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Vertriebene und Flüchtlinge

Stadtteilhistoriker Dr. Walter Demmel berichtet über Schicksale der Nachkriegszeit

Bild 1: Flüchtlingsausweis (Bild: Archiv Demmel)

„ Ich glaube nicht, daß für irgendetwas die Zeit vergeht, alles ist da und wartet darauf, daß man es zurückholt. Außerdem erzählen alle gerne ihre Geschichte, selbst die, die keine haben“ (Javier Marias). Viele haben aber eine und die erzählten mir ihre Flüchtlings- und Fluchterlebnisse.

Auch ich, Altbayer von Geburt, war ein Vertriebener oder amtlich auch Flüchtling. Mein Vater mußte 1940 als Zollbeamter von Frauenau (Ndb.) mit seiner Familie und den Möbeln in das deutschbesetzte Gebiet Belgiens gehen. 1942 kam ich in die Schule, hatte mich dort schnell eingelebt und eine Menge belgischer Freunde. Aber schon im September 1944 wurden wir aufgefordert, schnellstens unsere Sachen zusammenzupacken und umgehend ins Reich zu flüchten, weil die im Juni des Jahres gelandeten Alliierten heranrückten.

Mit einem Koffer und zwei Rucksäcken, einen davon durfte ich tragen, wollten meine Mutter und ich – mein Vater war beim Militär – uns in Richtung Bayern durchschlagen. Nach einigen Zwischenstationen in Reichertshofen b. Ingolstadt und Aschau b. Kraiburg (Heimatort meines Vaters, aber dort zwangseinquartiert!) landeten wir, wieder zusammen mit meinem Vater, 1947 in Ering/Inn (Ndb.). Wir hatten uns eine billige Wohnung in einer Dorfbäckerei gemietet und waren als Bayern schnell in die Dorfgemeinschaft aufgenommen oder, wie man heute sagt, integriert worden. Den obigen Flüchtlingsausweis B (Bild 1) erhielten wir allerdings erst 1949. Unser Merkmal: Eine Flucht aus der dienstlich aufgezwungenen Fremde in die bayerische Heimat.

Der Normalfall war aber Flucht und Vertreibung aus der angestammten Heimat in die Fremde. Zur Erinnerung einige Informationen aus einem Bericht der Tageszeitung „Die Welt“: Ca. 700.000 Flüchtlinge vor der Roten Armee und aus Mittel- und Osteuropa kamen zwischen 1944 und 1945 nach Bayern, 1946 folgten nochmals ca. 800.000. Nimmt man die Jahre bis 1950 dazu, nahm Bayern rund 1,5 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge auf, was einen Bevölkerungszuwachs von knapp 30 % bedeutete (Bild 2). Zum Vergleich: In den Jahren 2014 und 2015 meldeten sich im Jahr 2014 nachgewiesene 26.000 Asylbewerber, bis Ende des Jahres 2015 wurden Bayern ca. 60.000 zugewiesen. Bayern hat heute etwa 12,5 Millionen Einwohner.

Die erwähnte Massenflucht und Vertreibung traf unser Nachkriegsbayern schwer, weil viele Städte durch die Luftangriffe der Alliierten erheblich in Mitleidenschaft gezogen waren, die Wirtschaft darniederlag und die Versorgung der eigenen Bevölkerung im Wesentlichen nur auf dem Land funktionierte. Da es für die Flüchtlinge, die ja alle deutschsprachig waren, nicht genügend Platz gab, waren Wohnungsbeschlagnahme, Einquartierung und weitere Zwangsmaßnahmen an der Tagesordnung und machten natürlich böses Blut bei den Einheimischen. Die Vertriebenen erhielten Lastenausgleich, die Einheimischen, die auch wirtschaftliche Schäden erlitten hatten, mußten langfristig zahlen. Viele Zeitzeugen der alten Generation in Allach und Untermenzing konnten dies bestätigen und erzählten von Einquartierungen in Wohnungen, Häuser und Bauernhöfe. Trotz der katastrophalen Voraussetzungen in den Nachkriegsjahren kann man die mit den Jahren gelungene Integration der weitgehend protestantischen Ankömmlinge aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands und des Balkans (Donauschwaben) als bayerische Erfolgsgeschichte verbuchen. Die Heimatvertriebenen wurden im Laufe der Jahrzehnte sogar zum „vierten bayerischen Stamm“. Wie viel länger wird wohl die viel kompliziertere Integration der heutigen Flüchtlinge dauern?

Der Text der nebenstehnden zeitgenössischen Karikatur der 50er Jahre lautet: „Im Durchgangslager: Allmählich wird ja die Überfremdung beängstigend, Fräulein Müller – wieder lauter Protestanten unter den Neuzugängen heute“ (Bild 3). Sie alle kamen also in Scharen aus dem Nord- bis Südosten und waren verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Die meisten mußten auf dem Land bleiben, andere schafften es bis nach München, wo vor allem Allach zum zentralen Umsteigebahnhof geworden war. Leider war dazu bis jetzt kein Foto des damaligen Bahnhofs aufzuspüren. Aber auch in der Grenzstadt Passau strömten besonders viele Heimatlose zusammen. 28.000 Flüchtlinge wurden drei Monate nach Kriegsende registriert. In der ehemaligen Passauer Somme-Kaserne quartierten rund 2.000 deutschstämmige Flüchtlinge auf engstem Raum: 200 Menschen teilten sich fünf Klosetts, drei und mehr ein Bett. Die Tagesration eines Erwachsenen betrug nach einem Bericht des BR drei Scheiben Schwarzbrot, 0,25 Liter dünner Kaffee, 0,5 Liter Suppe mit einigen Rübenschnitzeln und 0,25 Liter Kräutertee. Über die heutige Situation wird täglich umfangreich in unseren Medien berichtet, und durchaus unterschiedlich.

Schon vor Jahren wurde mir erzählt, dass im Haus des ehemaligen Feinkostgeschäfts Ziegler in der Vesaliusstr. 31 im Jahr 1947 eine Familie Berger einquartiert war, die 1944 aus Cottbus vor den Russen hatte fliehen müssen und vorübergehend in der Eversbuschstraße gewohnt hatte. Berger hatte damals nichts mehr, aber er konnte etwas! Bei Karl Berger handelt es sich um den bei Diamalt vor Kriegsbeginn ausgebildeten Bonbonmeister und späteren Gründer der Süßwarenfabrik Kalfany hinter Krauss-Maffei. Bei der Süßwarenfabrik handelte es sich um die Gebäude auf dem Gelände der ehemaligen Porzellan Manufaktur Allach in der vormaligen Lindenstr. 8, heute Reinhard-von-Frank-Str. 8. Karl Berger (Bild 4) war während seiner Zeit bei der Diamalt AG in Allach bereits wohnhaft und in seinem Umkreis gut bekannt. Auch er ein Flüchtling? Er floh mit seiner Frau Fanny unter Verlust seines Eigentums in Cottbus in seine „Heimat Allach“, war aber von Geburt ein Österreicher. Das Foto zeigt ihn auf einem Betriebsausflug seiner Firma. Sein Sohn Erhard heiratete später eine Untermenzinger Flüchtlingstochter aus Schlesien, Christa Kleiber, die mit ihren Eltern in der Angerloh-Siedlung wohnte. Ein Zeitzeuge, der sich bei mir meldete, kannte sie noch als Mitbewohnerin.

Da ich bei meinen Umfragen viele für meine Leser interessante Einzelschicksale von Allacher und Untermenzinger Flüchtlingen erfahren habe, entschloss ich mich, in einer weiteren Folge über diese und deren Fluchtprobleme zu berichten.

Zum Abschluss noch der Hinweis auf eine schicksalhafte Begegnung, deren Kenntnis ich informierten Mitbürgern zu verdanken habe. Otto von Habsburg (1912-2011) war 1950 auf Bitten ungarischer Flüchtlinge auch in das Allacher Lager III gekommen, an das der Gedenkstein (Bild 6) erinnern soll , und lernte dort als spontaner Dolmetscher seine spätere Frau, die junge Frau von Sachsen-Meiningen und Hildburghausen kennen, die im Flüchtlingsspital bedürftige Ungarn betreute. Der Text der Erinnerungstafel auf dem Stein lautet: „Auf diesem Gelände stand das Lager III. 1300 französische Gefangene des 2. Weltkrieges waren darin untergebracht. Nach 1945 fanden in den Holzbaracken ca. 1500 Vertriebene und Flüchtlinge aus den damaligen deutschen Ostgebieten für viele Jahre eine Bleibe. Der Stein soll an alle erinnern, die hier lebten, litten und hofften.“

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