"Wir verstehen uns in erster Linie als Anwälte für Benachteiligte"
Andrea Betz über Kinder in Armut und fehlende Fachkräfte, das Sich Einmischen und echte Schätze
Andrea Betz ist seit Oktober die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Münchner Wohlfahrtsverbände (ARGE Freie München). Sie übernahm diese Funktion von Günther Bauer, dem Vorstand der Inneren Mission, der in wenigen Wochen in den Ruhestand geht. Andrea Betz wird die Funktion der Sprecherin bis zum Ende der Federführung der Diakonie am 31.12.2020 ausüben.
Zur ARGE gehören Arbeiterwohlfahrt (AWO), BRK, Caritasverband, Innere Mission, Israelitische Kultusgemeinde und Paritätischer Wohlfahrtsverband. Diese Spitzenverbände beschäftigen zusammen über ca. 20.650 Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen, Diensten und Projekten aller Art in München. Zudem engagieren sich mit ihnen etwa 19.000 Ehrenamtliche.
"Wir mischen uns ein"
Sie sind die neue Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (ARGE) und vertreten sechs starke Sozialverbände. Was kann die ARGE, was diese einzelnen Wohlfahrtsverbände nicht alleine können? Sprich: Welche Aufgaben hat die ARGE?
Andrea Betz: Gemeinsam sind wir stärker! Wenn wir zusammenhalten, haben wir eine sehr gewichtige Stimme. Etwa 21.000 Mitarbeitende und fast ebenso viele Ehrenamtliche sind in den 600 Mitgliedsorganisationen der Verbände aktiv. Die ARGE ist die Spitze der Verbände und damit zentrale Ansprechpartnerin für Stadtverwaltung und Stadtpolitik. Sie vertritt die Münchner Wohlfahrtsverbände auch nach außen. Wir entwickeln in unseren rund 60 Fachgremien gemeinsame Positionen, um vor allem benachteiligten Menschen gleiche Lebenschancen zu ermöglichen. Mit unseren sozialpolitischen Forderungen mischen wir uns aktiv in die Stadtpolitik ein.
"Alle gehören bedingungslos dazu"
Unsere Stadt hat ja ein sehr enges soziales Netz – auch dank der Wohlfahrtsverbände. Der Begriff „Soziales“ klingt für viele Menschen dennoch nach Problemen oder Hilfsbedürftigkeit. Sehen wir uns die andere Seite an: Was ist in Ihren Augen die größte Leistung der Wohlfahrtsverbände in München? Und was läuft bei uns richtig gut?
Andrea Betz: Sozial heißt für mich Engagement, Solidarität und Gemeinschaft. Sich für andere interessieren, sich einfühlen, sich für sie einsetzen - und auch mal eigene Interessen zurückstellen. Sozial heißt, es geht nicht um eine „Ich-Gesellschaft“, in der sich die Stärksten und Reichsten durchsetzen. Sondern um eine „Wir-Gesellschaft“, in der sich die Starken für die Schwachen einsetzen, damit diese möglichst aus eigener Kraft an der Gemeinschaft teilhaben können. Das leben und fördern wir von Seiten der Wohlfahrtsverbände mit unseren haupt- und ehrenamtlichen Kräften.
Wir setzen uns für eine Gesellschaftsform ein, in der alle Menschen bedingungslos dazugehören. Gemeinsam mit der Landeshauptstadt München sind es besonders die Träger der freien Wohlfahrt, die Angebote und Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich betreiben. Beispielsweise wäre es ohne die freien Träger der Wohlfahrtsverbände nicht möglich gewesen, den gesetzlichen Anspruch auf Kita-Betreuung so schnell umzusetzen. Ohne die Erfahrung der Wohlfahrtsverbände im Migrations- und Flüchtlingsbetreuung, hätte der Ansturm 2015 nicht in dieser Form bewältigt werden können.
"Die Ehrenamtlichen sind Gold wert"
Sie kommen aus dem Bereich bürgerschaftliches Engagement. Ohne Ehrenamtliche wären nicht nur die Wohlfahrtsverbände wesentlich schwächer, sondern unser aller Lebensqualität wäre weniger hoch. Wie bewerten Sie das Ehrenamt? Was kann es leisten, was braucht es?
Andrea Betz: Die Ehrenamtlichen sind wahre Schätze! Bürgerschaftliches Engagement ist gelebte Nächstenliebe und trägt zum Miteinander, zu sozialem Frieden und einer solidarischen Stadtgesellschaft bei. Die jüngste Umfrage zeigt, dass sich jeder zweite und jede zweite Münchnerin ehrenamtlich engagiert. Das ist stark.
Neben der Urkunde „München dankt“ gibt es seit Neuem auch die Münchner Ehrenamtskarte als Dankeschön für Ehrenamtliche. Das ist eine schöne Wertschätzung von Seiten der Landeshauptstadt.
Gerade aufgrund der Erstarkung rechter Gruppierungen, die unsere Demokratie zusehends gefährden, ist das Zeichen der Ehrenamtlichen, das sie mit ihrem Engagement setzen, Gold wert.
Die letzten großen Solidaritätsaktionen #ausgehetzt, #ausspekuliert und das Volksbegehren zum Artenschutz oder der Radentscheid zeigen, dass es eine wache und aktive Zivilgesellschaft in München gibt.
"Das ist in der Tat eine Gefahr"
Wenn die freien Wohlfahrtsverbände viele soziale Leistungen erbringen, könnte sich der Staat an mancher Stelle bequem zurücklehnen und sie „mal machen lassen“. Sehen Sie die Gefahr, dass der Staat eigene Aufgaben an die Verbände und / oder Ehrenamtlichen abschiebt?
Andrea Betz: Es ist selbstverständlich so, dass Wohlfahrtsverbände soziale und gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Nicht nur der Staat oder die Kommune erbringen Leistungen, sondern auch viele andere Akteure, beispielsweise die Kirchen. Und die Sozialverbände, die das auf Augenhöhe und in Kooperation mit der öffentlichen Seite tun. Die öffentliche Hand muss die Personal- und Sachkosten der sozialen Träger finanzieren. Das ist leider nicht immer der Fall. Etwa ist die Flüchtlings- und Integrationsberatung nicht vollständig gefördert. Die Träger bringen hier enorme Eigenmittel ein und sind auf Spenden angewiesen.
Zusätzlich kommt es gelegentlich vor, dass Ehrenamtliche Aufgaben übernehmen, die eigentlich Hauptamtliche erledigen sollten – aber aufgrund eines schlechten Personalschlüssels nicht machen können. Das ist in der Tat eine Gefahr. Deshalb setzt sich die ARGE verstärkt für eine ausreichende Personalausstattung im Sozial- und Gesundheitsbereich ein.
Durch eine neoliberale Politik ist in vielen sozialen Bereichen eine übertriebene Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitssystems entstanden. Die Bürokratisierung hält die Fachkräfte bedauerlicherweise zu oft von ihrer eigentlichen Kernaufgabe, der Arbeit mit den Menschen, ab.
"Schwerpunkt sind immer die Menschen"
Neben dem bürgerschaftlichen Engagement waren Sie im Bereich Migration und Wohnen tätig und in der Leitung eines Alten- und Pflegeheims: Sind diese Bereiche auch in Ihrer neuen Funktion Schwerpunkte? Welche Akzente möchten Sie setzen?
Andrea Betz: Schwerpunkt sind bei uns immer die Menschen, die unserer Hilfe bedürfen. Grundsätzlich vertrete ich alle sozialen und gesundheitlichen Themen. Je nach gesellschaftlicher Veränderung gewinnen bestimmte Themen eine höhere Priorität. Die Kinder- und Jugendhilfe ist beispielsweise ein sehr ausdifferenzierter Bereich. Zu allen Themenbereichen gibt es Gremien, in denen die Fachleute zusammensitzen, diskutieren und Positionen aufbereiten. Deren Meinung ist mir sehr wichtig. Von Vorteil ist, dass ich Sozialarbeiterin und seit mehr als 15 Jahren in verschiedenen Fachbereichen der Sozialen Arbeit tätig bin. Daher kenne ich auch so manches Querschnitts- und Problemthema. Die hauswirtschaftliche Versorgung von älteren Menschen, die Integration von Flüchtlingen und besonders die Chancengerechtigkeit für Kinder sind mir wichtige Anliegen.
"Gezielte Lobbyarbeit für soziale Beruf"
Die Wohlfahrtsverbände sind echte „Lebenshelfer“ - ihr Angebot reicht von Rettungsdienst bis Schuldnerberatung, von Kleiderkammern bis Altenpflege, von Berufsvorbereitung bis Essen auf Rädern. Im Grunde findet man in jeder Lebenslage Hilfe. Die meisten Menschen unterschätzen die Vielfalt dieses Angebots. Stellen die Verbände ihr Licht nicht zu sehr unter den Scheffel?
Andrea Betz: Wir verstehen uns in erster Linie als Anwälte für Benachteiligte. Sich für Menschen einsetzen, bedingt oft, dass wir unsere Profession selbst nicht so in den Vordergrund stellen. Für mich ist das aber kein Widerspruch. Marketing und Öffentlichkeitsarbeit müssen sein. Wir müssen die Sozial- und Gesundheitsberufe genauso bewerben, wie die Bahn das ICE-Fahren. Nur der entsprechende Werbeetat ist bei uns leider noch nicht vorhanden. Der Sozial- und Gesundheitsbereich leidet unter einem großen Fachkräftemangel. Deshalb ist gezielte Lobbyarbeit für soziale Berufe ein großes Thema für mich.
Auch sind wir immer dankbar für Spenden zugunsten unserer Arbeit. Da ist Transparenz das oberste Gebot: Die Spenderinnen und Spender müssen wissen, wofür ihre Spende verwendet wird.
Aktuell stecken wir Energie in unsere ARGE-Kampagne zur Kommunalwahl 2020. Sie steht unter dem Motto „Weil alle Menschen zählen – sozial wählen“. Wir mischen uns ein in den Wahlkampf und fühlen den Kandidatinnen und Kandidaten für den Stadtrat auf den sozialpolitischen Zahn.
"Die Schere zwischen Arm und Reich geht auf"
Wir erleben gerade eine absurde Situation. Noch nie ging es so vielen Menschen in unserer Stadt so gut wie gegenwärtig – zugleich fühlt es sich an, als würde die Gesellschaft große Risse bekommen und die Schere zwischen den einzelnen Lebenswelten immer weiter auseinandergehen. Gibt dieser Eindruck die Wirklichkeit wieder?
Andrea Betz: Die Schere zwischen Arm und Reich geht in München, einer der wohlhabendsten Städte Deutschlands, immer weiter auseinander. Etwa 12 Prozent der Kinder in München leben in Armut und mehr als 17 Prozent leben hier in relativer Armut. Gleichzeitig verfügen 20 Prozent der Bevölkerung über fast die Hälfte des gesamten Einkommens.
Die Mittelschicht ist nicht mehr in der Lage, ausreichend Vermögen anzusparen. Die Mieten sind häufig für Familien mit zwei Vollverdienenden nicht mehr bezahlbar und stellen inzwischen ein Armutsrisiko dar.
Auch gesellschaftliche Trends, wie klimabewusst und nachhaltig Leben, sind bisher ein Privileg für Besserverdienende.
Der Zulauf der Menschen bei Lebensmittelausgaben und Kleiderkammern ist besorgniserregend. Hier ist der Staat in der Pflicht.
"Bezahlbaren Wohnraum verschaffen"
Stellen Sie sich vor, Sie wären Königin von Deutschland – oder zumindest Kurfürstin in München - und könnten eine Sache einfach so und sofort ändern: Was würden Sie tun?
Andrea Betz: Erstens würde ich allen Familien, die in Unterkünften der Wohnungslosen- oder Flüchtlingshilfe leben, eigenen bezahlbaren Wohnraum verschaffen. Damit sie ein Zuhause und die Kinder und Jugendlichen ausreichend Spiel-, und Lernmöglichkeiten haben. Zweitens würde ich sofort die Ankerzentren schließen. Und drittens eine riesige crossmediale Werbekampagne für Sozial- und Gesundheitsberufe starten – und eine bessere Bezahlung für diese Berufe einführen.
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