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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Es ist wie ein Blindflug"
Versicherungsexperte Holger Balodis über Altersarmut und Dukatenesel, Tricks bei der Lebenserwartung, hohe Verluste und den Weg zu sicheren Renten
Über 15 Millionen Bundesbürgern "riestern". Um auf die befürchtete Überalterung unserer Gesellschaft zu reagieren, wurde 2002 mit der Senkung der gesetzlichen Rente begonnen (bis 2030 soll sie um ein Viertel gekürzt werden). Wer seinen Lebensstandard im Alter trotzdem sichern will, soll sich selbst darum kümmern: Mit der Riester-Rente wurde damals auch eine zusätzliche private Altersvorsorge eingeführt. Wer freiwillig fürs Alter spart und 4 Prozent seines Einkommens in Riester-Verträge steckt, bekommt staatliche Zulagen oder kann steuerlich profitieren.
Doch nutzt Riester wirklich? Für über 80 Prozent der Beitragszahler ist Riester ein Verlustgeschäft, meint Versicherungsexperte Holger Balodis. Nicht so für Allianz & Co.: Die in die Kassen der privaten Lebensversicherer gespülten Summen verdoppelten sich innerhalb der letzten 15 Jahre. Holger Balodis erklärte Johannes Beetz, wie man die Renten der Normalverdiener sichern könnte.
"Die Wirtschaft profitiert"
Wem nutzt Riester?
Holger Balodis: Die Riester-Verträge nützen in erster Linie der Versicherungswirtschaft, denn die meisten Verträge werden als Versicherungen abgeschlossen. Und sie nützen Herrn Riester selbst, der ja immer noch als Handlungsreisender für seine Riester-Rente umherzieht und gute Vortragshonorare kassiert.
"Gesetzliche Rente ohne Not demontiert"
Sie behaupten, dass mit der Riester-Rente die private Versicherungswirtschaft subventioniert wird.
Holger Balodis: Die will sich vom gesamten Kuchen immer mehr abschneiden, das ist das Ziel. Wir hatten vor 2002 eine soziale Absicherung im Rentenbereich, die fast ausschließlich auf der gesetzlichen Rente basierte. Nur Selbständige und sehr gut Verdienende haben sich eine Lebensversicherung leisten können. Heute ist es so, dass praktisch jeder in dieses Segment hineingetrieben wird.
Man hat die gesetzliche Rente ohne Not mutwillig gekürzt und demontiert. Das hat man bewusst erzeugt, um zum einen der Privatversicherungswirtschaft Aufträge zuzuschanzen, und zum anderen die Arbeitgeber zu schonen, indem die Höchstgrenze für Beiträge zur Rentenversicherung auf 22 Prozent festgelegt wurde (Anm. d. Red.: Der Beitragssatz soll bis 2030 nicht über diese Schwelle klettern; weil Arbeitgeber einen Teil der Rentenversicherungsbeiträge ihrer Beschäftigten aufbringen müssen, bedeuten höhere Beiträge für sie höhere Kosten).
"Das ist nicht weiter schlimm"
Mehr Alte, weniger Junge: Das Bundessozialministerium verweist auf eine "steigende demografische Belastung", der das gesetzliche Rentensystem nicht gewachsen sei. Sie sagen: Diese demografische Belastung gibt es gar nicht.
Holger Balodis: Es stimmt: Wir haben immer mehr Alte und weniger Junge. Aber diese Entwicklung haben wir seit 100 Jahren! In den letzten 100 Jahren gab es ganz wenige Jahre, in denen es ausreichend Kinder gab. Das waren die Jahre um 1960, das war die Ausnahme. Die Regel seit 100 Jahren ist, dass wir zu wenig Kinder bekommen. Das ist aber nicht weiter schlimm. Wir hatten schon immer auch Zuwanderungsbewegungen, auch jetzt. Seit drei Jahren haben wir nicht eine schrumpfende Bevölkerung, sondern eine wachsende. Also: Die demografische Entwicklung ist gar nicht so unumkehrbar, wie immer getan wird.
"Katastrophe" wäre schnell entschärft
Dennoch haben wir wahrscheinlich in 20 oder 30 Jahren deutlich weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter. Nur: Das ist eigentlich gar kein Problem. Wir haben große Teile der Bevölkerung, die erwerbstätig sind, die wir aber aus dem System herausgedrängt haben: 7,5 Millionen Minijobber, 2,5 Millionen Selbständige, die nicht in die Sozialversicherung einzahlen. Und wir haben immer noch ein beachtliche Zahl Arbeitslose plus stiller Reserven. Zusammen sind das 12, 13 oder 14 Millionen Menschen. Wenn man davon die Hälfte in das gesetzliche System integrieren würde, hätten wir die "demografische Katastrophe" entschärft.
Nur jeder Fünfte kommt ins Plus
"Es lohnt sich für jeden", hat Walter Riester über sein Modell gesagt. Nach Ihrer Rechnung bekommen über 80 Prozent der Riester-Kunden am Ende aber weniger heraus als sie eingezahlt haben. Woran liegt das?
Holger Balodis: Von denen, die heute eine Lebens- oder Rentenversicherung abschließen, haben nur 20 Prozent die Chance, mit einem Plus rauszugehen.
Man muss wissen: Von dem, was investiert wird, werden erst einmal erhebliche Kosten abgezogen (Anm. d. Red.: das sind u.a. Abschluss-, Vertriebskosten und Provisionen für die Versicherungsvermittler). Es gibt im Einzelfall Riester-Verträge, die mit 40 % Kosten belegt werden. Dieses Geld wird der Vorsorge von Anfang an entzogen. Das kann man mit einer normalen Verzinsung nie wieder reinholen. Ich nenne das den „Kostenklau“.
Der zweite Grund, warum Verträge ins Minus rutschen: Die wenigsten Verträge werden bis zum Ende durchgehalten. Über 30 oder 40 Jahre betrachtet werden nur 20 bis 25 Prozent der Verträge durchgehalten, alle anderen vorher gekündigt. Im Schnitt sind bei einer Kündigung 50 bis 55 % der Einzahlungen futsch – der so genannte „Stornoklau“. Nahezu alle, die kündigen, gehen mit großen Verlusten heraus.
Versicherer tricksen bei Lebenserwartung
Der dritte Grund: Wer eine Rentenversicherung abgeschlossen hat (Riester und Rürup sind Rentenversicherungen, die kann man sich nicht wie die Lebensversicherungen früher komplett auszahlen lassen), muss häppchenweise warten, dass er seine Rente zugeteilt bekommt. Hier greift dann der "Lebenserwartungsklau". Die Versicherer arbeiten mit Prognosen, wie alt ihre Kunden werden. Sie wollen ja so viel Geld beiseite legen, dass es für den Kunden wirklich reicht. Sicherheitshalber gehen sie aber davon aus, dass ihr Kunde zehn, 15 oder 20 Jahre älter wird als das Statistische Bundesamt prognostiziert. Das führt dazu, dass Kunden Renten bekommen, die um etwa ein etwa ein Drittel niedriger sind als sie eigentlich sein könnten. Wenn jemand nicht so alt wird, wie seine Versicherung unterstellt, macht er Minus.
Nur das alte System verhindert Armut
Sie haben die "Rentenrolle rückwärts" vorgeschlagen, also die Rückkehr zum gesetzlichen Rentensystem, wie es bis 2001 vor Riester war.
Holger Balodis: Das ist die einzige Möglichkeit, massive Altersarmut zu verhindern. Die Hoffnung, dass sich die privaten Verträge plötzlich rentieren und lukrativ werden, können wir uns abschminken.
Die Rückkehr zum alten System ist finanzierbar. Man würde 2030 einen Beitragssatz zur Rentenversicherung von 26 % brauchen. Das bedeutet nichts anderes, als dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber je 13 % zahlen. Das wäre zumindest für die Arbeitnehmer günstiger als das, was wir jetzt haben.
Warum günstiger?
Holger Balodis: Nach aktueller Gesetzeslage gehen wir auf 22 % zu, also 11 % für beide Seiten. Für die Beitragszahler kommen aber 4 % Riester-Beitrag dazu, also liegen sie schon bei 15 % und damit über den eben angesprochenen 13 %.
Und das Schlimme ist: Mit der Belastung von 15 % erreicht man noch nicht einmal das Rentenniveau, das man früher hatte! Die 4 % Riester-Beiträge sorgen aufgrund der schlechten Ergebnisse der Riester-Versicherung bei weitem nicht dafür, dass die Lücke geschlossen werden kann. Privat müsste man, um auf das alte Rentenniveau zu kommen, 6 bis 7 % seines Bruttoeinkommens aufbringen. Die Lösung über das gesetzliche Umlageverfahren wäre für Arbeitnehmer also deutlich günstiger.
"Die Allianz hat keinen Goldschatz im Keller"
Private Versicherungen wie die Riester-Modelle sind "kapitalgedeckt". Man baut Schritt für Stück ein Vermögen auf, von dem man im Alter zehren kann.
Holger Balodis: Das ist eine Illusion. Das ist nicht so. Versuchen Sie mal, bei Ihrer Versicherung zu ergründen, wie hoch Ihr Deckungskapital ist - also das, was in Ihrer "Sparbüchse" bei Ihrer Versicherung liegt. Es wird Ihnen nicht gelingen.
Es ist ein bisschen wie ein Blindflug: Man wird mit Summen erfreut, die eventuell rauskommen könnten, aber nicht garantiert sind. Wenn in 20 oder 30 Jahren die Anlageentscheidungen der Versicherer (z.B. die Nahrungsmittelspekulationen, in die sie involviert sind) nicht aufgegangen sind, die Vertragspartner von Allianz & Co. ihren Vertragspflichten nicht nachkommen oder die Wirtschaft ganz mies läuft, können die Versicherungen uns auch keine private Rente auszahlen. Dann haben Sie zwar einen Vertrag, aber das sind nur Forderungen - kein Geld!
"Kapitalgedeckt" bedeutet eigentlich "vom Kapital abhängig". Die Allianz hat keinen Riesentresor, in dem sie das Geld lagert, es gibt keinen Goldschatz oder Dukatenesel in ihrem Keller. Es wird kein Kapital angehäuft, sondern investiert - und das kann eben auch verloren gehen und sich in Luft auflösen.
"Inflation kann nicht stattfinden"
Die gesetzliche Rente läuft in einem Umlagesystem. Ist das sicherer?
Holger Balodis: Umlagesystem bedeutet: Alles, was im Monat August 2013 an Beiträgen eingezahlt wird, wird auch im August (oder zwei Wochen später) an die Rentner ausgezahlt. Das klingt, als würde man keine Vorsorge treffen, ist aber unglaublich stabil. Das sieht man an der Wiedervereinigung: Die Ostrentner konnten von einem Monat auf den anderen integriert werden, obwohl sie nie in das System eingezahlt hatten.
An der gesetzlichen Rentenversicherung verdient keiner. Man hat Verwaltungskosten von nur 1,4 %. Gewinne abwerfen muss die Deutsche Rentenversicherung nicht, denn es gibt hier weder Aktionäre noch Provisionen für Versicherungsvertreter. Alle Einzahlungen werden sofort wieder ausgeschüttet. Es muss nichts angelegt werden, es ist nichts dem Kapitalmarkt ausgesetzt, Inflation kann nicht stattfinden.
"Der Staat haftet sowieso für Allianz & Co"
Das System ist sicher, es kann nicht aufgrund von Finanzkrisen in sich zusammenfallen. Man hat ja gesehen, was passieren kann: Der Staat hat die Hypo Real Estate gerettet, weil dort über 100 Milliarden Euro Anlagen der deutschen Versicherungen lagerten. Wäre die Hypo kollabiert, hätte das massive Folgen für die Altersvorsorge gehabt. Wenn der Staat sowieso haften muss, sobald Allianz, Ergo & Co. in Schwierigkeiten geraten, warum kann dieses System dann nicht vollkommen in staatlicher Hand betrieben werden? Das hat sich ja bewährt.
"Sozialhilfe-Renten" für jeden Zweiten?
Für wen bleiben die privaten Versicherungen sinnvoll?
Holger Balodis: Wer Geld übrig hat, kann sich bei Immobilien umsehen, ein Goldstück in den Tresor legen oder eine Lebensversicherung abschließen. Aber die Basisversorgung, die vor Armut schützt, muss über das gesetzliche System da sein.
Die jetzige Entwicklung wird dazu führen, dass ein Drittel bis nahezu die Hälfte der Bevölkerung in einigen Jahrzehnten nur noch eine gesetzliche Rente im Bereich der Grundsicherung erhält. Selbst Otto Normalverdiener bekommt dann nur noch Rente auf dem Niveau der Grundsicherung. Aber warum soll man 40 Jahre einzahlen, wenn man am Ende genau das bekommt wie einer, der nie einen Cent eingezahlt hat?
Mehr Informationen
Auf ihrem Portal www.vorsorgeluege.de informieren Holger Balodis und Dagmar Hühne mit einem aktuellen Newsletter über den Bereich der Altersversorgung, ganz egal, ob gesetzlich oder privat. Sie liefern Hintergründe und ihre Sichtweise zur laufenden Debatte und analysieren wenig beachtete Statistiken.
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