"Wir bedeutet füreinander da zu sein"
Was braucht es für ein "Wir-Gefühl"?
„We are the world, we are the children“, so lautet der Refrain eines weltweit bekannten Popsongs, den Michael Jackson und Lionel Richie im Jahr 1985 zusammen geschrieben und produziert haben. Das Lied, welches Teil einer Spendenkampagne war, handelt im Wesentlichen vom Miteinander, vom Respekt und der Verantwortung jedes Einzelnen gegenüber seinen Nächsten. Kurz gesagt einem Wir-Gefühl. Werte, die aus heutiger Sicht etwas verloren zu sein scheinen, wenn man sich die aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten näher vor Augen führt. In Zeiten von Handelskriegen, wachsendem Nationalismus und einer Abkehr vom europäischen Einheitsgedanken stellt sich die Frage, ob es denn eigentlich ein „Wir“ in unserer Gesellschaft überhaupt noch gibt. Im Fall des Songs „We are the world“ scheint es dieses „Wir“ zu geben, welches alle Menschen miteinander verbindet, egal welche Hautfarbe sie besitzen, ob sie arm oder reich sind oder welcher Religion sie zugehören. Ein Blick in die Geschichtsbücher verdeutlicht ebenso, dass dem „Wir“, sei es im politischen wie im gesellschaftlichen Sinne, immer große Bedeutung beigemessen wurde und immer noch wird. Bei den Montagsdemonstrationen in der DDR beispielsweise riefen tausende Menschen „Wir sind das Volk“ und machten so der politischen Führung deutlich, wie sehr diese sich von der Bevölkerung entfernt hatte und wie sehr die Bürger mit ihrem politischen Führungsstil nicht mehr einverstanden waren. Die Solidarität und Hilfsbereitschaft, die viele Münchner Geflüchteten in den letzten Jahren entgegengebracht haben, unterstreicht ebenfalls die Existenz eines „Wir-Gefühls“. Entspricht also das Menschenbild des britischen Philosophen Thomas Hobbes, der Mensch sei seinem Mitmenschen ein Wolf (homo homini lupus est), in der Praxis gar nicht der Wirklichkeit?
Wer könnte diese Frage besser beantworten als eine bunt zusammengestellte Runde von Gesprächspartnern verschiedener Herkunft und aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Im Rahmen ihrer traditionellen Sommergespräche bringen die Münchner Wochenanzeiger Leute zusammen, die verschiedene Themen in lockerer Biergartenatmosphäre miteinander diskutieren. An einem sonnigen Vormittag im Hirschgarten fand die Gesprächsreihe zum Thema „Wer ist Wir?“ statt. Die bunt gemischte Runde bestehend aus Bob Ross, Dorothee Schiwy, Savas Tetik, Julika Sandt und Mehmet Pekince erwartete eine reichlich bestückte Brotzeitplatte, mit der sie sich stärkte, bevor sie erklärte, was sie sich denn genau unter dem Begriff „Wir“ vorstellt.
"Gemeinsame Überzeugungen und Werte"
„Wir Musiker sind super, egal wo man herkommt, wir spielen zusammen. Wir Musiker sind eine Familie“, antwortete Bob Ross, Leiter von Blechschaden, mit einem musikalischen Beispiel auf die Frage, wie man sich denn ein „Wir“ konkret vorstellen kann und was denn überhaupt „Wir“ bedeutet. Julika Sandt, Landtagskandidatin der FDP, pflichtete Ross bei, dass der Begriff „Wir“ zuallererst als ein persönlicher Bezug gesehen werden kann, bei dem vor allem die Familie einen zentralen Bezugspunkt bildet. „Wir ist für die meisten Menschen die Familie“, so die Politikerin. Allerdings gebe es auch mehrere Ebenen, die ein „Wir“ widerspiegeln können. Dazu gehöre neben dem Umfeld natürlich auch die politische Ebene, in dem das Wir anders gedeutet wird. Bei einem politischen Wir sind gemeinsame Überzeugungen und bestimmte Werte das Bindeglied, betonte Sandt. „Man schließt sich zusammen, wenn man sich gemeinsam für einen Wert entscheidet. Bei uns ist das die Freiheit, sich zu entfalten, Bildungs-, Meinungs- und Pressefreiheit oder auch die Barrierefreiheit“, ergänzte sie. Ähnlich sah das auch Mehmet Pekince, Mitglied im Interkulturellen Dialogzentrum IDIZEM: „Familie, also das kleine Wir ist das einfachste Wir. Das andere Wir ist das Schwierige. Das ist die Herausforderung.“ Aufgabe sei es dann, sich auf sein Gegenüber einzulassen, sich gegenseitig zuzuhören um den anderen zu verstehen.
"Jeder wird gleich behandelt"
„Barrierefreiheit ist ein großes Thema“ bekräftigte Claudia Henze vom Sozialverband Bayern. Aus ihrer Sicht bildet vor allem die Gleichbehandlung von Menschen die entscheidende Basis, von dem aus sich ein gesellschaftliches „Wir“ entwickeln kann. Besonders in der Verbandsarbeit spiele dies eine entscheidende Rolle. „Bei uns wird jeder gleich behandelt, egal wer kommt.“ Darüber hinaus zeichnet sich sozialpolitische Arbeit auch durch ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft aus, was wiederum das Wir-Gefühl zwischen Menschen stärkt. „Wir versuchen jeden Menschen aufzunehmen. Da ist es egal, wer das ist. Es gibt so viele Menschen, die Hilfe brauchen. Jeder Zweite weiß heute nicht mehr, wie er seinen Alltag bewältigen soll, wie zum Beispiel eine Behörden- oder eine Rentensache. Wir versuchen das Wir stark auszuleben. Aus diesem Grund werden Verbände immer wichtiger in der Gesellschaft, eben weil dieses Wir mehr und mehr verloren geht“, so die Sozialberaterin. Julika Sandt bekräftigte diesbezüglich, dass der Begriff der Verantwortung für ein „Wir“ von zentraler Bedeutung ist. „Das Stichwort Verantwortung finde ich sehr wichtig, weil Wir vor allem auch bedeutet füreinander da zu sein.“
"Menschen sichtbar machen"
Ähnlicher Meinung ist auch Savas Tetik vom Infozentrum Migration und Arbeit der AWO München. In seiner täglichen Arbeit mit Menschen erlebt der Integrationshelfer allerdings immer wieder, dass vor allem in einer Großstadt wie München Menschen ausgegrenzt werden und dadurch vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgeschlossen sind. Daher plädierte er in der Runde für mehr Achtsamkeit im täglichen Umgang mit seinen Mitmenschen. „Aus meiner beruflichen Erfahrung weiß ich, dass es in München viele unsichtbare Menschen gibt. Viele wollen ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten, werden aber ausgeschlossen. Deshalb ist es wichtig, diese Menschen sichtbar zu machen. Wenn wir auf die Leute zugehen und ihnen Achtsamkeit schenken und auch mal ins Gespräch kommen, bekommen wir das später von den Menschen zurück.“ Jeder Mensch möchte etwas geben und auch nehmen, die gleichen Rechte und Pflichten haben. Erst dann könne ein Wir-Gefühl entstehen.
„Wir-Gefühl entsteht nicht automatisch“
Die gesellschaftliche Ausgrenzung findet auch Dorothee Schiwy, Sozialreferentin der Landeshauptstadt, problematisch. Sie bildet gewissermaßen die Kehrseite des „Wir-Gefühls“. „In dem Moment, wo es ein Wir und die Anderen gibt, in dem Augenblick, wo sich jemand plötzlich im Wir nicht mehr wohlfühlt kommt dieses `ich fühle mich abgehängt´." Das sei dann gefährlich. Allerdings sieht die Leiterin des Sozialreferates in München ein starkes Wir-Gefühl gegeben. „Das muss man sogar noch fördern“ unterstrich sie und nannte im gleichen Atemzug konkrete Beispiele aus ihrem Arbeitsalltag, die belegen, dass viele Münchner dem „Wir“ eine besondere Bedeutung beimessen. „Ein Wir-Gefühl entsteht nicht automatisch,“ warf Pekince ein. „Man muss wirklich etwas tun.“ Laut Schiwy mache die Stadt hier schon sehr viel: „Wir als Sozialreferat arbeiten ganz viel mit einzelnen Projekten zusammen, die dann wiederum von Ehrenamtlichen leben, die sich zusammenfinden, um sich in einem bestimmten Themenkreis zu engagieren und Leuten helfen wollen. Was hinzu kommt, ist auch die Vernetzung. Die bildet ein neues Wir. Wenn ich zum Beispiel eine bestimmte Behinderung habe oder alleinerziehend bin, ist es wertvoll andere Leute kennenzulernen, die das gleiche Problem haben. Man fühlt sich in einer Runde mit Menschen in der gleichen Situation besser verstanden und kann Pläne schmieden, wie man mit der Situation umgehen soll.“
Eine Gemeinschaft und unter Gleichgesinnten, das sind auch die Musiker in einem Orchester. „Wir musizieren gemeinsam und müssen aufeinander eingestimmt sein“, erklärt Ross. Ebenfalls könne sich ein Wir verändern oder ausweiten. „Heutzutage ist wegen des Internets die ganze Welt hier im Orchester. Als ich herkam, waren es nur sieben Leute aus dem Ausland von 130 Mann. Jetzt wo ich in den Ruhestand gehe, sind wir Leute aus 35 Nationen,“ so Ross.
Unsere Sommer-Frage
Welches „Wir“ ist in Ihrer täglichen Arbeit wichtig? Unsere Gäste antworten:
Claudia Henze: Gemeinsam sind wir stark.
Mehmet Pekince: Wir schaffen das immer noch trotzdem. Ich denke auch, man darf stolz sein, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein. Deutschland ist mittlerweile eine Vorzeigedemokratie, und es wird auch so bleiben.
Bob Ross: Wir müssen gut zusammen stimmen wie Musiker. Wenn es nicht stimmt, dann klingt es schlecht - der Ton macht die Musik.
Julika Sandt: Gemeinsame Werte sind wichtig. Die Bildung ist das allerwichtigste. Aber nicht nur die rein fachliche Bildung. Im gemeinsamen Musizieren, im gemeinsamen Sport, völlig unabhängig von der Herkunft, so können wir gemeinsame Werte schaffen.
Dorothee Schiwy: Das Wir der Münchner Stadtgesellschaft.
Savas Tetik: Achtsamkeit. Für mich ist Achtsamkeit wichtig.
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Claudia Henze (Sozialverband Bayern – SoVD )
Mehmet Pekince (Mitglied Interkulturelles Dialogzentrum Idizem)
Bob Ross (Leiter Blechschaden)
Julika Sandt (Landtagskandidatin FDP)
Dorothee Schiwy (Sozialreferentin Landeshauptstadt München)
Savas Tetik (Infozentrum Migration und Arbeit der AWO)
Unsere Zeit und wir
Ehrenamtliche schenken Zeit, Kinder brauchen Zeit und Erwachsenen fehlt sie häufig: Unser redaktionelles Schwerpunktthema 2018 mit vielen Beiträgen dazu ist „Zeit“. Auch alle unsere Sommergespräche beschäftigen sich mit einem Aspekt der Zeit. Das Gespräch über „ Wir“ fußt auf de m chinesischen Sprichwort „Die harte Arbeit von hundert Jahren kann in einer Stunde zerstört sein.“ Welches Wir ist stabil – und warum ?
Alle unsere Gespräche
Lesen Sie hier alle unsere Sommergespräche:
Wann machen Veränderungen Angst?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2599)
Wie wählen wir Worte?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2586)
„Eine Entschuldigung ist keine leere Floskel“
Wie gelingt Versöhnung?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2587)
Nehmen wir uns Zeit zum Zuhören?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2589)
"Zur Kreativität gehört Leerlauf"
Lassen wir Kindern genug Zeit zum Kindsein?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2593)
Wie werden wir älter?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2590)
"Man gibt etwas und bekommt viel zurück"
Warum übernehmen Menschen Ehrenämter?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2591)
Wie treffen wir Entscheidungen?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2592)
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