Die Lebenslüge aufgeben und den Marathon weitergehen
Beim Asylgipfel rät Prof. Stephan Lessenich, sich nicht länger der Realität zu verweigern
„Wir haben viel erreicht“, sagt Jost Herrmann über die vielen Helfer- und Unterstützerkreise, die sich in Bayern um Geflüchtete kümmern. Er ist einer der Koordinatoren der oberbayerischen Asylgipfel, die seit 2015 stattfinden. Die Helfer- und Unterstützerkreise stimmen dabei ihre Arbeit aufeinander ab, entwickeln gemeinsame Handlungsempfehlungen und geben praxisnahe Impulse, um die Ehrenamtlichen in den Helferkreisen zu stärken und ihre Arbeit vor Ort zu erleichtern.
Nun kamen die Helferkreise erstmals zu einem gesamtbayerischen Gipfel zusammen, bei dem sie ihre Forderungen an die Politik abstimmten.
"Sehen, was um uns herum geschieht"
„Diese Gesellschaft lebt in einer Lebenslüge“, stellte Prof. Stephan Lessenich (Leiter des Instituts für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München) fest, „wir verweigern uns der Realität.“ In Europa lebe man auf einer Insel der Stabilität und des Wohlstands - inmitten eines Meeres von Armut und Unsicherheit. Die Lebenslüge bestehe darin, sich abzuschotten. Stattdesen müsse man die Lebensumstände der Menschen jenseits der „Inseln“ verbessern: „Das Leben, auf das wir Anspruch erheben, können wir anderen nicht verweigern!“ Eine Alternative gebe es nicht: „Wir müssen uns damit abfinden, dass die, die da sind, in Zukunft nicht gegangen sein werden“, zitierte er Wolfgang Schäuble. Daraus gelte es die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Die bestehen nicht darin, nur potentielle Fachkräfte als Migranten ins Land zu lassen. „Es ist verlogen, von dort auch noch die besten Köpfe abzuziehen, solange man nicht zugleich die globale soziale Ungleichheit ernsthaft bekämpft!“
Die Gesellschaft müsse ihre Realität als Einwanderungsgesellschaft annehmen und solle sie nicht länger verleugnen, riet Lesennich: „Wir waren schon immer eine Einwanderungsgesellschaft und werden es immer sein“, stellte er fest und ergänzte: „Das ist eigentlich kein Problem.“ Er forderte ein „Ende der Gleichgültigkeit“ und ein „Hinsehen auf das, was um uns herum geschieht.“
Jeder, der hier sei, solle gute Lebensbedingungen haben. Das sei machbar: „Wir haben eine brummende Ökonomie“, so Lessenich, „und sind Profiteure der EU.“
Frustrationen vor Ort
Die Vertreter der Helferkreise berichteten von Unterstützung vor Ort, aber auch von vielen Fällen, in denen die Zusammenarbeit mit den Behörden nicht gelinge oder Geflüchtete trotz Integration, guter Noten und bestehender Arbeitsverträge abgeschoben werden oder ihre Ausbildungserlaubnis wieder verlieren. Das führe zu Frustrationen.
"Eine Koalition des Hirns"
Das Hauptproblem für die Geflüchteten sei die durch solche Dinge ausgelöste Perspektivlosigkeit, meinte Michael Simon (Wochenanzeiger). „Gönnen wir den Gegnern dieser Republik nicht das Feixen über unsere Frustration“, ergänzte er und riet von einer pauschalen Behördenschelte ab: Fehler beruhten dort in der Regel nicht auf Böswilligkeit, sondern auf der Überforderung von Mitarbeitern, die nicht immer Fachleute für Flüchtlingsfragen seien. Man könne nur gemeinsam etwas bewirken. Er ermutigte zum Dialog, zu einer „Koalition des Hirns“ und zu positiven Nachrichten: „Wir haben vieles, das gut läuft und gelingt“, meinte er, „wenn wir über diese Dinge berichten, sind wir viel näher an der Realität.“
Es sei von Anfang an klar gewesen, dass die Integration der Geflüchteten ein Marathon sei. „Jetzt sind wir erst bei Kilometer 3“, so Simon, „aber wir machen weiter und weiter!“
Forderungen der Helferkreise
Um dieses „Weiter“ zu gestalten, griff der Asylgipfel den in der Politik geforderten „Spurwechsel“ in der Flüchtlingpolitik auf und beschloss eine Reihe von Handlungshinweisen für ein Einwanderungsgesetz:
- Jeder Geflüchtete soll arbeiten und sich ausbilden lassen dürfen
- Regelungen sollen bundeseinheitlich gestaltet werden
- der Identitätsnachweis soll an realistische Bedingungen geknüpft werden (aus Ländern wie Somalia könne man schlicht keine Geburtsurkunden oder Pässe besorgen; hier müssten andere Dokumente wie Zeugnisse akzeptiert werden)
- ob eine Geflüchteter eine Ausbildung antreten kann, soll nicht mehr ein Landratsamt entscheiden, sondern der auszubildende Betrieb.
- Geflüchtete in Ausbildung oder Beruf sollen einen sicheren Aufenthaltsstatus haben
- Jeder Geflüchtete soll Sprachkurse besuchen dürfen.
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