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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Wir werden auf das Messbare reduziert"
Der Klammergriff der Digitalisierung: Womit bezahlen wir unsere Bequemlichkeit?
Es war einmal ...
Die schöne Königstochter glaubt sich bei den sieben Zwergen in Sicherheit. Aber obwohl sie es besser weiß, kann sie dem verlockenden Apfel, der ihr angeboten wird, nicht widerstehen. Der schnelle Zugriff kostet sie beinahe ihr Leben.
Schneewittchen erzählt von unserer Unüberlegtheit und den oft nicht absehbaren Folgen, die wir ausbaden müssen.
Längst Realität
Es ist keine Vision für die Zukunft mehr, sondern schon längst Realität: Die Digitalisierung hat den Alltag der Menschen fast überall auf der Welt fest im Griff. Convenience und Internet der Dinge, Überwachungsmöglichkeiten durch Digitalisierung, das selbstfahrende Auto, der Kühlschrank, der bei Bedarf automatisch Lebensmittel nachbestellt oder Fitnassarmbänder, die alle Gesundheitsdaten an die Krankenkassen melden: die Vernetzung ist in vollem Gange und nicht mehr aufzuhalten. Es stellt sich deshalb die Frage, womit die Menschen ihre Bequemlichkeit eigentlich bezahlen?
„In vielerlei Hinsicht mit unserer Souveränität“, sagt Yvonne Hofstetter, Autorin des Bestsellers „Sie wissen alles“. „Damit akzeptieren wir gleichzeitig auch, dass die Vereinigten Staaten, sprich Google, NSA oder Amazon, auf unseren kompletten Datenströmen sitzen und alles nachvollziehen können, was wir machen und tun. Das fällt erstmal nicht auf, denn Freiheit ist, so lange sie da ist, etwas Selbstverständliches. Wir bezahlen mit unserer Handlungs-, Willens- und Meinungsfreiheit sowie mit der Freiheit, frei wählen zu können“, so die Geschäftsführerin der Teramark Technologies GmbH, die auf den Feldern Künstlicher Intelligenz, Industrie 4.0 und Big Data arbeitet.
Wer die Digitalisierung genauer anschaue, könne erkennen, wie viele Grundrechtsverletzungen passieren. Dies sei der Preis für die Bequemlichkeit. „Die jungen Menschen, die sogenannten Digital Natives, halten die Grundrechte und deren Verteidigung nicht mehr für wichtig. Sie wollen lieber die Bequemlichkeit der Digitalisierung in Anspruch nehmen“, erklärt Yvonne Hofstetter.
"Nicht in die Tasche lügen"
Die Digitalisierung könne man nicht nur in Schwarz oder Weiß aufteilen, meint Georg Eisenreich, Staatssekretär im Bayerischen Staatministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst. „Wir brauchen uns auch nicht selber in die Tasche lügen, dass wir sie aufhalten können. Die Digitalisierung ist ein weltweiter Megatrend, der alle Lebensbereiche umfassen wird.“ Sie biete aber auch große Chancen „und die wollen wir in Bayern nutzen, ohne dabei die Risiken aus dem Blick zu verlieren.“ Man habe im Freistaat viel erreicht, eine hohen Lebensstandard und eine hohe Beschäftigung. „Und wer viel hat“, so Georg Eisenreich weiter, „der kann auch viel verlieren. Das würden wir auch tun, wenn wir uns in eine reine Abwehrhaltung gegen einen Trend begeben, der nicht aufzuhalten ist.“
"Beliebigkeit der Informationsbeschaffung"
Die Politik bemühe sich darum, die Digitalisierung sinnvoll zu gestalten. „Das Wichtigste ist, dass wir unsere jungen Bürger in der Schule begleiten, damit sie auch in einer digitalen Welt eigenverantwortliche, souverän und ethisch handelnde Menschen und mündige Bürger werden“, erklärt der Staatssekretär. Dies sei eine große Herausforderung. „Damit ändert sich auch die Aufgabe der Schulen, denn hier werden die Schüler schließlich auf die Welt von morgen vorbereitet.“
Ähnlich sich das Richard Berndt: „Wichtig ist, kritisch mit den Informationen umzugehen. Das den Schülern klar zu machen, ist eine ganz schwierige Aufgabe“, sagt der Oberstufenkoordinator des Ludwigsgymnasium. „Ich sehe die Gefahr vor allem in der Beliebigkeit der Informationsbeschaffung. Als junger Menschen weiß man nicht unbedingt, wie die Informationen richtig einzuordnen sind. Im Internet kann jeder alles schreiben. Was stimmt, was nicht stimmt, weiß keiner. Dadurch informiert man sich nur noch oberflächlich.“
Digitalisierung verstehen
Georg Eisenreich betont in diesem Zusammenhang, wie wichtig Kompetenzen seien und die Fähigkeit, Digitalisierung zu verstehen. „Das muss für alle Schüler Thema sein. Wir haben deshalb die Lehrpläne überarbeitet, so dass es an allen weiterführenden Schulen zukünftig Informatik geben wird.“
Das hält auch Valentin Lampelsdorfer, Schüler am Ludwigsgymnasium, für bedeutend. „Informatik an der Schule finde ich extrem wichtig. Aber wir sind noch nicht so weit und lernen hier nicht so viel, dass wir es auch im späteren Leben verwenden können. Da müsste noch viel mehr gemacht werden“, so der 17-Jährige. „Grundsätzlich sollte man die Schulen digital besser ausstatten und auch die Lehrer diesbezüglich besser bilden.“
Mit dem schnellen Zugriff auf viele Informationen scheinen die klassischen Lerntechniken wie Vokabelhefte in Vergessenheit zu geraten. Auch das handschriftliche Schreiben könnte an Bedeutung verlieren, wenn die Digitalisierung weiter voranschreitet. „Es ist eine Lüge, dass niemand mehr ein Vokabelheft hat“, sagt Valentin Lampelsdorfer. „Es gibt immer noch Hefte, wir müssen immer noch abschreiben.“
Und Georg Eisenreich betont: „Für uns ist der Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien die vierte Kulturtechnik. Das heißt auch, dass es noch drei andere gibt: Lesen, Rechnen und Schreiben. Wir müssen schauen, wo digitale Medien oder Werkzeuge einen Mehrwert bieten. Zu der Entwicklung von Schülern gehört, dass sie Dinge begreifen. Und allein der Begriff sagt schon, dass sie nicht nur wischen sollen, sondern greifen, anfassen, riechen, sehen, fühlen. Das Haptische ist extrem wichtig.“
"Kritisches Bewusstsein stärken"
Bei der Digitalisierung gehe es vor allem um Mathematik, erklärt Yvonne Hofstetter. „Das ist der Kern dahinter. Man braucht große analytische Fähigkeiten und die gewinnt man nicht, wenn man das Schreiben abschafft.“ Trotzdem, so erzählt Richard Berndt, werde er im Unterricht immer wieder von seinen Schülern gefragt, warum sie mit der Hand mitschreiben müssen. „Schreiben ist so wichtig. Das ist in der heutigen Zeit aber wahnsinnig schwer zu vermitteln.“ Seiner Ansicht nach ist es aber auch wichtig, bei den Schülern das kritische Bewusstsein zu stärken. „Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke: Was haben wir politisch diskutiert. Das muss wieder verstärkt in den Fokus gerückt werden.“ Das sieht auch Georg Eisenreich so: „Diskussion ist eine Grundlage von Demokratie und muss so auch in der Schule stattfinden.“ Schule müsse Wissen und Können vermitteln, aber auch die Persönlichkeit und den Charakter formen.
Auf das Messbare reduziert
Das Problem bei der Digitalisierung sei, dass die Menschen auf das Messbare, das Quantifizierbare oder das Ökonomische reduziert würden, erklärt Yvonne Hofstetter. „Der Mensch ist ein Datenhaufen, die ultimative Maschine, ein Algorithmus – das sind auch die Sprüche, die wir aus dem Silicon Valley hören. Alles andere, was noch da ist und uns als Mensch ausmacht, zum Beispiel das Selbstbewusstsein, das Bewusstsein generell, die Persönlichkeit – das ist nicht sichtbar und auch nicht messbar.“
Die Künstliche Intelligenz sei eine Universaltechnologie des 21. Jahrhunderts. „Alles was wir smart machen, wird vernetzt und dient dazu, Daten aus unserer Umwelt und unserem Leben zu erfassen“, betont die Bestsellerautorin. „Diese Messdaten werden von künstlichen Intelligenzen verarbeitet, um unser Leben zu optimieren. Optimierung ist also der Euphemismus.“
"Europa muss sich auf die Hinterbeine stellen"
Ganz viele Kernkonzepte der Künstlichen Intelligenz seien zudem in Europa entwickelt worden. „Das ist nichts amerikanisch, Google beziehungsweise Alphabet hat es nur gekauft“, sagt Yvonne Hofstetter. „Wir als Europäer müssen uns auf die Hinterbeine stellen und unsere eigene digitale Infrastruktur aufbauen. Wir sind gerade dabei, das Ganze zu verschlafen.“
Unterstützung bekommt sie hier von Georg Eisenreich: „Das stimmt. Europa ist hochentwickelt, wir haben einen hohen Standard und wir können gemeinsam in diesem Markt mit 500 Millionen Menschen viel erreichen“, meint er. „Die Digitalisierung ist technologiebetrieben. In China werden die Möglichkeiten der Digitalisierung anders genutzt als in einer Demokratie wie Deutschland. Und selbst in einem Rechtsstaat wie der USA werden die Möglichkeiten anders genutzt und vorangetrieben. Insofern ist für es Deutschland und Europa umso wichtiger, dass wir unser Wertesystem und unsere Rechte auch in einer digitalen Welt sichern. Das ist eine Kernaufgabe der europäischen Demokratien – sprich der Politik, der Wirtschaft aber auch der Gesellschaft.“
Eine märchenhafte Frage
An welche Märchenszene erinnern Sie sich heute noch besonders?
Unsere Gäste antworteten:
Richard Berndt: "Als Kind habe ich nie verstanden, wieso Rotkäppchen nicht merkt, dass der Wolf in der Großmutter steckt. Wenn ich das auf Digitalisierung beziehe, dann geht es um das genaue Hinschauen und Hinterfragen."
Yvonne Hofstetter: "An das Mädchen mit den Schwefelhölzern, das dreimal gezogen hat und dann verstorben ist. Aber drei Mal hat sie die Verheißung gesehen. Sie hat die Hoffnung und die Vision, die darüber hinaus geht. Das kann man auch auf die Digitalisierung beziehen. Wir sollten nicht nur das Messbare und Sichtbare anschauen, sondern darauf achten, was den Menschen ansonsten noch ausmacht."
Georg Eisenreich: „Hans im Glück. Das ist ein sympathischer und entspannter Mensch. Er zeigt uns, dass man keinen Reichtum braucht, um zufrieden und glücklich zu sein.“
Valentin Lampelsdorfer: "Das Thema Hinterfragen gibt es auch bei Schneewittchen. Wenn die Stiefmutter mit dem Kamm vorbeikommt, habe ich mich immer gefragt, wie dumm ist eigentlich das Schneewittchen, wenn es aufmacht und sich darauf einlässt. Und das drei Mal hintereinander. Im Grunde ist es heute bei der Digitalisierung auch so, weil die Gesellschaft die Risiken zwar kennt, sie aber als viel zu gering einschätzt."
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Richard Berndt (Oberstufenkoordinator Ludwigsgymnasium)
Yvonne Hofstetter (Geschäftsführerin TERAMARK Technologies GmbH und Autorin "Das Ende der Demokratie")
Georg Eisenreich (Staatssekretär im Bayerischen Staatsministerium für Bildung, und Kultus, Wissenschaft und Kunst)
Valentin Lampelsdorfer (Schüler am Ludwigsgymnasium)
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Unsere Sommergespräche
Alle unsere Sommermärchen finden Sie online hier: www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2506).
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