Komm mit auf die Reise!
Vorleserin Christel Günther sprüht vor Lesefreude
Au weia. Der Drache hat Hunger und braucht was zu fressen, will Hexe mit Pommes zum Abendessen! "Was denkst du, wird der Drache die Hexe zum Abendbrot fressen?", fragt Christel Günther den vierjährigen Zuhörer, der direkt vor ihr sitzt. Nein, das glaubt er nicht. Im Bilderbuch "Für Hund und Katz ist auch noch Platz" ist die Hexe lieb und kann sich auf die Hilfe ihrer Freunde verlassen. Zum Schluss fliegen alle zusammen auf einem ganz tollen neuen Hexenbesen davon und das Buch klappt zu. Ein zehnjähriger Junge steht auf und verabschiedet sich von der Vorleserin mit den Worten: "Hat Spaß gemacht, ganz toll!", dann steigt er aus dem Speisewagen aus.
Im Verkehrszentrum des Deutschen Museums am Bavariapark können Besucher die Geschichte des Reisens erleben. In dieser passenden Umgebung nimmt einmal im Monat eine Vorleserin des Vereins Lesefüchse e. V. die jungen Besucher mit auf die Reise in eine andere Welt. Alles einsteigen, heißt es in Halle II. Im roten Mitropa-Speisewagen laden viele bunte Kissen am Boden zum Hinsetzen ein, Stuhl und Lampe sind für die Vorleserin. Ein Buch, und los geht's. Abfahrt ist immer am ersten Sonntag des Monats um 15 Uhr (außer bei allzu schönem Wetter).
"Vom Fernsehen bekommt man keine Fantasie"
Christel Günther ist bereits seit zwölf Jahren bei den Lesefüchsen aktiv. "Ich liebe das Vorlesen", schwärmt sie. "Das Gefühl in die Geschichte hinein zu versinken, nichts mehr um sich herum wahrzunehmen – das ist mein Lebens... mein Leseelixier", erklärt die 71-Jährige. Sie selbst lernte dieses Gefühl erst mit zehn Jahren kennen, da bekam sie ihr erstes Buch: "Heidi". In der Nachkriegszeit auf dem Land hatte sie tatsächlich keine Bücher, es gab auch keine Bücherei. Heute sind zwar Bücher für alle verfügbar, doch oft fehlt es Eltern an der Zeit, um vorzulesen. "Es ist doch so schade, wenn ein Kind nicht mit Geschichten aufwachsen kann. Mit Geschichten kann man Fantasie entwickeln. Vom Fernsehen bekommt man keine Fantasie."
Lange bevor ein Kind lesen lernt, sind Bilderbücher wichtig: "Mit Bildern fängt die Sprache an", weiß Christel Günther. Und was könne es Wichtigeres geben, als die Sprache gut zu beherrschen: "Die Welt endet doch da, wo die Sprache endet." Deshalb könne man die Bedeutung der Leseförderung gar nicht hoch genug einschätzen, auch für Kinder nichtdeutscher Herkunft. Rund 300 Ehrenamtliche der Lesefüchse lesen regelmäßig in fast allen Stadtbibliotheken vor und sind an zahlreichen Schulen aktiv.
"Du kannst das"
Für Schulen hat Christel Günther zusätzlich zum reinen Vorlesen auch noch das Konzept für ein Leseförderprogramm entwickelt. In jeweils 20-minütiger Einzelarbeit vermittelt ein Vorleser einem Kind, das Schwierigkeiten mit dem Lesen hat, Selbstbewusstsein und Erfolgserlebnisse nach dem Motto: "Du kannst das. Und es macht Spaß."
Christel Günther empfindet es als großes Glück, im Ruhestand eine so schöne und wichtige Aufgabe zu haben. Seit 2008 hält sie auch selbst Schulungen für Vorleser: Da geht es darum, wie man den Kindern gegenüber auftritt, dass man sie beim Vorlesen einbezieht, sie zum Reden und zum Nachdenken animiert, und um die Gestaltung der Stunde. Im 2003 gegründeten Verein Lesefüchse e.V. fühlt sie sich gut aufgehoben und bewundert dessen organisatorische Leistung.
Lesefest für Schulklassen
Seit 2006 veranstalten die Lesefüchse jedes Jahr ein Lesefest an einem besonderen Ort. Die damalige Vorsitzende Helga Wolf nahm deshalb im Sommer 2009 – auf der Suche nach einem neuen attraktiven Lesefest-Ort – Kontakt zum Verkehrszentrum auf. Die Lesefeste 2010 und 2013 fanden bereits im Verkehrszentrum statt, und auch im Juli 2016, zum zehnten Lesefest-Jubiläum, geht es hier wieder auf die Reise.
Unter dem Motto "Leinen los! Alle Signale auf Grün! Und kräftig Gas geben!" stehen Geschichten über das Reisen im Mittelpunkt. Dazu sind zwölf Schulklassen eingeladen, denen dann in den ausgestellten S-Bahnen, Straßenbahnen und Zügen des Verkehrszentrums vorgelesen wird. Außerdem wird die Stadträtin Kathrin Abele in Vertretung des Oberbürgermeisters (dem Schirmherrn) die Jubiläumstorte anschneiden. Im Rahmen des Lesefestes wird auch die Preisverleihung des Geschichtenwettbewerbs stattfinden, an dem sich die Klassen im Vorfeld beteiligt haben. Die ersten drei Preise stiftet das Polizeipräsidium München.
Vorleser gesucht
Ab dem neuen Schuljahr suchen die Lesefüchse im ganzen Stadtgebiet neue Vorleser, die sich eine Stunde in der Woche ehrenamtlich engagieren möchten. Interessierte erhalten eine Einführung und können nach einer Hospitation kostenfrei am Basisseminar „Lebendig vorlesen“ teilnehmen. Nähere Informationen zu den Lesefüchsen stehen im Internet unter www.lesefuechse.org. Die Geschäftsstelle ist Dienstag bis Donnerstag von 9 bis 13 Uhr unter Telefon (089) 72016141 erreichbar.
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