Gekommen und geblieben
Geschichtsschreibung mit echten Menschen
Mit ihrem damaligen Ehemann und der knapp dreijährigen Tochter Anastasia zog Irina Jerdeva 1996 von Moskau nach München, der schwer kranken Schwiegermutter wegen. Sie bekam einen Deutschkurs und eine Fortbildung, gleich im Anschluss eine gute Anstellung als Architektin. Ursprünglich war es gar nicht so geplant, aber sie blieb, lebt nun seit genau 20 Jahren im Westend. Anastasia besuchte die Guldeinschule und das Luisengymnasium, heute studiert sie Landschaftsarchitektur in Weihenstephan. Während ihrer Schulzeit hat sie als Zustellerin des Westend-Anzeigers gejobbt: "Es gibt nichts Besseres, um ein Viertel kennen zu lernen", meint sie.
Dass Irina Jerdeva ihre Einwanderungsgeschichte dem Projekt "Migration bewegt die Stadt" erzählte, war purer Zufall. Mutter und Tochter dachten eigentlich, die Veranstaltung im Kösk gehöre zum "Open Westend". Doch es war die Abschlussparty der Aktionstage, die das Projekt im Viertel bekannter machen sollten – was auch gelungen ist.
Fortsetzung folgt
"Es war ein voller Erfolg und schreit nach Fortsetzung", fasst Historiker Simon Goeke vom Münchner Stadtmuseum zusammen. Neue Perspektiven auf München als Einwanderungsstadt sollen im städtischen "Gedächtnis", dem Stadtmuseum und dem Stadtarchiv, aufbewahrt und sichtbar gemacht werden, daran arbeiten Historiker schon seit zwei Jahren. Bei den Aktionstagen im Westend wurden nun Einwanderungsgeschichten erzählt und gesammelt. Im Sommer ist eine Fortsetzung geplant: Während der Kunst- und Kulturtage sollen wieder niederschwellige Veranstaltungen stattfinden. Für Juli ist eine "Museumswerkstatt" geplant. Hier soll ein Kreis von Menschen gefunden werden, die Lust haben, längerfristig an dem Projekt mitzuarbeiten.
Großes Interesse
Alle Veranstaltungen der Aktionstage waren bestens besucht. Beim Erzählabend im Kulturladen waren nicht nur die Erinnerungen der Erzähler interessant, sondern auch die Filmausschnitte von damals. Schon 1978 wurde im Viertel ein Internationales Straßenfest gefeiert, und der damalige Kulturreferent der Landeshauptstadt eröffnete es mit den Worten: "Liebe Bürgerinnen und Bürger in der Schwanthalerhöh, liebe Gäste aus dem Ausland."
Verblüffende Einblicke in die damalige Zeit gewährte auch der Dokumentarfilm des Bayerischen Fernsehens von 1974/75 "Der Heupel und sein Team". Karl Heupel war damals Leiter des Freizeitheims und fungiert heute für die Historiker als wichtiger Zeitzeuge. Bedriye Ölmez, die in den 90er Jahren mit ihrem Mann aus der Türkei eingewandert ist, sagte: "Ich liebe das Westend. Es ist meine Heimat." Costas Gianacacos vom Griechischen Haus brachte neben Informationen auch eine Zeitung aus der Zeit der griechischen Militärdiktatur mit.
Geschenk verschenken?
Ihre eigene Geschichte erzählen und Erinnerungsstücke abgeben: Dazu wurden die Besucher beim Abschlussfest im Kösk eingeladen. Karl Heupel stellte seine Sammlung alter Plakate dem Stadtarchiv zur Verfügung. Alte Fotos steuerten unter anderem die Leiterin des Ledigenheims Claudia Bethcke und Verleger Franz Schiermeier bei.
Sibylle Stöhr, Vorsitzende des Bezirksausschusses Schwanthalerhöhe, brachte ein persönliches Erinnerungsstück mit, ein Geschenk ihrer früheren brasilianischen WG-Mitbewohnerin. Dem Museum überlassen wollte sie es jedoch nicht: "Ein Geschenk darf man doch nicht weiterschenken. Oder dem Museum schon? Das wäre vielleicht mal was für die 'Gewissensfrage' im SZ-Magazin."
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH