Münchner Wochenanzeiger - Hier werden Sie gelesen
2 x pro Woche mit ca. 2 Millionen Zeitungen
Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
Eine Idee macht Schule
Schüler aus über 55 Nationen lernen an der Carl-von-Linde-Realschule gemeinsam
Alles begann mit einem Pilotprojekt: Als in den siebziger Jahren immer mehr Arbeitnehmer aus dem Ausland nach Deutschland kamen, stieg auch die Zahl an Schülerinnen und Schülern mit nicht-deutscher Muttersprache signifikant an. Dies stellte das deutsche Schulsystem vor bisher nicht dagewesene Probleme, denn trotz teilweise hoher kognitiver Fähigkeiten der zugezogenen Kinder und Jugendlichen verhinderte die für sie fremde deutsche Sprache den unmittelbaren schulischen Erfolg.
Im Jahr 1976 richtete das Bayerische Kultusministerium an sechs Realschulen daher besondere Eingangsklassen für Kinder ausländischer Arbeitnehmer ein, in denen verstärkte Deutsch- und Englischförderung stattfand. Doch bald zeigte sich, dass ein Schuljahr meist nicht ausreichte, um die vorhandenen Defizite auszugleichen: „Mit Unterstützung der Landeshauptstadt München wurde der Schulversuch auf die Einrichtung von so genannten internationalen Klassen für alle Jahrgangsstufen der Realschule ausgeweitet“, erklärt Maria Asenbeck-Falkenstein, Schulleiterin der städtischen Carl-von-Linde-Realschule (CLR), eine der sechs Schulen, an denen der Modellversuch damals stattfand.
„Sehr hohe Nachfrage“
Heute, 37 Jahre später, ist die CLR an der Ridlerstraße auf der Schwanthalerhöhe die einzige bayerische Realschule, in der noch internationale Klassen geführt werden. „Das Konzept hat sich bei uns bewährt. Von insgesamt 27 Klassen, die wir derzeit haben, sind neun so genannte internationale Klassen“, berichtet die Schulleiterin. „Und wir haben eine sehr hohe Nachfrage, es wollen mehr Schüler zu uns, als wir Plätze haben.“
Alle internationalen Klassen werden als gebundene Ganztagesklassen mit rhythmisiertem Unterricht geführt und haben eine eigene Stundentafel mit einer größeren Anzahl an Wochenstunden in Deutsch, Englisch, Mathe und im Profilfach als die Regelklassen. Zusätzlich und besonders wichtig ist der Sprachförderunterricht in Deutsch, der am Nachmittag stattfindet. Besonders geschulte und sensibilisierte Lehrkräfte, häufig selbst mit Migrationshintergrund und Erfahrung im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache, kümmern sich um die Schülerinnen und Schüler, die aus über 55 verschiedenen Nationen kommen.
„Wenn man von dem Konzept das erste Mal hört, dann klingt das zunächst nach Trennung der Schüler mit Migrationshintergrund von den Regelklassen, aber so ist es nicht“, betont Maria Asenbeck-Falkenstein. In einzelnen Fächern haben die internationalen Klassen und die Regelklassen gemeinsamen Unterricht. Die Arbeitsgruppen am Nachmittag, wie die Schulband-AG, die Theater-AG oder die Business-Englisch-AG, werden ebenfalls gemeinsam besucht. „Wer seine sprachlichen Defizite sehr schnell und gut behebt, der kann dann auch ohne Schwierigkeiten in die Regelklassen wechseln“, so Asenbeck-Falkenstein. Und in der zehnten Klasse dann schreiben ohnehin alle Schülerinnen und Schüler dieselbe Abschlussprüfung, um ihre Mittlere Reife zu erlangen.
Zielorientiert und dankbar
Maria Asenbeck-Falkenstein schwört auf die Vielfalt der Nationen, die es an der Carl-von-Linde-Realschule gibt: „Das gute Miteinander funktioniert nur so und die Schülerinnen und Schüler sind auch nicht versucht, sich auf ihrer Muttersprache zu unterhalten, sondern üben tatsächlich das Sprechen auf Deutsch.“ Zudem hat die Schulleiterin festgestellt, dass gerade die Schülerinnen und Schüler der internationalen Klassen sehr zielorientiert arbeiten und dankbar über die Möglichkeiten sind, die ihnen geboten werden. „Viele gehen auf weiterführende Schulen, machen auf der Fachoberschule oder auf dem Gymnasium weiter und bleiben der Schulgemeinschaft oft auch lange über den Abschluss hinaus verbunden.“ Auch eine hohe Kameradschaftlichkeit würde sich in den internationalen Klassen zeigen: „Oft sehe ich Schülerinnen und Schüler nach dem Unterricht noch gemeinsam miteinander arbeiten.“
Ein besonderes Gemeinschaftsgefühl empfindet auch Eliza, die derzeit die zehnte Klasse an der CLR besucht: „Wir sind alle in derselben Situation und helfen uns gegenseitig. Für mich ist es spannend, wenn meine Mitschüler mir die Sachen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erklären“, sagt die gebürtige Polin, die erst vor zwei Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland kam. Zunächst besuchte Eliza die Übergangsklasse (Ü-Klasse) auf der Mittelschule, bereits nach einem Jahr durfte sie aber auf die Realschule wechseln. „Am Anfang ist es mit der fremden Sprache schon etwas schwierig“, gesteht Eliza ein. Heute ist es ihr großer Traum auf das Gymnasium zu gehen: „Das geht natürlich nur, wenn der Schnitt passt“, setzt sie etwas einschränkend hinzu. Ansonsten wird sie die Fachoberschule (FOS) besuchen: Anwältin oder Journalistin will sie später einmal werden.
„Jeder bringt etwas anderes mit“
Große Ziele verfolgt auch Muamer, der ebenfalls die zehnte Klasse besucht und ursprünglich aus Bosnien stammt. Er flüchtete vor rund fünf Jahren mit seiner Familie nach Deutschland, doch bereits zu diesem Zeitpunkt war die Sprache nicht völlig fremd für ihn. „Ich habe Deutsch durch das Fernsehen gelernt. Wir hatten Kabelanschluss und haben mehrere deutsche Fernsehsender empfangen.“ So konnte Muamer bereits nach ein paar Tagen von der Ü-Klasse der Mittelschule auf die Realschule wechseln. „Nach meinem Abschluss in diesem Frühjahr möchte ich auf die FOS oder auf das Gymnasium gehen und danach studieren, um Ingenieur zu werden“, erklärt Muamer, der sich auch als Schlagzeuger in der Schulband engagiert und sich an der CLR wohler fühlt als an seiner Schule in Bosnien: „Die Lehrer gehen hier einfach mehr auf einen ein.“
Berufswünsche: Ärztin und Architektin
„Aus welchen Ländern die Schüler zu uns kommen, hängt vor allem auch mit politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zusammen, ob irgendwo Krieg ist oder die Wirtschaft gerade kriselt“, meint Asenbeck-Falkenstein. Gizem und Sinem aus der neunten Klasse der CLR sind zwar in München geboren und aufgewachsen, haben aber früher die griechische Schule besucht und sind erst im September an die neue Schule gewechselt. „Wir haben uns sehr gefreut, als wir an der CLR aufgenommen worden sind und dass uns Frau Asenbeck-Falkenstein diese Chance gibt“, erklären die beiden Mädchen, die Ärztin und Architektin als ihre Berufswünsche angeben. In der internationalen Klasse an der CLR hätten sie vor allem Freunde aus aller Welt gefunden: „Besonders spannend ist, dass alle hier neu angefangen haben und jeder aus seiner Kultur etwas anderes mitbringt.“
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH