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"Man gibt etwas und bekommt viel zurück"

Im Ehrenamt kommt man mit sympathischen Menschen zusammen

Ein wichtiges Ehrenamt übernehmen Schulweghelfer wie hier in Allach: Dietlinde Schermer (l.), die Leiterin des Schulwegdienstes an der Grundschule in der Eversbuschstraße, dankte kürzlich mit Rektorin Daniela Weinberger (2.v.l.) und Karsten Simon (Elternbeirat) den scheidenden Schulweghelfern Günter Jocham und Joana Neumann. Viele Schulen suchen jetzt wieder Helfer, die an gefährlichen Stellen auf Kinder aufpassen. (Bild: sb)

Der typische Ehrenamtliche ist berufstätig, zwischen 14 und 24 Jahre alt und gebildet – statistisch gesehen. Die Münchner und 5-Seen-Wochenanzeiger hatten zum Sommergespräch in den Biergarten geladen. Im Gasthof Widmann, dem Oberen Wirt in Gilching, hatte sich dazu eine Tischrunde mit ehrenamtlich tätigen oder mit dem Ehrenamt befassten Gesprächspartnern zusammen gefunden. „Warum übernehmen Menschen ein Ehrenamt?“, lautete die Frage. Egal ob Oberbürgermeister, Landtagsabgeordneter, ob Koordinatorin von Ehrenamtlichen, Dorffestorganisator oder aktive Vereinsmitglieder – wenn es um das Ehrenamt geht, dann leuchteten die Augen und es sprach Leidenschaft aus den Teilnehmern.

Germerings Oberbürgermeister Andreas Haas wollte die statistischen Zahlen, die Gerlinde Wouters (FöBE) mitgebracht hatte, so nicht stehen lassen. „Es mag diesen statistisch typischen Ehrenamtlichen geben, aber bei uns in Germering sind sie sowohl jünger als auch älter und ganz bunt gemischt“.

"Wie eine kleine Familie"

Wouters zitierte aus der Studie auch die Beweggründe für eine ehrenamtliche Tätigkeit wie „Spaß haben“, „Ausgleich zu Beruf und Pflichtaufgaben“, aber auch „mit sympathischen Menschen zusammen kommen, die die gleichen Werte haben“. Kopfnicken am Tisch. Verena Reckzeh hat erlebt, dass Sterbende vor 30 Jahren in Krankenhäusern "weggeschoben" wurden. „Da musste ich mich engagieren“, erinnerte sich die stellvertretende Sprecherin der ARGE Hospiz. Ihr gefällt die Arbeit mit den Hospizbegleitern, „alles sehr intensive Menschen, die auch sehr fröhlich sind“. Auch Sebastian Giehl hat im TSV Großhadern viele Freunde gefunden. Seine Eltern seien bereits Mitglied gewesen, „Ich bin da aufgewachsen und in das Ehrenamt hineingewachsen“. Vor zwei Jahren hat er die Organisation des Haderner Dorffests übernommen. Rund 60 Helfer machen mit. „Das ist wie eine kleine Familie“.

„Man gibt etwas, aber man bekommt auch unheimlich viel zurück“, berichtete Landtagsabgeordneter Andreas Lotte. Das habe er als ehrenamtlicher Politiker im Bezirksausschuss erlebt, aber auch im Verein für berufliche Integration. „Mir ist ein Ehrenamt wichtig, in dem ich Leuten konkret helfen kann“. „Geben ist seliger als Nehmen“, stimmte Reckzeh zu. Sie habe aber auch viel im Ehrenamt gelernt. Zum Beispiel, „das Annehmen, was ist“.

Und noch etwas spricht für das Ehrenamt. Mit einem Augenzwinkern erklärte Wouters, dass dies eine perfekte Singlebörse sei „und eine gute Möglichkeit sich an einem Ort zu verankern“. Reckzeh wusste sogar von einer Studie, die ehrenamtlich Tätigen attestiert im Durchschnitt, „fünf Jahre besser zu leben“.

"Ehrenamt muss man sich leisten können"

Petra Reiter hat ihre Ehrenämter seit dem ihr Mann Oberbürgermeister von München ist, intensivieren können. „Nicht nur sprechen, sondern tun", lautet ihr Motto. Sie engagiert sich bei den Bunten Münchner Kindln, die bedürftige Schüler mit Schulmaterial ausstatten. Und einen großen Teil ihrer Freizeit verbringt sie in der Hospizarbeit. "Es geht nicht nur um traurige Zeiten, man bekommt in der Hospizarbeit unwahrscheinlich viel Freude zurück", so Reiter. Das kann Wouters auch von ihrem Ehrenamt sagen. Sie hat die Patenschaft für einen jungen Flüchtling übernommen, “und ich bin froh, dass ich es gemacht habe.“

Ist Ehrenamt etwas für Privilegierte und könnte man mit Geld das Ehrenamt fördern? „Ehrenamt muss man sich leisten können“, gab Lotte zu. Wer neben seinem Beruf noch Nebenjobs machen muss, um über die Runden zu kommen, hat keine Zeit oder ist zu erschöpft, um sich zu engagieren. „Geld im Ehrenamt würde aber zur Konkurrenz zwischen normalem Job und Ehrenamt führen“. Außerdem würden viele Ehrenamtliche ihre Freiheit schätzen und deswegen gerne auf Bezahlung verzichten. Wouters fasste es in Worte: „Es gibt nicht nur die Ökonomie der Gewinnmaximierung, sondern auch eine Ökonomie des Schenkens“ und Haas ergänzte: „Wenn ich etwas dafür bezahlt bekomme, dann ist das der Lohn für etwas. Dann ist das abgegolten“. Einig war sich die Tischrunde aber, dass es Wertschätzung für ehrenamtliche Arbeit geben müsse. Das könnten Vergünstigungen, Einladungen oder das Angebot von Fortbildungen sein. „Wir vom Landtag machen einmal pro Jahr ein großes bürgerschaftliches Event auf Schloss Schleißheim“, erzählte Lotte. Empfänge für Ehrenamtliche gibt es auch in Germering. Und dann gibt es im Umland noch die Ehrenamtskarte, mit der man beispielsweise kostenlos ins Museum kann als Wertschätzung für Ehrenamtliche. In München gibt es mit „München dankt“ ein ähnliches Modell. Die Ehrenamtskarte soll ebenfalls bald in München ausgegeben werden, "das ist längst überfällig“, so Reiter.

Was ist Ehrenamt und wo ist die Grenze zum Beruf?

Genau definiert ist dies in Deutschland nicht. „Wir haben kein Ehrenamtsgesetz wie in Italien oder Frankreich“, bedauerte Wouters. Dort seien Aufgaben und Grenzen im Ehrenamt genau definiert. In Deutschland ist die Versuchung groß, dass Ehrenamtliche als Lückenfüller herhalten müssen, um beispielsweise in der Pflege Defizite auszugleichen. Wouters berichtete davon, dass sich im Sozialreferat eine Arbeitsgruppe mit der Thematik befasse. „Ich begrüße das sehr“, erwiderte Reiter. In einigen Organisationen würden Ehrenamtliche für ihren Einsatz bezahlt werden, vor allem wenn es einen Facharbeitermangel gebe. Die Folge sei, dass diese „Bezahlkräfte“ nicht in den normalen Arbeitsmarkt integriert werden.

Zustimmung am Tisch: Der Mangel an Pflegekräften müsse anders gelöst werden. „Ehrenamt ist lediglich ein Mehr an Menschlichkeit“, sagte Haas. Das seien zum Beispiel die Schüler, die mit Senioren im Park spazieren gehen. „Die Grundpflege übernehmen andere“. Bei der Feuerwehr und im Rettungswesen wurden deswegen verschiedene Aufgaben längst an Hauptamtliche delegiert. „Die Aufgaben sind so mit Vorschriften überlastet, das ist schon ein Beruf. Hier stößt Ehrenamt an die Grenze, was es leisten kann“, so Wouters und Haas berichtet von den Germeringer Feuerwehren, die deswegen einen hauptamtlichen Gerätewart bekommen haben.

Ehrenamt funktioniere nur mit einem Hauptamt, war eine andere Erkenntnis beim Sommergespräch. Reckzeh versicherte, dass Ehrenamt ein verlässlich abrufbares Hauptamt brauche. Dem stimmte Haas zu: „Die Aufgabe einer Kommune ist es, die Strukturen zu schaffen, damit das Ehrenamt funktionieren kann. Da gehört Organisation dazu, Angebote der Weiterbildung, Stressmanagement und Supervision. Da braucht es auch Hauptamtliche die Aufgaben übernehmen, die Ehrenamtliche nicht übernehmen können oder mögen".

Zum Beispiel "Verwaltungsaufgaben", ergänzte Reckzeh: „all das Zeug, was ein ehrenamtlicher Vorstand auch noch machen muss und was einem manchmal wirklich die Arbeit verleidet“.

Hier konnte Giehl ein konkretes Beispiel aus der letzten Organisation des Haderner Dorffestes beisteuern. „Es war der Wahnsinn. Auflagen, über Auflagen, über Auflagen“. Auf der Wiese vor dem Festzelt wollte er eine Hüpfburg aufstellen ,“das wurde nicht genehmigt, weil es eine Langgraswiese ist. Wenn auf der etwas steht, geht sie kaputt“. Allerdings sei die Wiese bisher regelmäßig gemäht worden, „erst seit dem ich angefragt habe, wird sie nicht mehr gemäht“, hat Giehl beobachtet. „Jedes Mal fällt denen wieder etwas Neues ein“, seufzte er. „Natürlich stimmt der Eindruck so“, sagte Haas, auch in Germering stöhnten die Ehrenamtlichen über Auflagen. „Aber wenn etwas passiert, kommt unweigerlich der Vorwurf, wie hat es dazu kommen können“.

Ähnliches beim Thema Datenschutzgrundverordnung, die Ehrenamtliche sehr verunsichert. „Wir haben uns alle darüber aufgeregt, was mit unseren Daten passiert. Aber so wollten wir es auch wieder nicht“, sagte Haas. Für Lotte ist die neue Verordnung nur halb so schlimm; „Da ist viel Unwissenheit dabei“. Es gebe in Bayern eine extra Beratungsstelle für Vereine. „Ich habe die selbst getestet, die geben kompetent und schnell Auskunft“.

Weder "brav" noch Helfersyndrom

Mit dem Begriff „Ehrenamt“ zeigte sich die Biergartenrunde nicht einverstanden. Dem hafte ein Gefühl von Aufopferung, von Bravheit und Helfersyndrom an. Ehrenamtliche seien heute auch unabhängig und eigensinnig, sie können frech und fordernd sein und sich wie vor kurzem für ihre Forderungen in der Flüchtlingspolitik bei einer Demonstration politisch engagieren. „Das Besondere an dieser Veranstaltung war, dass es eine Initiative aus dem Ehrenamt heraus gewesen ist. Daran sieht man, dass alles Politik ist, was wir im Ehrenamt machen, dass es auch eine Chance ist, die Gesellschaft zu verändern“, so Lotte. Reiter stimmte zu: „Dadurch, dass man sich engagiert und die Gesellschaft verbessern will, sehe ich jeden Ehrenamtlichen auch als politisch Tätigen an, auch wenn er kein Parteibuch hat“.

Am Schluss gab es zwei Alternativen zum Wort „Ehrenamt“. Wouters schlug den Begriff „am Gemeinwohl orientierte Tätigkeit“ als Alternative vor. Haas gefiel „bürgerschaftliches Engagement“.

 

Unsere Sommer-Frage

Welches Ehrenamt würden Sie gerne einmal übernehmen? Unsere Gäste antworten:

Sebastian Giehl: Ich habe bereits mehrere Ehrenämter, aber ich bin offen für alles und hätte schon Lust mal woanders reinzuschnuppern.

Andreas Haas: Ich würde meine Fähigkeiten mit Menschen reden und zuhören einbringen und da ich einen Hang zur Gastronomie habe, könnte ich mir vorstellen in unserem Café Zenja im Mehrgenerationenhaus, die zu bedienen, die sich ehrenamtlich engagieren.

Andreas Lotte: Ich habe mein ideales Ehrenamt schon gefunden. Mir ist es wichtig ein Ehrenamt zu machen, wo ich Leuten konkret helfen kann und auch konkret etwas bewirken kann,

Verena Reckzeh: Nächstes Jahr bin ich in Rente und dann plane ich wieder so wie früher als ehrenamtliche Hospizbegleiterin tätig zu sein.

Petra Reiter: Die Bunten Münchner Kindl packen in den Ferien gut 1.500 Schulranzen. Da wäre es für mich naheliegend, dass ich mithelfen kann als Schulweghelferin die vielen Kinder, die wir ausgestattet haben, über die Straße zu bringen.

Gerlinde Wouters: Ich könnte später als Ehrenamtliche bei der Freiwilligenmesse weiter arbeiten oder aber alte Menschen, die alleine sind, besuchen.

 

Unsere Gäste

Sebastian Giehl (TSV München-Großhadern und Haderns Dorffest-Wirt)

Andreas Haas (Oberbürgermeister Große Kreisstadt Germering)

Andreas Lotte (Landtagsabgeordneter SPD)

Verena Reckzeh (stv. Sprecherin der ARGE Hospiz - Bündnis für ambulante Hospiz - und Palliativarbeit im Landkreis München)

Petra Reiter (Stiftung Bunte Münchner Kindl)

Gerlinde Wouters (FöBE, Förderstelle Bürgerschaftliches Engagement)

 

Unsere Zeit und wir

Ehrenamtliche schenken Zeit, Kinder brauchen Zeit und Erwachsenen fehlt sie häufig: Unser redaktionelles Schwerpunktthema 2018 mit vielen Beiträgen dazu ist „Zeit“. Auch alle unsere Sommergespräche beschäftigen sich mit einem Aspekt der Zeit. Dieses  Gespräch über das Ehrenamt fußt auf dem Sprichwort „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde."

Alle unsere Gespräche

Lesen Sie hier alle unsere Sommergespräche:

"Mit Verständnis füreinander“

Wann machen Veränderungen Angst?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2599)

 

"Geil, krass, super!"

Wie wählen wir Worte?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2586)

 

„Eine Entschuldigung ist keine leere Floskel“

Wie gelingt Versöhnung?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2587)

 

"Wir bedeutet füreinander da zu sein"

Wer ist "Wir"?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2588)

 

„Zuhören verbindet!“

Nehmen wir uns Zeit zum Zuhören?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2589)

 

"Zur Kreativität gehört Leerlauf"

Lassen wir Kindern genug Zeit zum Kindsein?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2593)

 

„Alle Generationen mitnehmen“

Wie werden wir älter?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2590)

 

„Fehler gehören dazu“

Wie treffen wir Entscheidungen?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2592)

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