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„Eine Entschuldigung ist keine leere Floskel“

Versöhnung setzt mehrere Dinge voraus - und gibt Kraft

Wie gelingt Versöhnung? (Bild: colourbox.com)

Streit, Kränkung, Konflikte: Nicht nur innerhalb der Familie, auch im Arbeitsverhältnis, in Freundschaften oder im Bekanntenkreis können Probleme so stark anwachsen, dass eine Versöhnung schwer fällt. Wer streitet, will Recht haben. Nur: Die Feststellung, wer im Recht ist, genügt nicht, um Konflikte aufzulösen. Gerechtigkeit (wieder)herstellen allein heilt keine Verletzungen. Ulrike Bauer weiß, dass dies auch im Schulleben schwierig ist: „Nicht nur Schüler stehen sich unversöhnlich gegenüber, sondern auch Eltern, die meist das größere Problem sind“, sagt die Rektorin der Grundschule an der Plinganserstraße.

Von Kindern lernen

Die Schule in Sendling wird von rund 400 Kindern aus über 40 Ländern besucht. „Das birgt natürlich Konflikte“, so Ulrike Bauer weiter. „Ich finde diese kulturelle Mischung aber auch sehr wertvoll. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass wir von den Schülern am besten lernen können, wie Versöhnung funktioniert.“ Denn bei Kindern, so weiß die Schulleiterin, dauern Konflikte meist nie lange. „Sie versöhnen und verzeihen sich anders. Das ist eine Chance auch für Erwachsene, weil oft die Eltern die Sache verkomplizieren. Und damit wiederum tun sich meist die Kinder, die sich eigentlich wieder verstehen, schwer.“

Dies sieht Nele Kreuzer ähnlich: „In meiner Arbeit habe ich mit ganz unversöhnlichen Eltern zu tun, zum Beispiel Vater und Mutter, die gemeinsame Kinder haben, aber getrennt sind und im Streit leben“, betont die Familientherapeutin. „Ich stelle immer wieder fest, dass es den Menschen sehr schwer fällt, zu verzeihen. Sie wissen gar nicht, welch unfassbare Kraft eine Entschuldigung haben kann.“ Für Nele Kreuzer besteht eine Entschuldigung aus drei Komponenten: echter Reue, Empathie sowie einer überzeugenden Erklärung. „Eine Verzeihung anzunehmen macht ein großes, weiches und warmes Herz. Die Leute merken gar nicht, dass sie sich ansonsten selbst in ihrer Entwicklung behindern.“

Eine Entschuldigung sei keine leere Floskel. „Das sagt ja allein schon das Wort Entschuldigung“, erklärt Kaitia Frey, Pfarrerin der ev. Adventskirche Aubing „Ich habe praktisch eine Schuld auf mich geladen und muss sie wieder entladen. Dabei geht es nicht nur darum, dass ich diese Schuld mit der richtigen Einstellung von mir nehme. Denn der andere muss dieses Entschulden auch gewähren. Eine Vergebung ist immer etwas Zweiseitiges. Nur wenn beide das machen, kann es funktionieren.“

„Täter sprechen sich oft selbst von der Schuld frei“

Für Arno Helfrich stellt sich das Thema etwas anders dar. Der Kriminalrat ist seit 15 Jahren Leiter der Prävention und des Opferschutzes im Polizeipräsidium München. „Im Bereich der häuslichen Gewalt hat das Ganze eine andere Bedeutung, denn wenn sich ein Täter entschuldigt, spricht er sich selbst der Schuld frei, würde ich im übertragenen Sinne sagen. Oft erleben wir es, dass die Täter sagen, das Opfer sei selbst schuld. Das Wort Schuld steht hier in einem ganz anderen Zusammenhang.“ Gerade im Bereich der häuslichen Gewalt komme dies sehr oft vor. „Damit haben wir im Grunde täglich zu tun. Das erleben wir rein polizeilich gesehen über 3.000 Mal pro Jahr in München. Doch wahrscheinlich ist die Zahl viel höher.“ In diesem Bereich sei es grundsätzlich schwierig, über Versöhnung zu sprechen, meint der Polizist.

„Kinder erkennen Emotionen nicht“

Eine Versöhnung setzt immer einen Streit voraus. Das ist auch in Unternehmen nicht anders – sei es unter Kollegen oder in der Führungsebene. Volker Schlehe betreut das Schiedsgericht sowie das Mediationszentrum der IHK und weiß, wovon er spricht: „Die Mediation ist ein sehr flexibles Verfahren. Wir gehen mit einem Mediator, der sich in der jeweiligen Branche auskennt, oft auch den psychologischen Ansatz an, egal ob in innerbetrieblichen Situationen oder bei der Unternehmensnachfolge“, erzählt der Jurist. „Oft geht es ja gar nicht mehr um die Frage, wer eigentlich Recht hat. Wir versuchen eine möglichst schnelle und zukunftsfähige Lösung zu finden, ohne dass man sich durch die verschiedenen gerichtlichen Instanzen kämpfen muss.“

Ulrike Bauer ist in der Schule und in ihrer Arbeit mit den Kindern noch etwas ganz anderes aufgefallen: „Die Kinder können heutzutage Regungen und Emotionen ihrer Mitmenschen gar nicht mehr richtig wahrnehmen“, erzählt die Rektorin. „Das ist erschreckend. Wir müssen den Kindern teilweise Bilder geben, damit sie Gesichtsausdrücke deuten können.“ In diesem Bereich müsse das Kollegium viel Arbeit leiten. „Wenn ich Emotionen nicht erkenne und auch meine eigenen nicht wirklich ausdrücken beziehungsweise auf andere reagieren kann, fällt es schwer, sich schlussendlich wieder zu versöhnen.“

„Oft bleibt nicht die Zeit“

Das sieht auch Arno Helfrich so: „Dass Eltern oft abgelenkt und mich sich selbst beschäftigt sind, führt zu einem Verlust bei den Kindern. Das muss dann auf einem anderen Weg wieder eingeholt werden, sei es im Kindergarten oder der Schule. Das Phänomen der Helikoptereltern verunsichert die Kinder – und dann kommen noch die neuen Medien dazu.“ Und Volker Schlehe ergänzt: „Durch die vielen Ablenkungen, die auch die Kinder erfahren, sinkt ihre Konzentrationsfähigkeit. Oft bleibt gar nicht die Zeit, über etwas nachzudenken und sich um einen Konflikt zu kümmern.“

„Vorbild für unsere Kinder“

Daran sei meist die Bindungslosigkeit der Eltern schuld, mein Nele Kreuzer. „Es gibt definitiv einen Rückgang an Gefühlen, die gezeigt werden – oder eben nicht. Leider sind Bescheidenheit und Demut bei unseren Kindern unglaubliche Fremdwörter geworden. Das Klima wird rauer und kühler“, so die Diplom-Sozialpädagogin. Das möchte Arno Helfrich so nicht stehen lassen: „Mir ist das zu schwarz gemalt, denn ich denke, dass der Großteil unserer Gesellschaft sehr gut funktioniert“, erklärt der Polizist. „Wir haben es doch selbst in der Hand, wie wir miteinander umgehen. Damit können wir doch gleichzeitig auch ein gutes Vorbild für unsere Kinder sein.“

Wenn Ungesagtes nicht mehr gesagt werden kann

Auch wenn es um den Tod geht, steht oft etwas Unversöhnliches im Raum. „Ich stolpere über das Thema Versöhnung immer bei Beerdigungen, weil letzte Worte nicht oder weil die falschen Worten gesagt wurden“, erzählt Kaitia Frey. „Da stellt sich für die Hinterbliebenen tatsächlich immer auch die Frage nach der Schuld, die sie mit sich tragen und dem Umgang damit.“ Vor Beerdigungen führe sie mit den Angehörigen immer ein Gespräch, in dem in der Regel nur Gutes über den Verstorbenen gesagt werde. „Dass dieser Mensch vielleicht aber irgendwo angeeckt ist, Probleme hatte oder auch Probleme gemacht hat, das erfahre ich gar nicht“, so die Pfarrerin. „In der Trauergemeinde sind aber oft auch Leute, bei denen noch etwas offen geblieben ist. Und sie hören dann in der Predigt nur, wie toll und gut der Mensch war.“

Direkt im Anschluss an die Predigt komme der liturgische Abschied „und da ist eine Formel drin, die für mich ganz besonders wichtig ist. Sie lautet: ‚Wer ihm etwas schuldig geblieben ist, an Liebe, in Worten oder Taten, der bitte Gott um Vergebung. Und wem er etwas schuldig geblieben ist, dem verzeihe er, so wie Gott uns vergibt, wenn wir ihn darum bitten.‘ Die Vergebung zwischen einem Toten und einem Lebenden sei nicht mehr möglich, aber mit Gott gebe es eine dritte Komponente. „Diese Vergebung, die man mit Gott ausmacht ist wichtig, weil man weiß, dass sie einem gewährt wird. So können auch die Menschen Abschied nehmen, die unversöhnlich waren“, meint Kaitia Frey.

 

Unsere Sommer-Frage

Welche „Wunden“ kann Zeit in Ihren Augen heilen? Unsere Gäste antworten:

Ulrike Bauer: „Wunden können nicht geheilt, aber erträglicher gemacht werden.“

Kaitia Frey: „Zeit kann grundsätzlich keine Wunden heilen. Das Ganze setzt einen passiven Prozess voraus, doch Versöhnung und Vergebung sind aktive Prozesse.“

Arno Helfrich: „Die Zeit kann keine Wunden heilen. Es bleiben immer Narben übrig. Vielleicht ist es möglich, etwas zu vergessen. Aber es wird immer Orte, Gerüche oder Geräusche geben, die alte Wunden wieder deutlich machen.“

Nele Kreuzer: „Zeit heilt die Wunden, die angeschaut, betrauert und verziehen werden. Nur wenn Wunden gesehen und belüftet werden, können sie auch heilen.“

Volker Schlehe: „Kleine Wunden kann die Zeit heilen. Große Wunden sollten professionell versorgt werden und dafür sollte man sich Hilfe holen.“

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Ulrike Bauer (Schulleiterin Plinganserschule Sendling)

Kaitia Frey (Pfarrerin ev.-luth. Adventskirche Aubing)

Arno Helfrich (Kriminalrat im Polizeipräsidium München, Leiter Prävention und Opferschutz)

Nele Kreuzer (Dipl.Sozpäd. / Familientherapeutin in der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche für Region Laim, Schwanthalerhöhe, Blumenau, Kleinhadern)

Volker Schlehe (IHK für München und Oberbayern, Referatsleiter im Bereich Recht & Steuern)

 

Unsere Zeit und wir

Ehrenamtliche schenken Zeit, Kinder brauchen Zeit und Erwachsenen fehlt sie häufig: Unser redaktionelles Schwerpunktthema 2018 mit vielen Beiträgen dazu ist „Zeit“. Auch alle unsere Sommergespräche beschäftigen sich mit einem Aspekt der Zeit: „ Die Zeit heilt alle Wunden “, sagt man bei uns. Stimmt das?

Alle unsere Gespräche

Lesen Sie hier alle unsere Sommergespräche:

"Mit Verständnis füreinander“

Wann machen Veränderungen Angst?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2599)

 

"Geil, krass, super!"

Wie wählen wir Worte?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2586)

 

"Wir bedeutet füreinander da zu sein"

Wer ist "Wir"?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2588)

 

„Zuhören verbindet!“

Nehmen wir uns Zeit zum Zuhören?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2589)

 

"Zur Kreativität gehört Leerlauf"

Lassen wir Kindern genug Zeit zum Kindsein?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2593)

 

„Alle Generationen mitnehmen“

Wie werden wir älter?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2590)

 

"Man gibt etwas und bekommt viel zurück"

Warum übernehmen Menschen Ehrenämter?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2591)

 

„Fehler gehören dazu“

Wie treffen wir Entscheidungen?

www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2592)

 

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