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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
Wer kann schneller lesen als seine Verwandten und Kollegen?
Peter Rösler über Lesen und Verstehen, über die Suche nach Talenten, über Biohöfe und Bischöfe
Es gibt in München geschätzt 3.000 sogenannte „natürliche Schnell-Leser“. Peter Rösler will sie untersuchen. Er selbst ist ein „gelernter“ Schnell-Leser: Er steigerte im Jahr 2002 seine Lesegeschwindigkeit von ursprünglich 233 Wpm (Wörter pro Minute) innerhalb von zwei Monaten auf 450 Wpm. Im Jahr 2005 absolvierte er das aufwändigste auf dem Markt erhältliche Training (Einzeltraining zum Erlernen des rein optischen Schnell-Lesens). In den Jahren 2006 bis 2009 sichtete er in Zusammenarbeit mit Prof. Jochen Musch von der Universität Düsseldorf einen Großteil der wissenschaftlichen Publikationen zum Speed Reading. Rösler ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schnell-Lesen, die im Januar ihren zehnten Geburtstag feiert und weitere Schnell-Leser sucht. Peter Rösler beantwortete Fragen von Johannes Beetz.
Eine Seite pro Minute ist "normal"
Schnell lesen klingt auf den ersten Blick nach „oberflächlich“: Wie werden schnell gelesene Texte verstanden?
Peter Rösler: Eine der drei bekannten Schnell-Lese-Arten ist tatsächlich oberflächlich, das sogenannte „Lesemanagement“. Man liest „selektiv“ und hofft, dass man die wichtigsten Stellen im Text erwischt hat. Bei den anderen beiden Schnell-Lese-Arten, dem „kleinen“ und dem „großen“ Schnell-Lesen, nimmt ein Leser den Text aber komplett auf.
Es gab mal Berufe, in denen Schreibmaschinen wichtig und daher „Anschläge pro Sekunde“ ein entscheidendes Messkriterium für Talente war. Kann man Lesegeschwindigkeit ähnlich konkret messen?
Peter Rösler: Sehr genau sogar, nämlich in „Wörtern pro Minute“, abgekürzt Wpm.
Wie viele Wörter oder Zeichen lesen „normale“ Menschen? Wie verändert sich das vom Kind zum Erwachsenen?
Peter Rösler: Schüler der zweiten Klasse liegen bei 120 Wpm und legen pro Schuljahr um ca. 15 Wpm zu, bis sie in der zwölften Klasse im Durchschnitt 260 Wpm erreichen. Der durchschnittliche erwachsene Leser schafft etwa 280 Wpm, also ungefähr eine Buchseite pro Minute.
1.500 Wörter pro Minute sind möglich
Wie viele Wörter pro Minute schaffen Schnell-Leser?
Peter Rösler: Wer das kleine Schnell-Lesen gelernt hat, kommt auf 400 bis 500 Wpm. Beim großen Schnell-Lesen sind sogar Lesegeschwindigkeiten von 1.500 Wpm möglich.
Warum ist der Eine Schnell-Leser und der Andere nicht? Muss man bestimmte Voraussetzungen haben?
Peter Rösler: Für das kleine Schnell-Lesen braucht man kein spezielles Talent, das klappt eigentlich bei jedem gut. Aber das große Schnell-Lesen funktioniert nur bei 50 % der Teilnehmer, obwohl sie monatelang trainieren! Wir haben die schwache Vermutung, dass sich „Augenmenschen“ leichter tun, das große Schnell-Lesen zu lernen als „Ohrenmenschen“, dass es also einen Unterschied gibt zwischen dem „Sehtyp“ und dem „Hörtyp“.
Wie erkennen Eltern, ob ihr Kind Talent zum Schnell-Lesen hat?
Peter Rösler: Kinder, die viel lesen und richtige „Leseratten“ sind, haben wohl etwas bessere Chancen, das große Schnell-Lesen zu lernen. Aber auch das ist nur eine schwache Vermutung.
"Ich kann mehr wegarbeiten"
Sie sind selbst Schnell-Leser. Was ist für Sie der größte Nutzen dieser Fähigkeit und wie wenden Sie diese an?
Peter Rösler: Durch das Schnell-Lesen spare ich geschätzt mindestens 200 Arbeitsstunden im Jahr ein und kann in meinem Beruf als Qualitätsmanager mehr „wegarbeiten“. Ich setze dabei alle drei Arten des Schnell-Lesens ein: das kleine und das große Schnell-Lesen sowie das Lesemanagement.
Auf eine Zeitungsseite wie diese hier passen etwa 9.000 Zeichen. Wie schnell können Sie eine solche Seite lesen?
Peter Rösler: Wenn ich die Seite mit 600 Wpm lese, und das ist für einen Schnell-Leser ein eher gemütliches Tempo, dann brauche ich zweieinhalb Minuten dazu.
"Gründlich überlegen"
Kann jeder Schnell-Leser werden? Und wenn ja: Wie?
Peter Rösler: Das große Schnell-Lesen zu lernen dauert Monate und ist so kompliziert, dass Interessenten lieber zuerst im Buch „Grundlagen des Schnell-Lesens“ die entsprechenden Kapitel zu Rate ziehen und sich die Sache gründlich überlegen sollten. Das PDF des Buchs ist kostenlos im Internet zu finden.
Es ist vergleichsweise einfach, das kleine Schnell-Lesen zu lernen. Acht Stunden sind dafür nötig, bestehend aus 20-minütigen Übungspaketen, die auf einen Zeitraum von mehreren Wochen verteilt werden. Hier sind wir uns aber nicht einmal im Verein „Deutsche Gesellschaft für Schnell-Lesen“ einig, auf welchen Zeitraum so ein Training gekürzt werden kann. Die meisten Trainer halten es für möglich, Schnell-Lesen in einem ein- bis zweitägigen Seminar zu lehren. Ich persönlich glaube nicht, dass sich das Training auf weniger als eine Woche komprimieren lässt, ohne dass das Leseverständnis einbricht, die Teilnehmer also ins „überfliegende Lesen“ geraten.
Schnell-Lesen ist nicht Schnell-Denken
Anders als Leseanfänger lesen wir nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern erfassen beim Lesen „Wortbilder“. Deswegen verstehen wir sogar Sätze wie „Anzgnblttr snd unvrzchtbr fr dn gsllschftlchen Zsmmnhlt“, überlesen aber auch kleine Schreibfehler. Mal ehrlich: Schnell-Lesen hat doch bestimmt auch einen solchen Haken?
Peter Rösler: Ich erlebe tatsächlich alle paar Monate eine Wortverwechslung, weil sich die Wortbilder zu ähnlich sind. Folgende Wörter habe ich beim großen Schnell-Lesen beispielsweise schon verwechselt: „Biohöfe“ mit „Bischöfe“, „kontaktlos“ mit „kostenlos“, „Kostprobe“ mit „Katastrophe“, „Autokäufer“ mit „Amokläufer“. Dann musste ich schmunzeln und den Satz nochmals lesen.
Und es gibt noch einen zweiten Haken: Schnell-Leser werden dadurch, dass sie schneller lesen können, ja nicht zu Schnell-Denkern. Wenn ein Text sehr kompliziert ist, muss man ihn langsam lesen, so ist das eben. Schnell-Lese-Schüler des kleinen Schnell-Lesens berichten nach dem Training, dass sie nur etwa ein Drittel ihres täglichen Lesestoffs schnell lesen können.
"Das bremst meinen Lesefluss"
Egal ob schneller oder langsamer: Lesen ist eine echte Schlüsselqualifikation. Das "Beliebigisieren" von Schreibweisen durch die Rechtschreib-"Reform", der verschwindende Gebrauch von Handschrift, die Nachlässigkeit beim Texten mit digitalen Geräten und Genderhürden wie Sternchen oder Binnen-I hebeln den Sprach- und Lesefluss aus. Teilen Sie diesen Eindruck oder haben Sie andere Erfahrungen?
Peter Rösler: Da ich in einem technischen Beruf arbeite, kommen in meinem Lesestoff viele neue Wörter, oft Anglizismen und viele neue Abkürzungen vor. Das bremst meinen Lesefluss viel stärker ab als beispielsweise die Änderungen, die durch die Rechtschreibreform kamen. Weil in der Rechtschreibprüfung von Computerprogrammen wie Microsoft-Word die neue Rechtschreibung unterstützt wurde, war für mich die Umgewöhnung zum Glück kein Problem.
"Wir kennen nur zwei von 3.000"
Sie schreiben, dass manche Menschen das große Schnell-Lesen von Natur aus beherrschen, ohne jemals ein Schnell-Lese-Training besucht zu haben. Wie häufig sind solche „natürlichen Schnell-Leser“?
Peter Rösler: Wir vermuten, dass ungefähr eine aus 500 Personen diese Begabung hat. Allein in München mit 1,5 Millionen Einwohnern müsste es also 3.000 natürliche Schnell-Leser geben. Aber wir kennen erst zwei davon! Wir würden gerne weitere natürliche Schnell-Leser kennen lernen und am 25. Januar 2020 in München untersuchen. An diesem Tag findet die zehnjährige Jubiläumsversammlung der Deutschen Gesellschaft für Schnell-Lesen statt.
"Wir freuen uns!"
Wie können unsere Leserinnen und Leser dabei helfen?
Peter Rösler: Denken Sie nach, wer in Ihrem Verwandten- oder Kollegenkreis sehr schnell lesen kann! Wer mit über 600 Wörtern pro Minute bei gutem Verständnis liest, ist höchstwahrscheinlich ein natürlicher Schnell-Leser. 600 Wörter pro Minute sind ungefähr zwei bis drei Romanseiten pro Minute. Nehmen Sie Kontakt auf, wir freuen uns über jeden Anruf und jede E-Mail.
Schnell-Leser, bitte melden
Die Deutsche Gesellschaft für Schnell-Lesen (DGfSL) ist eine deutschsprachige Fachgesellschaft, die sich mit dem Thema Schnell-Lesen befasst. Ihre etwa 100 Mitglieder werden durch einen wissenschaftlichen Beirat unterstützt, dem drei Professoren der experimentellen Psychologie angehören. Die DGfSL hat das Ziel, das Schnell-Lesen zu fördern und zu erforschen. Die DGfSL sieht sich als Ansprechpartner für alle Fragen rund um das Thema Schnell-Lesen.
Kontakt: Peter Rösler, Tel. 089-9102956 (18-21 Uhr) oder ros@reviewtechnik.de.
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