"Babylonisches Bildungswirrwarr"
Diskussion um die Qualität der Bildungsabschlüsse
Vergangene Woche hatte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL) Josef Kraus leistungsstarke Bundesländes wie Bayern aufgefordert, das Berliner Abitur nicht mehr anzuerkennen. Der Grund: In einigen Bundesländern, darunter auch in Berlin, würden immer bessere Abiturnoten vergeben, obwohl die Leistungen der Schüler eher zurückgingen. Zu diesem Vorschlag äußerten sich nun auch der Verband Deutscher Realschullehrer sowie die StadtschülerInnen Vertretung München.
"Nicht auf Gymnasialabschluss beschränken"
„Die derzeitige Diskussion über die inflationäre Steigerung der Abiturschnitte sollte sich nicht nur auf den Gymnasialabschluss beschränken, sondern muss auch mit einer Diskussion der Qualität der Mittleren Bildungsabschlüsse einhergehen“, so der Vorsitzende des Verbands Deutscher Realschullehrer (VDR), Jürgen Böhm. In Berlin zum Beispiel habe sich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Abiturzeugnisse mit einem Notendurchschnitt von 1,0 vervierzehnfacht, so der Deutsche Lehrerverband. „Es ist gar nicht anders möglich, als sich hier die Frage der Leistungsprüfung, der Qualität und der Bedeutung eines solchen Abschlusses zu stellen. Angesichts der zahlreichen Möglichkeiten in Deutschland, einen Mittleren Schulabschluss zu erreichen, stellt sich auch hier ganz klar die Qualitätsfrage“, betont der VDR-Vorsitzende. So besteht ein extremer Unterschied zwischen der Qualität eines Realschulabschlusses aus Baden-Württemberg oder Bayern und der eines Mittleren Schulabschlusses aus Berlin. „Erst im Sommer wurde der zentralen Abschlussprüfung des Landes Berlin im Fach Mathematik ein Niveau der 7. Jahrgangsstufe der Realschule in Bayern attestiert. Nun macht Berlin mit sensationell guten Abiturquoten von sich reden. Hiermit ist den Schülern allerdings nicht geholfen, und ebenso wenig späteren Arbeitgebern bei der Leistungsprüfung“, merkt Böhm an.
"Individuelle Förderung im Fokus"
Den Bildungs- und Leistungsstand der Jugendlichen ausschließlich an Studien zu messen, sei jedoch auch keine Universallösung. „Die seit dem sogenannten ‚PISA-Schock’ 2000 ausgelöste ‚Testeritis’ hat wenig erreicht. Die trainierbaren Testformate werden dem einzelnen Jugendlichen nicht gerecht und sagen gar nichts über seine Gesamtpersönlichkeit und sein Leistungsvermögen aus. Letztendlich muss immer die individuelle Förderung des Jugendlichen im Fokus stehen“, hebt Böhm hervor. Hierzu trügen in keiner Weise die scheinbar einfachen Antworten einiger Bildungspolitiker bei, die seit 2000 in populistischen und vereinheitlichenden Schulstrukturreformen bestanden hätten. „Im Gegenteil: Sie haben nicht nur dazu geführt, dass in einigen Bundesländern die Qualität der Mittleren Abschlüsse auf der Strecke blieb, sondern auch die anerkannte und bewährte Realschule“, hält der VDR-Vorsitzende fest. Das „babylonische Bezeichnungswirrwar“ der Schulen variiere von Stadtteilschule über Gemeinschaftsschule bis hin zur Oberschule etc. – und der Schulbezeichnung könne kaum noch ein Bildungsgang oder Abschluss zugeordnet werden.
Kritik der StadtschülerInnen Vertretung
Was denken Münchens Schüler? Nora Fath von der StadtschülerInnen Vertretung nimmt zu Josef Kraus' Forderung folgende Stellung:
"Durch unsere föderalistische Bildungspolitik werden deutschlandweit jährlich 16 verschiedene Abiture entworfen entsprechend der 16 verschiedenen Lehrpläne. Daraus resultieren logischerweise auch unterschiedliche Prüfungsniveaus und sowieso schwankende Leistungsergebnisse. Dass diese Methodik nicht unbedingt fair ist, hat auch Josef Kraus erkannt. Zur Lösung eines solch komplexen Problems macht er einen sehr einfachen und wohl wenig reflektierten Vorschlag: 'Anspruchsvollere' Bundesländer wie Bayern sollen die Abiture 'anspruchsloser' Länder wie Berlin in Zukunft nicht mehr anerkennen. Er schlägt vor, der allgemeinen Hochschulreife zukünftig außerhalb der Landesgrenzen ihre Gültigkeit zu entziehen, sodass diese beim Betreten des Elitefreistaats Bayern zu einem wertlosen Papier wird.
Schüler sind schon lange Opfer eines fremdbestimmten, schlecht konzipierten Bildungssystems, doch nun sollen ihnen auch noch die erbrachten Leistungen aberkannt werden, nur weil sie in der 'falschen' Stadt zur Schule gegangen sind? Mit diesem überaus destruktiven Plan werden weder die Lehrpläne der einzelnen Bundesländer verbessert noch die Aufnahmekriterien der Universitäten differenzierter und somit fairer. Gleichzeitig werden wir aber bei unserer Hochschulwahl massiv eingeschränkt."
Eignungstests gefordert
Nora Fath schlägt als Fazit vor: "Aus meiner Sicht ist der ungerechten Studienplatzverteilung aufgrund von unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden der Abiture nur mit einer einzigen Haltung zu begegnen: der Forderung nach themenbezogenen Eignungstests als Aufnahmekriterium an Universitäten. So wird einerseits der immense Erfolgsdruck, der auf Abiturienten aufgrund bestimmter Numerus Clausus lastet, ausgehebelt und andererseits eine herkunftsunabhängige Selektion der Universitäten gewährleistet."
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