"Ich fühle mich nicht mehr repräsentiert"
Beim Nichtwählerstammtisch diskutieren Politiker mit den Lesern über die Wahlverdrossenheit
Man stelle sich vor, es ist Wahl und keiner geht hin. In knapp eineinhalb Woche findet in Bayern die Landtagswahl, eine Woche später die Bundestagswahl statt. Viele Bürger haben sich jedoch dazu entschieden, nicht zum Wählen zu gehen – zumindest wenn man den jüngsten Umfragen glaubt. Demnach wünschen sich die Menschen eine bessere Vermittlung von Politik. Viele glauben zudem nicht daran, dass Politik für sie und ihre Angelegenheiten gemacht wird. Im Rahmen unserer Sommergespräche im Hirschgarten haben Leser der Münchner Wochenanzeiger, die nicht wählen gehen, und Politiker gemeinsam über die Wahlverdrossenheit diskutiert.
Münchner Wochenanzeiger: Welche Motive haben Sie, der Wahlurne fernzubleiben?
Helmut Huber: Ich habe mich dazu entschlossen, zum ersten Mal in meinem Leben nicht zu wählen. Anders gesagt: Ich werde zur Wahl gehen, aber ungültig wählen. Mein Hauptgrund ist, dass ich in den Programmen der großen Parteien kein Wort darüber finde, wie die enorme Staatsverschuldung bewerkstelligt werden soll. Im Gegenteil, es sollen immer soziale Wohltaten verteilt werden. Das Ganze kann nur mit weiteren Schulden gemacht werden, trotz höchster Steuereinnahmen. Das finde ich gegenüber dem Steuerzahler unverschämt.
Hedy Dries: Nennen Sie mir einen Grund, warum ich Sie in meiner Position – ich bin Erzieherin und Mediatorin – wählen sollte? Ich spreche hier auch für meine Kolleginnen. Das hat alles mit schlechter Bezahlung, mit Qualitätsabfall, mit extremen Arbeitsbedingungen zu tun und ist einfach nicht mehr vertretbar.
Dieter Wagner: Ob ich zu den Wahlen gehe, weiß ich noch nicht. Ich habe bis jetzt immer gewählt. Aber wie kann man die soziale Gerechtigkeit verstärken? Mich nervt, dass man immer nur hört: Bildung, Bildung, Bildung, mehr Studenten und was auch immer. Aber es wäre auch notwendig, dass man zum Beispiel das Handwerk oder andere Berufe stärkt, weil das Geld irgendwo wieder reinkommen muss.
Erika Osterholzer: Ich bin seit Jahren Nichtwähler, weil ich mich nicht mal mehr im Groben durch irgendeine Partei repräsentiert fühle. Es werden irgendwelche Wahlversprechungen gemacht, die dann nach den Koalitionsverhandlungen ins Gegenteil verkehrt werden. Die Parteien unterscheiden sich nur noch in Nuancen. Alle sind sich darüber einig, wie sie am besten unser erarbeitetes Geld in der Welt verteilen. Die ganze Eurorettung ist ein Fass ohne Boden. Nach Salamitaktik kommt stückchenweise die Wahrheit ans Licht. Die Milliardäre in Griechenland können sich weiterhin geschützt auf ihre Yacht zurückziehen, Steuern werden kaum erhoben. Es wird auch nicht darauf gedrängt, dass ein funktionierendes Gemein-, Sozial- und Finanzwesen aufgebaut wird. Es wird immer nur verlangt, dass Deutschland Solidarität übt und zahlt.
Hannelore Schmidtke: Ich fühle mich nicht mehr repräsentiert. Für mich hat die Politik jegliche Bürgernähe verloren. Es wird von Seiten der Politik überhaupt kein Thema erklärt. Zudem gehen Politiker mit schlechtem Beispiel voran. Ich musste jedes Jahr zweimal eine Compliance-Schulung machen, damit ich nicht für acht Euro von einem Kunden irgendetwas entgegen nehme. Und bei den Politikern gibt es in dieser Hinsicht fast jede Woche einen Eklat. Das ist für mich unerträglich. Für mich ist die Politik zu einer Marionette des Lobbyismus, der Industrie und der Banker geworden. Ich fühle mich schlecht vertreten und habe das Gefühl, dass jeder Politiker egoistisch vor sich hinarbeitet.
Können Sie als Politiker die Argumente der Bürger nachvollziehen?
Florian von Brunn (SPD): Ich kann die Kritik an der Politik gut nachvollziehen, weil es mir teilweise selber so geht. Die Ergebnisse der Wirtschaft und auch das, was die Politik verspricht, kommen nicht mehr bei den Menschen an. Wir haben zwar Wirtschaftswachstum, aber die soziale Schere geht immer weiter auseinander. Die Reallöhne und die Einkommen bleiben zurück, während weiter oben Einkommen und Vermögen wachsen. Die Bürger fragen sich natürlich, ob die Politiker etwas für die Menschen tun oder ob sie mehr mit sich selbst beschäftigt sind. Das nehme ich sehr ernst. Die Skandale in der letzten Zeit sind furchtbar und ich teile die Kritik am Lobbyismus. Wir haben eine zu starke Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik. Wir sollten darüber nachdenken, von juristischen Personen als Unternehmen Spenden entgegen zu nehmen. In diesem Zusammenhang bin ich von den Freien Wähler sehr beeindruckt, muss ich zugeben. Das ist ein Vorbild für alle Parteien.
Michael Piazolo (Freie Wähler): Vieles an der Kritik der Nichtwähler ist richtig. Ich bin jetzt fünf Jahre im Landtag und mein Eindruck ist, dass sich die meisten meiner Landtagskollegen für die Bürger einsetzen und versuchen, gute Arbeit zu leisten. Ob das von den Bürgern so gesehen wird, ist eine andere Frage. Natürlich gibt es viele Krisen, gerade jetzt die Verwandtenaffäre, die ich sehr bedauere. Ich bin der Auffassung, dass man hier sehr klare Regeln finden muss. Das ist ein Verschulden der Politik. Aber ich bin immer vorsichtig bei Pauschalkritik. Ich glaube bei einem Thema wie der Eurorettung ist vieles nicht erklärt worden – übrigens auch nicht im Landtag. Wir haben zu diesem Thema keine einzige Regierungserklärung gehört.
Herr Ritter, Sie sind bereits seit 2003 im Landtag. Wie ist Ihre Einschätzung des Ganzen?
Florian Ritter (SPD): Die Argumente der Bürger haben wir auch schon vor zehn Jahren diskutiert. Das ist zum einen eine schlechte Entwicklung, weil man den Eindruck hat, dass viele Leute nach wie vor das Gefühl haben, dass sich die Politik von den Bürgern wegbewegt. Vielleicht hat sich dieses Gefühl sogar noch verstärkt. Zum anderen ist es aber eine notwendige Diskussion, die wir führen müssen – und zwar nicht nur im Vorfeld von Wahlen. Ich kenne keinen Politiker, der sich einer Debatte mit Bürgern nicht stellen würde. Die meisten von uns haben Büros, die für Anfragen von Bürgern offen sind. Ich kann nachvollziehen, dass viele Dinge – gerade bei komplexen Themen wie der Eurorettung – für viele Leute nicht nachvollziehbar sind. Ich würde die Bürger deshalb bitten, mehr auf die Politiker zuzugehen und von ihnen zu verlangen, dass sie über die Berichterstattung in den Medien hinaus, ihre Position zum Beispiel zur Eurorettung erklären.
Daniel Föst (FDP): Wir alle – Nichtwähler, Wähler und Politiker – müssen akzeptieren, dass Demokratie nicht das einfachste aller Systeme ist. Es entscheidet die Mehrheit, es entscheidet keiner alleine. Dieser Entscheidungsprozess führt zu Kompromissen und ohne Kompromisse lassen sich weder Bayern, Deutschland oder Europa führen. Fakt ist, dass Politiker in vielen Dingen für die Bürger ansprechbar sind. Ich habe bei keinem Politiker bisher erlebt, dass er völlig ignorant ist. Wir versuchen unser Möglichstes, dass das, was Bürgern an einen herantragen, umgesetzt wird. Politik ist ein Konsensprozess. Keine Partei ist deckungsgleich mit den persönlichen Überzeugungen. Auch ich bin nicht 100 Prozent einer Meinung mit der FDP.
Herr Thalhammer, Sie sind mit 34 Jahren der jüngste Abgeordnete im Bayerischen Landtag. Was ist Ihre Meinung?
Tobias Thalhammer (FDP): Politiker haben alle eine Eigenschaft: Sie reden umso mehr und sagen umso weniger. Im Grunde sind wir beide – Nichtwähler und Politiker – in einer ähnlichen Zwickmühle, denn wir fühlen uns beide nicht verstanden. Ich muss gestehen, dass ich mich auch als Politiker nicht immer verstanden fühle. An Sachthemen ist bei den Bürgern wenig Interesse und auch die Medien kommunizieren keine Sachthemen. Wenn ich aber gegen meinen CSU-Kollegen schieße und einen koalitionsinternen Streit verursache, dann bekommt das die ganz große Aufmerksamkeit.
Margarete Bause (Grüne): Ich finde es gut, dass die Bürger immer selbstbewusster werden. Das merkt man an den Beteiligungen sowohl im Internet als auch bei den Bürger- und Volksentscheiden. Das ist eine positive Entwicklung. Deshalb sollten wir die Instrumente der Bürgerbeteiligung wie Volksbegehren stärken. Die Demokratie ist ein Wert an sich, auch bei allem Frust und Ärger. Und es lohnt, sie zu verteidigen und zu verbessern. Wichtig ist, dass wir Politiker es schaffen, einen komplizierten Sachverhalt einfach zu erklären, damit die Bürger es nachvollziehen können.
Andreas Lotte: Es ist wichtig, dass man als Politiker nah am Menschen ist. Ich habe mich in den unterschiedlichsten Feldern in der SPD engagiert und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass man viele Ziele und Versprechungen zu hören bekommt, die wahnsinnig schwer umzusetzen sind. Ich sehe das allerdings positiv. Wir müssen eine Mehrheit überzeugen, um etwas verändern zu können. Das ist natürlich im Großen wesentlich schwieriger als im Kleinen. Deshalb habe ich mich für die Kommunalpolitik entschieden, weil man da unglaublich was bewegen kann – über die Parteigrenzen hinweg. Das Schöne sowohl im Landtag als auch im Bundestag ist, dass es die einzelnen Stimmkreise gibt und dass man als Bürger die Gelegenheit hat, die örtlichen Kandidaten zu verhaften und zu sagen: Hier ist mein Anliegen! Sind Sie bereit sich dafür einzusetzen oder nicht? Das ist ein Punkt, der bisher viel zu wenig genutzt wird.
Andreas Lorenz (CSU): Ich glaube, die größte Lobby in einer Demokratie sind die Bürger, weil letztendlich der Wähler darüber entscheidet, wer Verantwortung trägt. Jeder Nichtwähler verzichtet auf ein Recht, für das viele Generationen für uns gekämpft haben und was auch in anderen Ländern nicht selbstverständlich ist. Jeder Bürger, der auf das Wahlrecht verzichtet, verzichtet auf ein Stück Mitwirkungsrecht und unterschätzt seine Möglichkeiten der Einflussnahme, die nämlich riesig sind. In manchen Dingen wird der Einfluss der Wirtschaft auch völlig überschätzt.
Mechthilde Wittmann (CSU): Wir alle sind selber Bürger und sind selber betroffen von der Politik, die passiert. Wir können alle an der einen oder anderen Stelle mehr mitwirken oder eben nicht. Wenn Leute ihre Probleme an uns herantragen, hören wir sie sehr gut und können sie abschätzen. Der Kontakt zu den Bürgern ist da – und natürlich ist das Internet ein guter Weg oder eben die Briefpost. Ich kann immer dazu raten, dass die Bürger auf uns zu kommen. Das ist wichtig. Um miteinander in Kontakt zu treten, sieht die Demokratie als breites Medium nun mal die Wahl vor. Das ist der erste Schritt. Und ich behaupte auch: Wer wählen geht, bekommt zu dem Ganzen einen anderen Bezug – auch wenn man sich natürlich manchmal ärgert. Die allermeisten Bürger sind doch politische Menschen. Ich bin zudem der Meinung, dass die Bürger sehr wohl an Sachthemen interessiert sind. Politik zu betreiben funktioniert nur gemeinsam. Die Themen, die die Bürger bringen, sind viel konkreter, viel eindeutiger geworden. Sie sind meiner Ansicht nach auch viel besser informiert als früher.
Herr Uhl, Sie waren 20 Jahre im Münchner Rathaus, davon elf Jahre Kreisverwaltungsreferent. Mittlerweile sind Sie seit 15 Jahren im Bundestag. Wie schätzen Sie das Anwachsen der Nichtwählerschaft und das Wahlverhalten ein?
Hans-Peter Uhl: Bei der Bundestagswahl ist die Wahlbeteiligung in den letzten Jahren permanent zurückgegangen – von 82 Prozent vor 15 Jahren auf 70 Prozent bei der letzten Wahl. Möglicherweise wird sie noch weiter runtergehen. Das werden wir am 22. September sehen. Man sollte als Bürger, dankbar sein, frei wählen zu können – und zwar ohne Wahlfälschung. Das ist sehr viel wert. Wir sind bei diesem Thema in einer Art Dreiecksbeziehung: der Wähler, der Politiker und die Medien. Jeder von den dreien hat seine Rolle und seine Fehler.
Wie meinen Sie das?
Hans-Peter Uhl: Es ist ein Fehler zu glauben, Politiker sind bessere Menschen. Wir sind nicht besser und nicht schlechter, wir sind so, wie die gesamte deutsche Gesellschaft eben auch. Es ist aber auch ein schwerer Fehler zu glauben, dass Politiker alle faul, korrupt und nur auf ihrem Vorteil aus seien. Wenn man manche Medien liest, hat man den Eindruck, dass dieses Politikerbild vermittelt werden soll. Das tut uns weh. Wir opfern für diesen Beruf unsere Privatheit. Ein weiterer Fehler ist, dass viele Politiker dazu neigen, die hochkomplexen Themen in einem Fachjargon vorzutragen, den keiner versteht. Dadurch wenden sich die Wähler ab. Wir müssen wieder in einer Sprache sprechen, die die Menschen verstehen. Zudem ist es schlimm, wenn die Medien nach dem Grundsatz verfahren: Bad News are good News. Natürlich ist es nicht akzeptabel, wenn ein Politiker eine Kamera für 6000 Euro kauft oder so etwas. Das muss gebrandmarkt werden. Aber wenn es ein Thema für mehrere Wochen ist und zwar ganze Seiten füllend, dann stellt sich die Frage, ob wir nicht auch andere Themen haben.
Als Nichtwähler – finden Sie die Argumente der Politiker überzeugend?
Hedy Dries: Politiker müssen lernen, wieder zuzuhören. Diese Ausgewogenheit zwischen zuhören und etwas Qualitatives statt Quantitatives zu sagen ist etwas ganz Wichtiges. Ich würde mir wünschen, dass sich die Politiker das zu Herzen nehmen. In den letzten zehn Jahren ist Deutschland im Hinblick auf das soziale Niveau runter gewirtschaftet worden. Da wünsche ich mir Politiker mit Herz und Verstand.
Helmut Huber: Die Glaubwürdigkeit der Politik ist ein großes Problem. Und diese Glaubwürdigkeit wird zerstört, weil Dinge in Schlagworten behauptet werden, denen letztlich in der Realität nicht Rechnung getragen werden kann.
Erika Osterhuber: Ich fände es gut, wenn sich die großen Parteien bei komplexen Themen an einen Tisch setzen und ihr Parteibuch mal vergessen, um das Problem objektiv zu lösen. Aber es ist doch so, wenn ein guter Vorschlag vom politischen Gegner kommt, wird er erstmal abgelehnt.
Wie vermittelt man Politik denn wieder richtig?
Hans-Peter Uhl: Wir müssen alle – Politiker, Bürger und die Medien – dafür werben, dass das Wesen einer Demokratie der Kompromiss ist. Der Kompromiss hat keinerlei Sexappeal, er ist nicht glanzvoll und nicht charismatisch. Er ist eigentlich langweilig. Und wenn ich mich wirklich als Demokrat engagiere, muss ich mich mit beiden Beinen in diese Langeweile hineinbegeben. Nicht nur einmal, sondern ganzjährig. Demokratie heißt Kompromiss. Das ist das Wesen der Demokratie.
Michael Piazolo: Politiker sein heißt nicht Opfer sein. Wir haben alle den Beruf gewählt, wohlwissend was einen erwartet. Ich habe jetzt bewusst viel zugehört und muss sagen, manchmal versteht man den einen oder anderen Nichtwähler. Es wird unglaublich viel und sehr lange geredet – und immer über die gleichen Dinge. Aber jeder hier in der Runde ist auch engagiert und möchte etwas rüber bringen. Wir sind alles Politiker, die etwas bewegen wollen. Wir haben uns das Wahlrecht erkämpft und deshalb sollten wir es alle wahrnehmen. Wir als Politiker müssen viel mehr an die Leute ran, die sich gar nicht mehr interessieren und einfach nicht zur Wahl gehen. Das ist in einer Demokratie das allerschlimmste.
Teilen Sie als Nichtwähler diese Ansicht?
Erika Osterholzer: Man hat das Gefühl, dass gute Ideen sehr verwässert und gegen Lobbyinteressen ausgetauscht werden, bis sie überhaupt den Weg in den Land- oder Bundestag finden. Es herrscht bei den Parteien schon ein großer Konsens, wenn es darum geht, wie ziehe ich den Bürger am besten über den Tisch.
Helmut Huber: Ich bin nicht mit der Erwartung hierhergekommen, dass mich irgendwelche Argumente überzeugen können. Das liegt aber nicht an den hier anwesenden Personen. Ich schätze ihre Arbeit, möchte sie aber nicht tun, weil ich für mich immer wieder in Gewissenskonflikte bei einzelnen Themen käme. Für mich ist der Glaubwürdigkeitsverlust das zentrale Thema. Ich habe als wertkonservativer Wähler keine Heimat mehr.
Hannelore Schmidke: Vielleicht ist es ganz gut, dass die Demokratie Kompromisse braucht. Auch wenn ich mir manchmal damit schwer tue. Aber ich werde mir noch einmal überlegen, ob ich nicht doch zur Wahl gehe. Ich fand die Diskussion sehr interessant.
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