Aus „Kümmern“ wird Freundschaft
Stephan Reichel setzt sich als Berater für Kirchenasyl für Flüchtlinge ein
Sich ehrenamtlich für Flüchtlinge zu engagieren kann das eigene Leben bereichern, keine Frage. Bei Stephan Theo Reichel hat es nicht nur zu einer engen Freundschaft mit einer Familie und einem jungen Mann aus Afghanistan geführt, sondern auch zu einer neuen beruflichen Position: Er ist seit Oktober bei der evangelischen Kirche Landesbeauftragter, Berater und Koordinator für Kirchenasyl. "Es geht hier immer um Einzelfälle", betont er. Um Menschen, denen - mit menschlichem Mitgefühl - nicht zugemutet werden kann, was der Rechtsstaat mit ihnen vorhat, zum Beispiel eine Abschiebung gemäß dem Dublin III-Abkommen in das Land Europas, das der Flüchtling als Erstes betreten hat. "Ich versuche die Dinge aus der Sicht der Leute zu sehen", sagt Reichel. „Wenn man sich in die Lage der Menschen versetzt, dann macht man auch das Richtige.“
Nach Ungarn ins Gefängnis
Zarah ist 23 Jahre alt und hat vor kurzem ihr zweites Kind bekommen. Sie wäre heute nicht mehr am Leben, wenn sie nicht im Februar 2014 in der Sendlinger Himmelfahrtskirche Kirchenasyl gefunden hätte. Damals hätte sie eigentlich nach Ungarn abgeschoben werden sollen, und dort drohte ihrer jungen Familie, die aus Afghanistan geflohen ist, wie allen Flüchtlingen das Gefängnis. Gegen ihre akuten Bauchschmerzen hätte sie dort im besten Fall ein Schmerzmittel bekommen. Doch sie hatte das Glück, dass sie in der Kirche Unterschlupf gefunden hatte: Stephan Reichel als ehrenamtlicher Helfer brachte die junge Frau zu seinem Hausarzt, der sie sofort in eine Klinik weiterschickte, wo ihre beginnende Sepsis mit den richtigen Antibiotika behandelt wurde.
Migranten auf der Berghütte
Heute sind Zarah, ihr Mann Said und die beiden kleinen Töchter in einem kleinen Dorf im Allgäu untergebracht, wo Reichel sie regelmäßig besucht. Aus dem „Sich kümmern“ ist eine Freundschaft entstanden, die, so sagt Reichel, nicht mehr „asymmetrisch“ ist: „Jetzt erzähle ich Said auch von meinen Problemen.“ Oder macht mit ihm und Farid, dem anderen jungen Mann, den er im Kirchenasyl betreut hat, mal eine Bergtour. „Auf Berghütten gibt es eine besondere Form von Zusammenhalt. Migranten auf einer Berghütte sind etwas Ungewöhnliches, Unerwartetes, und es entsteht eine ganz spezielle Form von Empathie.“ Reichels Erfahrung mit Flüchtlingen ist, dass sie sehr interessiert sind und alles, was man ihnen bietet, aufsaugen wie ein Schwamm. Sobald es sein Terminkalender zulässt, will er für die Flüchtlinge, die im ehemaligen Parkhotel in der Parkstraße untergebracht sind, eine Führung durch München anbieten.
Engagement vor der Haustür
Reichels politisches Engagement im Westend begann buchstäblich vor der eigenen Haustür: Zusammen mit Mitstreitern hat er verhindert, dass der schöne Baumbestand an der Kazmairstraße 23-25 abgeholzt wurde, um einer dichten Wohnbebauung Platz zu machen. „In meinem dreißigjährigen Berufsleben als Projektmanager bei einem Rückversicherer hatte ich auch mit Öffentlichkeitsarbeit zu tun“, schmunzelt er. „Den Namen Lindengarten habe ich erfunden. ,Rettet den Lindengarten' klingt natürlich viel überzeugender als ,Rettet das Baugrundstück Kazmairstraße 23-25 vor der Bebauung'.“ Wichtig ist für ihn, Planungen nicht einfach abzulehnen, sondern nach besseren Lösungen zu suchen. Er sieht die Entwicklung beim Lindengarten – die Linden bleiben stehen, es wird eine Kinderkrippe gebaut - , auch wenn es letzte Woche ein paar überflüssige Fällungen gab, als schönen Erfolg.
Forum Westend
Reichel ist einer, der die Dinge differenziert sieht, der nicht in Schwarz und Weiß und Gut und Böse einteilt. Er schaut genau hin und weiß viel – er kennt sich aus und leitet deshalb auch Führungen durchs Westend und inzwischen auch ganz München und Wanderreisen durchs Oberland. Und er hat die Erfahrung gemacht, dass man als Bürger viel bewirken kann. Deshalb hat er vor rund zwei Jahren das „Forum Westend“ gegründet, als Anlaufstelle für Bürgerprojekte. Dieses hat auch seinen Platz in einem Ladenbüro in der Ligsalzstraße 23, Eingang Gollierstraße.
Im Moment gibt es hier wenig Neues, denn Reichel ist mit seiner neuen Aufgabe voll beschäftigt und auch viel in ganz Bayern unterwegs, um Kirchengemeinden vor Ort zu beraten und um zu vermitteln - mit dem Ziel, Abschiebungen und damit Kirchenasyle zu vermeiden. Er hat auch an einer Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchlinge und der Kirche über den Umgang mit Härtefällen mitgewirkt. Bemerkenswert findet er, auf wie viel Hilfsbereitschaft und Offenheit gegenüber Flüchtlingen er trifft, gerade auch in sehr konservativen Kreisen, wo man es nicht unbedingt erwarten würde.
Patenschaften
Die persönlichen Kontakte sind es, die das ausmachen. Zum Beispiel wurde eine Kirchenvorstandssprecherin in Garmisch Taufpatin eines Babys einer Flüchtlingsfamilie – und wer würde es zulassen, dass so ein Säugling ins Gefängnis abgeschoben wird? „Kürzlich habe ich im Zug einen Bundespolizisten kennen gelernt, der mir erzählt hat, wie sehr es ihn belastet, diese Abschiebungen machen zu müssen“, sagt Reichel. Auch die Mitarbeiter der zuständigen Behörden seien oft nicht weniger empathisch als die Ehrenamtlichen in den Helferkreisen. Dass auf der einen Seite die Guten sind und auf der anderen die Bösen, das lässt er nicht gelten: so einfach ist es nicht.
Unvorstellbare Gewalt
Natürlich gehen ihm die Schicksale der Flüchtlinge nahe. Zarah ist schwer traumatisiert von unvorstellbaren Gewalterlebnissen in der Heimat, auch die Flucht war ein steiniger Weg voller Grausamkeiten. Ein junger Migrant, der von Polizei im Iran brutalst ausgepeitscht wurde, hat ihm mal seinen Rücken gezeigt. „Das ist das Schwierige daran. Das muss man erst mal wegstecken.“ Doch überwiegend ist Reichel mit seiner Tätigkeit glücklich. „Ich kann mich vor Anfragen kaum retten und muss aufpassen, dass es mich nicht auffrisst.“ Mindestens eine Woche im Monat möchte er sich in München aufhalten, zuhause im Westend.
Gutes Image
„Deutschland hat ein gutes Image in der Welt“, ist Reichels Eindruck nach seinen vielen Gesprächen mit Flüchtlingen. Viele hätten gehört, dass die Deutschen nett seien und Fremde mögen. „Ein 15-Jähriger Somali sagte mir: ,I'm here for Philipp Lahm.' Ich muss mal zusehen, ob ich ihn nicht mit ihm zusammenbringen kann.“
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