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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
Wie attraktiv ist Demokratie?
Literarische Gesellschaft mit politischem Streitgespräch zwischen Christian Ude und Gregor Gysi
Zum 95. Geburtstag wollte die Literarische Gesellschaft nicht unbedingt eine Jubiläumsfeier mit Festschrift und viel Aufwand haben, ein Geburtstagsgeschenk hat sie sich dennoch gemacht. „Wir beginnen unsere Saison mit einem Paukenschlag und einem übervollen Bürgerhaus“, freute sich der Vorsitzende der Gesellschaft, Klaus Stadler, zur Begrüßung des politischen Gesprächs zwischen dem Linken-Politiker Gregor Gysi und Alt-OB Christian Ude. Gysi brachte sein Buch „Ausstieg Links?“ mit, Ude befragte ihn in lockerer Atmosphäre zu Themen wie Europa, Syrien, Türkei und Rechtsextremismus.
Es war nicht das erste öffentliche Gespräch der beiden Vollblutpolitiker und leidenschaftlichen Redner. Die Beiden sind auf einer Wellenlänge und diskutieren gerne, wenn sie auch nicht immer die gleichen Ansichten teilen. Dafür sind ihre Erlebnisse in Ost- beziehungsweise Westdeutschland sowie ihre Parteivergangenheiten einfach zu verschieden. Trotzdem sind die zwei 68-Jährigen von den gleichen Ereignissen und Zeiten geprägt worden. Das verbindet. Für die rund 350 Zuschauer ergab sich ein äußerst kurzweiliges, interessantes Streitgespräch mit einer ganzen Reihe von Aha-Erlebnissen und neuen Erkenntnissen.
Kann man intelligente Politik machen? Und wie?
Egal, ob es um die AfD ging, die Flüchtlingskrise oder die instabile Europäische Union, Gysi antwortete offen. „Ich gebe zu, dass ich mir große Sorgen mache“, bekannte er auf die Frage zum Rechtsruck in Deutschland, verwies aber ebenfalls auf die erstarkten rechten Kräfte in ganz Europa. Viele Menschen, vor allem im Osten, fühlten sich abgehängt, so Gysi. Hartz-IV-Empfänger, Arbeitslose, im Niedriglohnsektor Beschäftigte hätten sich tragischerweise abgewandt von der Demokratie. Demokratie sei leider nicht mehr attraktiv genug, meinte er.
„Hier müssen wir ansetzen und mit mehr Aufklärungsarbeit und Abbau von Ängsten wieder näher an diese Leute herankommen. Das Ziel muss eine sozialgerechtere Verteilung sein“, forderte der langjährige Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag. Hier sah er auch den Grund für das Erstarken der AfD. Seine Empfehlung: „Die Union muss sich wieder mehr auf ihre konservativen Werte konzentrieren und die SPD sozialdemokratischer werden. Die Parteien müssen wieder unterscheidbar sein.“ Das wäre eine Aufgabe für intelligente Politik. „Doch die ist nur mit Vertrauen und Ehrlichkeit möglich!“
„Ich wünsche mir mehr Leidenschaft!“
Die AfD-Lösung für die Flüchtlingskrise, nämlich der Bau einer Mauer um Europa, sei schlichtweg falsch, so Gysi. Das gehe nur mit Frieden in Syrien. Auch zur Europäischen Union (EU) habe er eine klare Meinung. „Sie ist unsozial, undemokratisch, bürokratisch, nicht nachhaltig, nicht ökonomisch und intransparent. Aber wir brauchen sie.“ Die einzelnen Staaten hätten ohne sie keine Chance, neben den Weltgroßmächte zu bestehen. Außerdem sei die EU ein Garant für Frieden in Europa.
Gysi plädierte generell für mehr Vertrauen zwischen Bürgern und Politik, mehr Weitblick und Empathie bei politischen Entscheidungen. Er erhoffe sich mehr weiblichen Einfluss und ein Umdenken männlicher Politiker, denn viele Drohgebärden in Politik und Wirtschaft sind in seinen Augen männliches Imponiergehabe. Auch bekannte er: „Ich bin nicht in die Politik gegangen, um es leicht zu haben.“ Es muss einen Schub geben in Deutschland und Europa, „und das wollen wir beide doch noch erleben“, wandte er sich augenzwinkernd an Ude.
Der dankte für den leidenschaftlichen und intelligenten Austausch mit Gysi. „Ich hatte große Freude an diesem sehr persönlichen Gespräch“, meinte er abschließend. Die Zuschauer hörten ebenfalls gebannt zwei Stunden lang zu. Fragen ergaben sich nur noch im sehr kleinem Rahmen während der Signierrunde im Foyer.
„Ein fesselnder und inspirierender Abend“, resümierte Stadler. Nun geht es literarisch im Herbst-Programm weiter mit dem Schauspieler und Minimalisten Hanns Zischler, der Werke von Henry James liest. Das vollständige Programm der Literarischen Gesellschaft ist unter www.literarische.de zu finden.
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