"Wir sind wie Pioniere"
Angelika Jofer und Boris Kardum haben das Wagnis "Tagespflege" nie bereut

Ein Team, das gut zusammenpasst (von links): Boris Kardum (Geschäftsführer), Mirjana Markovic (Pflegedienstleiterin), Antonio Karamatic (Fahrer, Haustechniker, Tourenplaner), Cindy Dietrich (Beschäftigungs- und Pflegekraft), Jenny Bayer (Fahrerin), Sofia Scuticchio (Betreuungskraft) und Angelika Jofer (Geschäftsführerin). (Foto: tab)
Die Liebe zum Beruf, Mut, Rückgrat und auch etwas Glück: Manchmal braucht es genau das, um etwas Neues auf die Beine zu stellen, um aus Erfahrungen zu schöpfen und einen neuen Weg einzuschlagen. Kurz: um ins kalte Wasser zu springen. Auf genau dieses Wagnis haben sich Angelika Jofer und ihr Kollege Boris Kardum vor vier Jahren eingelassen.
Beide waren schon lange in der Pflege tätig, kannten sich von ihrer Arbeit im Haus St. Elisabeth in Fürstenried, als die Idee in ihnen reifte, eine Tagespflege zu eröffnen. 2016 war das. Voller Elan gingen Angelika Jofer und Boris Kardum in die Planungen. In der Boschetsrieder Straße 1 fanden sie geeignete Räumlichkeiten. "Unser Vermieter Professor Standl war sofort von der Idee begeistert. Er ist selbst Professor für Geriatrie", blickt Angelika Jofer zurück. Ein Glücksfall. Wo früher eine Bank war und sich Kunden beraten ließen, ist heute ihre AB Tagespflege untergebracht. Im Mai 2017 wurde sie eröffnet. Es lief gleich gut an, die Nachfrage war da. "Wir sind wie Pioniere", ergänzt Boris Kardum.
Der "Schwarze Samstag"
Dann kam Corona. "Was die hygienischen Vorgaben angeht, war das überhaupt nichts Neues für uns. Wir haben auch vor Corona schon Handschuhe und Mundschutz getragen und alles desinfiziert und gereinigt. Das ist Standard", betont Angelika Jofer. Neu war allerdings, dass sie und Boris Kardum die Tagespflege von heute auf morgen schließen mussten. Sie bezeichnen jenen Tag im März, als sie davon erfuhren, als "Schwarzen Samstag". Die Mitarbeiter waren in Kurzarbeit, die Einrichtung für vier Wochen geschlossen. Schnell häuften sich die Anrufe von überforderten Angehörigen, Menschen, die vielleicht gerade selbst um ihre Jobs bangten und nicht wussten, wie es weitergeht. Und die nun noch mit der Pflege ihrer Familienmitglieder dastanden. "Nach den vier Wochen durften wir eine Notfallbetreuung für hochgradig pflegebedürftige Senioren einrichten", so die Geschäftsführerin. Zehn Plätze seien das gewesen. Keine leichte Zeit. Ihren Mitarbeitern haben sie dennoch einen Corona-Bonus gezahlt. "'Wir wussten, dass wir da durchkommen."
Inzwischen besuchen wieder mehr Senioren die Tagespflege. "Wir schauen, dass wir Abstand halten können. Außerdem wird sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei den Gästen jeden Tag Fieber gemessen. Die Temperatur darf nicht über 37,5 Grad gehen. Falls etwas auftritt, rufen wir Dr. Fleischmann, unseren Hausarzt, an."
"Das wird von der Krankenkasse übernommen"
Es ist 10 Uhr an diesem Vormittag, eben beginnt das Bewegungstraining für die Senioren. Cindy Dietrich, Betreuungs- und Pflegefachkraft, steht in der Mitte des Aufenthaltsraumes. "So und jetzt die Beine hoch, als würden wir durch den Matsch gehen", gibt sie die Übung vor. Die Senioren sind hochkonzentriert bei der Sache, einige halten sich an einem Stuhl fest oder müssen noch ein bisschen motiviert werden. Aber Aufgeben ist nicht.
"Wir können hier 30 Plätze anbieten. Damit sind wir die größte Tagespflege in ganz München. Jeder Mensch mit Pflegegrad kann eine Tagespflege besuchen", betont Angelika Jofer. Und dann sagt sie etwas ganz Wichtiges: "Das wird von der Krankenkasse übernommen. Viele Angehörige wissen das aber nicht und sind dann völlig überrascht, wenn wir ihnen das erklären." Die Kostenübernahme durch die Kassen sei kein Problem. "Was dann an Zuzahlung noch auf die Angehörigen zukommt, ist die Verpflegung", so Angelika Jofer. Hier legt man bei der AB Tagespflege viel Wert auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung.
Wenn die Einrichtung um 7.30 Uhr öffnet und die ersten Gäste kommen, beginnt der Tag mit einem reichhaltigen Frühstück. Mittagessen sowie Nachmittagskaffee und Kuchen gehören ebenfalls zum Angebot. Dazwischen liegen viele Beschäftigungen wie eben Bewegung, Gedächtnistraining, singen, basteln und backen und vieles mehr. Regelmäßig kommt eine Friseurin ins Haus und eine Fußpflegerin. Außerdem sind Spaziergänge möglich oder der Aufenthalt im Garten. "Hier werden die Menschen gefordert und es bilden sich Freundschaften", sagt die Geschäftsführerin.
"Familiäres Team"
Wichtig ist Angelika Jofer und Boris Kardum auch die Teamarbeit mit den Mitarbeitern. "Wir sind hier ein sehr familiäres Team mit sieben Mitarbeitern, fünf Frauen und zwei Männer. Wir passen wunderbar zusammen", sagt Angelika Jofer. "Es ist uns wichtig, viel Verantwortung abzugeben." In regelmäßigen Fortbildungen wird das Personal geschult. Es geht um Dinge wie Ernährung, Wundexpertenstandards und Kommunikation. In den letzten zehn, 20 Jahren hat sich viel geändert in der Pflege. "Die Menschen werden älter und gebrechlicher", sagt Boris Kardum. "Die Demenzdiagnose ist steigend, das geht zum Teil schon mit 60 Jahren los."
Es braucht mehr
Auf all das müssen sich die Pflegekräfte einstellen. Angelika Jofer wünscht sich daher auch mehr Anerkennung für den anspruchsvollen Beruf. Corona habe da sicher etwas bewirkt. Aber es brauche mehr. "Bessere Bezahlung und flexiblere Arbeitszeiten, sonst kommt kein Nachwuchs", richtet sie ihren Appell an die Politik.
Ihren Sprung ins kalte Wasser vor vier Jahren haben Angelika Jofer und Boris Kardum nicht bereut. Im Gegenteil. Sie wollen es nochmal machen. "Wir möchten eine zweite Tagespflege in Richtung Allach eröffnen. Noch sind wir auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten", sagt Angelika Jofer. Aber sie ist sicher, dass das klappt. "Wir werden es durchziehen." Aufgeben ist nicht.
Weitere Infos unter www.ab-tagespflege.de im Internet.
"Die Pflegesätze für ambulante Dienste müssen erhöht werden"
Ulrike Mascher, Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK Bayern:
"Der Sozialverband VdK setzt sich für eine Stärkung der häuslichen Pflege ein. Wir fordern unter anderem eine spürbare Erhöhung des Pflegegelds für pflegende Angehörige sowie eine vollständige rentenrechtliche Anerkennung von Pflegetätigkeiten in der Familie analog zur Kindererziehung. Zusätzlich müssen die Pflegesätze für ambulante Dienste erhöht werden. Begleitend müssen unabhängige Beratungsstrukturen etabliert werden, um für jede Pflegesituation die optimale Lösung zu finden. Deswegen müssen auch in Bayern endlich in jedem Landkreis Pflegestützpunkte eingerichtet werden. Durchdachte Pflegearrangements nehmen nicht nur den Pflegebedürftigen und Angehörigen Sorgen ab, sie entlasten auch das Pflegesystem insgesamt.
"Noch viel mehr öffnen"
Stationäre Pflege ist teuer. Untersuchungen zeigen, dass diese mit guter Beratung oft vermieden werden kann. Natürlich nur, wenn weitere Akteure vor Ort eingebunden sind. Ganz wichtig für pflegende Angehörige sind genügend Angebote für Tages- und Nachtpflege sowie Kurzzeitpflegeplätze. Meiner Meinung nach müssen sich stationäre Einrichtungen in München auch mit tagesstrukturierenden Angeboten noch viel mehr öffnen. Eine sehr gute Sache sind die Alten- und Servicezentren. Diese zentralen und etablierten Anlaufstellen werden von der Stadt München glücklicherweise gut gefördert.
Damit der Pflegeberuf sein schlechtes Image abschüttelt, muss sich grundlegend etwas ändern. Bessere Bezahlung ist wichtig, aber nur ein Teil der Lösung. Berufsabbrecher berichten in Umfragen, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege für ihre Kündigung entscheidender waren als der Lohnzettel. Solange Auszubildende wegen Personalnot häufig verheizt werden und Pflege am Fließband statt liebevolle Zuwendung für alte Menschen erleben, wird das leider kein attraktiver Beruf für junge Menschen sein.
"Ambulante Pflegedienste versorgen ca. 30 % der pflegebedürftigen Menschen in München"
Sozialreferentin Dorothee Schiwy zur Rolle der ambulanten Pflegedienste:
"Rahmenbedingungen verbessern"
Pflegeberufe haben in der Corona-Zeit einmal mehr ihre Systemrelevanz bewiesen. Wie können Staat bzw. Kommunen die ambulanten Dienste unterstützten?
Sozialreferentin Dorothee Schiwy: Mit der Einführung der Pflegeversicherung entstand ein Pflegemarkt. Für die Gesetzgebung sind der Bund und die Länder zuständig. Die Möglichkeiten der Kommune sind eingeschränkt. Die Landeshauptstadt München unterstützt aber zum Beispiel durch die Investitionsförderung für ambulante Pflegedienste mit jährlich 3,3 Mio Euro. Und sie bezuschusst Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für beruflich Pflegende. Gleichzeitig setzt sich die LHM laufend auf Landesebene für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen der Pflege ein.
"Breit aufgestellte Leistungen"
Die meisten Menschen werden ja zuhause versorgt. Wie bewerten Sie die Funktion der ambulanten Dienste im "Pflege-Netz", zu dem ja auch viele stationäre Einrichtungen gehören?
Sozialreferentin Dorothee Schiwy: Die etwa 275 ambulanten Pflegedienste versorgen ca. 30% der pflegebedürftigen Menschen in München. Sie bieten niederschwellige und breit aufgestellte Leistungen an und ermöglichen es pflegebedürftigen Menschen durch professionelle Pflege länger in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben. Im Netzwerk von Krankenhäusern, niedergelassenen Ärzten, vollstationäre Pflegeeinrichtungen und vielen Anderen sind sie systemrelevant.
"Vielfältige Möglichkeiten"
Was können wir tun, um Pflegeberufe attraktiver für junge Leute zu machen?
Sozialreferentin Dorothee Schiwy: Es müsste regelmäßig und ausgewogen über die Pflegeberufe berichtet werden. Pflege darf nicht in erster Linie mit „Skandalüberschriften“ assoziiert werden.
Seit 2020 gibt es eine Generalistische Pflegeausbildung. Diese Ausbildung löst die bisherigen Ausbildungen in der Krankenpflege, der Kinderkrankenpflege und der Altenpflege ab. Nach der Ausbildung bieten sich vielfältige Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten in nahezu allen Bereichen des Gesundheitswesens.
Grundlage für eine positive Weiterentwicklung der Pflege bleibt aber eine angemessene Personalausstattung und Bezahlung.
Besonders für die Berufe mit Schichtarbeit ist es außerdem wichtig, Beruf und Familie gut vereinbaren zu können. Die Zeiten der Kinderbetreuung müssen mit den Arbeitszeiten der Eltern gut vereinbar sein. Flexible Dienst- und Schichtpläne und freie Tage müssen verlässlich geplant werden können.
"Ambulante Dienste leisten in der Versorgung Pflegebedürftiger zu Hause einen wertvollen Beitrag"
Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml will Angehörige entlasten:
"Pflegekräfte leisten tagtäglich Großartiges für unsere pflegebedürftigen Menschen - zu Hause, in einer stationären Einrichtung oder im Krankenhaus.
Gerade in der Corona-Pandemie hat das vorbildliche Engagement unserer Pflegekräfte erheblich dazu beigetragen, dass so vielen Erkrankten geholfen werden konnte. Dafür haben sie Dank und Anerkennung verdient. Ich freue mich sehr, dass wir Pflegende mit dem Corona-Pflegebonus als Zeichen unserer Wertschätzung unterstützen können. Bislang haben wir insgesamt schon knapp 50 Millionen Euro an Pflegerinnen und Pfleger ausbezahlt. Es liegen bereits fast 329.000 Anträge vor, mehr als 110.000 davon sind bereits vollständig abgeschlossen.
Wenn es um die Würdigung von erbrachter Pflegeleistung geht, dürfen wir jedoch nicht nur an professionelle Pflegefachkräfte denken, denn rund die Hälfte der etwa 400.000 Pflegebedürftigen in Bayern werden ausschließlich von Angehörigen betreut und gepflegt. Besonders auch den pflegenden Angehörigen, die sich oftmals für lange Zeit rund um die Uhr um pflegebedürftige Angehörige kümmern, gebührt hohe Anerkennung.
"Wichtiger Bestandtteil"
Für die Entlastung von pflegenden Angehörigen sind Tagespflegeeinrichtungen ein wichtiger Bestandteil in der Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Für Betroffene ermöglicht diese Versorgungsform ein möglichst langes Verbleiben in den eigenen vier Wänden, für pflegende Angehörige bieten sie eine wichtige Entlastung. Die stundenweise Entlastung von Betreuung und Pflege der Angehörigen dient insbesondere auch dem Erhalt der physischen wie auch psychischen Gesundheit der Angehörigen. Nachdem die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie angeordnete Ausgangsbeschränkung am 31.03.2020 auch den Besuch einer Tagespflegeeinrichtung nicht mehr ermöglichte, standen die Angehörigen vor großen Herausforderungen. Mit der Umwandlung am 6.5.2020 in eine Kontaktbeschränkung war dann der Besuch einer Tagespflegeeinrichtung unter Beachtung entsprechender Schutzmaßnahmen wieder möglich.
Wir setzen uns daher intensiv für die Entlastung pflegender Angehöriger ein. Ambulante Dienste leisten in der Versorgung Pflegebedürftiger zu Hause einen wertvollen Beitrag. Zur Stärkung der häuslichen Versorgung und Unterstützung pflegender Angehöriger tragen insbesondere auch die rund 1.270 Angebote zur Unterstützung im Alltag bei, zu denen beispielsweise Helferkreise und Betreuungsgruppen gehören. Damit hier alle Räder ineinandergreifen, haben wir in Bayern ein in dieser Form bundesweit einzigartiges Beratungsnetzwerk. Fast in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt gibt es eine Fachstelle für pflegende Angehörige. Wer Rat und Unterstützung braucht, kann sich an diese Fachstellen wenden.
Fachstellen für Angehörige
Bayern fördert die rund 110 Fachstellen für pflegende Angehörige im Land mit 1,6 Millionen Euro jährlich. Die Fachstellen für pflegende Angehörige haben die Aufgabe, durch Beratung sowie begleitende Unterstützung pflegende Angehörige psychosozial zu entlasten. Sie bieten auch eine telefonische Beratung sowie eine Beratung per E-Mail an. Einzelne Fachstellen für pflegende Angehörige sind im Zuge der Corona-Pandemie zunehmend dazu übergegangen, pflegende Angehörige proaktiv telefonisch zu kontaktieren, um diese entsprechend aufzufangen und zu unterstützen.
Mein besonderer Dank gilt neben den Pflegefachkräften insbesondere auch den vielen pflegenden Angehörigen, die sich auch in diesen schwierigen Zeiten um die ihnen nahestehenden Pflegebedürften kümmern. Außerdem danke ich den vielen Ehrenamtlichen für ihre Unterstützung älterer und pflegebedürftiger Menschen."
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