gebracht."

Diana Sturzenhecker: "Das Smartphone! Damit sind wir immer erreichbar sein, ob wir wollen oder nicht. Das hat positive wie negative Aspekte. Das Negative daran ist für mich: Nie allein zu sein und doch immer irgendwie allein."

Klaus Tonte: "Für mich ist es die Digitalisierung an sich mit allen ihren Chancen. Aber auch Öffnung der Grenzen, die ich als Jugendlicher miterlebt habe und mich tief beeindruckt hat, möchte ich nennen."

Oswald Utz: "Ich möchte da einen ganz egoistischen Aspekt nennen. Für mich war die Erfindung der elektrisch betriebenen Rollstühle die allerschönste Veränderung. Wenn mein Rollstuhl defekt ist und in die Werkstatt muss, bin ich ungenießbar für mein Umfeld."

Florian von Brunn: "Die beeindruckendste Änderung ist für mich, dass wir es nach dem Krieg geschafft haben, eine soziale Demokratie aufzubauen. Zugleich muss ich zugeben, dass die Art von Wirtschaft unsere Existenz gefährdet. Dazu gebe ich nur das Stichwort Umwelt."

Anke Witzel: "Das habe ich gegoogelt und eine kalifornische Gruppe ausfindig gemacht, die die 100 größten Veränderungen zwischen 1915 und 2015 aufgelistet hat. Ganz vorn rangiert der Wandel der Telekommunikation! Das empfinde ich auch als das Wichtigste. 1915 hatten acht Prozent der Haushalte ein Telefon, 2015 waren es 100 Prozent plus 40 Prozent Smartphones. Das ist schon enorm."

Sylvia Zenkner: "Das war für mich der Mauerfall. Als negative Änderung fällt mir die wahnsinnige Schnellelbigleit unserer Zeit ein. Da bleibt viel auf der Strecke."

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Oliver Rob (Sprecher Standortinitiative „Großmarkt in Sendling. Jetzt.“)

Diana Sturzenhecker (Leiterin Altenheim Maria Eich in Krailling)

Klaus Tonte (Vorsitz Vhs Würmtal)

Oswald Utz (Behindertenbeauftragter Stadt München)

Florian von Brunn (Landtagsabgeordneter SPD)

Anke Witzel (ehret+klein)

Sylvia Zenkner (Leitung Mehrgenerationenhaus Dschungelpalast)

 

Unsere Zeit und wir

Ehrenamtliche schenken Zeit, Kinder brauchen Zeit und Erwachsenen fehlt sie häufig: Unser redaktionelles Schwerpunktthema 2018 mit vielen Beiträgen dazu ist „Zeit“. Auch alle unsere Sommergespräche beschäftigen sich mit einem Aspekt der Zeit: Unser Gespräch über Veränderungen fußt auf der den alten Römern zugesprochenen Erkenntnis „Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen.“

 

Alle unsere Gespräche

Lesen Sie hier alle unsere Sommergespräche:

"Geil, krass, super!"

Wie wählen wir Worte?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2586)

 

„Eine Entschuldigung ist keine leere Floskel“

Wie gelingt Versöhnung?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2587)

 

"Wir bedeutet füreinander da zu sein"

Wer ist "Wir"?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2588)

 

„Zuhören verbindet!“

Nehmen wir uns Zeit zum Zuhören?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2589)

 

"Zur Kreativität gehört Leerlauf"

Lassen wir Kindern genug Zeit zum Kindsein?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2593)

 

„Alle Generationen mitnehmen“

Wie werden wir älter?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2590)

 

"Man gibt etwas und bekommt viel zurück"

Warum übernehmen Menschen Ehrenämter?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2591)

 

„Fehler gehören dazu“

Wie treffen wir Entscheidungen?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2592)

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