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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Leute wie Jawad sind für uns hier unerlässlich"
Seit fünf Jahren in München: Was ein junger Afghane erreicht hat - und noch erreichen will
"Jawad" steht auf dem orangefarbenen Button, darunter prangt ein Smiley. Der junge Mann, der den Anstecker an seinem Pulli trägt, heißt Jawad. Und meistens lächelt er. Wenn er spricht. Wenn er jemandem zuhört. Wenn er hilft. Der 20-Jährige ist an diesem Tag sehr gefragt. So wie an den anderen auch, hier in der Flüchtlingsunterkunft in der Hofmannstraße. Vor dem ehemaligen Siemens-Bürogebäude wird ein Fest gefeiert. Bewohner und Ehrenamtliche treffen sich, essen gemeinsam und ratschen, Kinder spielen mit Bällen oder machen Seifenblasen.
Als 15-Jähriger allein in München
Die AWO hat in der Einrichtung den Asylsozialdienst übernommen. Stefan Kühn, Leiter des Sozialdienstes der AWO, klopft Jawad auf die Schulter. "Leute wie Jawad sind für uns hier unerlässlich", sagt er. Stefan Kühn und Jawad kennen sich seit fünf Jahren. Seit damals, als Jawad 15 Jahre alt war, durch vier Länder gereist und schließlich in München gestrandet war. "Ich komme aus Afghanistan", sagt Jawad und lächelt. Dann beginnt er zu erzählen, mit weichem Akzent und nahezu fehlerfrei.
Eine Chance wenigstens für einen
"Meine Familie wurde vertrieben. Sie wollte ein besseres Leben für mich und entschloss sich deshalb, mich loszuschicken." So lässt im Jahr 2010 eine Mutter irgendwo in Afghanistan ihren ältesten Sohn los, in der Hoffnung, er möge die Chance auf ein besseres Leben haben, auf Bildung und vor allem: auf Sicherheit. Und so beginnt Jawads Reise, die ihn zunächst nach Pakistan und Griechenland und dann mit dem Flugzeug nach Österreich führt. Dort besteigt er einen Laster und gelangt nach München. Als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling.
Endlich lernen dürfen
"Das Jugendamt hat beschlossen, dass ich hierbleibe", sagt Jawad. Also bleibt er. Der Jugendliche spricht kein Wort Deutsch. Er kann nicht lesen, nicht schreiben, er hat eine Schule noch nie von innen gesehen. "Ich habe mit fünf, sechs Jahren angefangen zu arbeiten", blickt er zurück. In Deutschland bekommt er die Chance, nun das zu tun, wovon er schon seit seiner Kindheit geträumt hat: endlich lernen. "Ich habe mir das immer gewünscht, immer wenn ich die anderen Kinder aus reicheren Familien morgens mit ihren Schultaschen gesehen habe", sagt der 20-Jährige.
Lehre gerade abgeschlossen
Er ergreift die Chance, besucht eine Übergangsklasse in einer Mittelschule, lernt schreiben, lesen, deutsch, kommt in die 9. Klasse und macht seinen qualifizierenden Hauptschulabschluss. Hart sei es schon gewesen, am Anfang, so ganz ohne Sprachkenntnisse. "Aber für mich war einfach das Wichtigste, dass ich in die Schule gehen darf", sagt Jawad. Seine Lehre zum zahnmedizinischen Fachangestellten hat er dieses Jahr abgeschlossen. Jetzt hilft er Stefan Kühn, seinem ersten Betreuer von damals, in der Flüchtlingsunterkunft. Jawad hat hier eine Vollzeitstelle bei der AWO, arbeitet von 8.30 Uhr bis 17 Uhr, "manchmal auch länger". Mit seinen Erfahrungen und seinen Sprachkenntnissen bekommt er schnell einen direkten Draht zu vielen Bewohnern. Und mit seiner offenen Art.
"Ich würde gerne Abitur machen"
Jawad fühlt sich wohl in München. Er hat Freunde, geht gerne ins Kino oder spielt Fußball. Weitere Ziele hat er auch. "Ich würde gerne das Abitur machen und dann Zahnmedizin studieren", sagt er. "Das ist mein Traum." Dann zuckt er die Schultern und wird plötzlich ernst. Das Lächeln ist weg. "Aber ich weiß nicht, ob ich das kann." Damit meint er nicht seine Fähigkeiten, sondern sein Verantwortungsgefühl. "Meine Mutter und meine zwei jüngeren Brüder leben inzwischen im Iran." Die Mutter sei krank, ihr und den 13- und 15-jährigen Brüdern gehe es nicht so gut. "Ich unterstütze sie. Ich möchte, dass meine Brüder in die Schule gehen."
Wohnung gesucht
Und noch etwas macht Jawad derzeit große Sorgen: "Ich brauche dringend eine Wohnung oder ein WG-Zimmer. Im Moment lebe ich in einer AWO-Wohngemeinschaft. Aber die Jugendhilfe endet und ich muss raus. Wenn ich nichts finde, muss ich wahrscheinlich erst einmal ein Mehrbettzimmer in einer Pension beziehen. Das Geld würde ich lieber für eine Miete ausgeben."
Wer kann bei der Wohnungssuche helfen? Kontakt bitte über die AWO, Telefon 0151 / 42 47 16 38.
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