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"Wir waren auf unserem Planeten noch nie so eng voneinander abhängig wie jetzt"

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller fordert für Flüchtlinge die Solidarität der EU ein

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. (Bild: Foto Sessner Dachau)

»Zieh‘ lieber mit uns fort, … etwas Besseres als den Tod findest du überall«, sagte der Esel zum Hahn und so verließen die Bremer Stadtmusikanten aus dem Märchen der Gebrüder Grimm im Jahre 1819 ihre Heimat. Etwas Besseres als den Tod, als Krieg, Hunger, Unterdrückung und Elend suchen auch die vielen Flüchtlinge aus Afrika, Syrien, Afghanistan und dem Balkan bei uns.

Wie ist damit umzugehen? Was muss die Politik machen? Darüber sprachen Christl-Horner-Kreisl und Daniel Maier (Kurier Dachau) mit Gerd Müller, dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

"Wir können nicht alle aufnehmen"

Ich bin froh und stolz über die große Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft, mit der in vielen Städten und Gemeinden Einwohner, Polizei, Bürgermeister, ihre Mitarbeiter und viele andere Flüchtlinge willkommen heißen und helfen. Ist es nicht ein Kompliment für uns, wenn wir in der Welt als freies und gerechtes Land gesehen werden, in dem man ein besseres Leben finden kann?

Gerd Müller: Es ist auf alle Fälle der Moment, in dem wir uns bewusst machen können, das bei uns seit 70 Jahren Frieden herrscht und Krieg, Hunger und Elend für uns immer ganz weit weg waren. Trotzdem können wir in Deutschland nicht alle Menschen aufnehmen. Die Flüchtlingsströme, so wie sie in den letzten Wochen nach Deutschland kommen, überfordern uns. Deshalb geht es jetzt darum, den Menschen zu sagen: Wir kommen zu euch. Wir verstärken unseren Einsatz in euren Heimatregionen.

"Die Mittel sind da"

Sie haben auf ein Eingreifen der EU und ein entsprechendes Investitionspaket gepocht. Jahrelang hat die Politik Italien und Griechenland alleine gelassen mit der Flüchtlingsproblematik. Warum hat man nicht schon vor zehn Jahren EU-weite Richtlinien zu Aufnahme, Behandlung und Verteilung der Flüchtlinge festgelegt und zentrale Erfassungsstellen in diesen »Ankunftsländern« geschaffen?

Gerd Müller: Viele haben die Augen davor verschlossen, dass die ersten Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer und die Dramen vor Lampedusa nur der Anfang einer riesigen Fluchtbewegung waren. Dann kam auch noch der Syrien-Krieg hinzu und die Brutalität des IS-Terrors. Jetzt geht wegschauen nicht mehr. Deshalb kämpfe ich weiter für ein 10-Milliarden-Euro-Sofortprogramm der EU. Dafür braucht es kein neues Geld. Die Mittel sind da, sie müssen nur aus den bestehenden Töpfen umgeschichtet werden. Aber leider setzt sich das Drama in der EU jetzt auch bei der Verteilung der Flüchtlinge fort. So können wir als europäische Wertgemeinschaft nicht bestehen.

"Auch andere müssen sich beteiligen"

Seit dem zweiten Weltkrieg hat Deutschland 18,5 Millionen Menschen aufgenommen – von 1945 bis 1949 kamen 12 Millionen Menschen in ein völlig zerstörtes Deutschland, zwischen 1969 und 1973 kamen 2,4 Millionen Gastarbeiter vor allem aus Italien und der Türkei und zwischen 1988 und 1993 noch 3,1 Millionen Ayslsuchende und Spätaussiedler aus Osteuropa. Muss es da nicht möglich sein, in der starken Position, die Deutschland heute hat, auch den aktuell Asylsuchenden zu helfen und ihnen in Deutschland und Europa eine sichere Zukunft zu geben?

Gerd Müller: Wir machen es ja möglich, aber andere Länder in der EU müssen sich auch beteiligen. Es kann doch nicht sein, dass mein Heimatlandkreis Kempten so viele Flüchtlinge in den vergangenen Wochen untergebracht hat wie Polen und Frankreich zusammen. Es kann auch nicht sein, dass Hunderttausende aus dem Westbalkan zu uns kommen ohne einen Asylgrund, wie die Anerkennungsquote zeigt; die ist nahezu bei null.

Sie haben gerade die Zahlen genannt. Es stimmt, dass wir in Deutschland schon große Integrationsleistungen vollbracht haben und darauf können wir auch stolz sein. Aber im Moment sind etwa 5 Prozent der 12 Millionen Syrien-Flüchtlinge bei uns, 95 Prozent sind noch in der Region. Dort müssen wir den Menschen Perspektiven geben und tun dies auch, bauen Schulen und Gesundheitszentren, Wasserleitungen, bilden junge Menschen zu Schlossern, Maurern und Mechanikern aus.

"Wir stellen die Regelungen auf den Prüfstand"

Sie haben oft erwähnt, dass das System zur Registrierung von Asylbewerbern in Deutschland viel zu langsam funktioniert. Übrigens ein Problem, das seit vielen Jahren bekannt ist. Werden wir hier dem Klischee als Bürokratiehochburg viel zu gerecht?

Gerd Müller: Im Moment kommen so viele Flüchtlinge zu uns, dass die Verwaltung quasi überrollt wurde. Deshalb ist es gut, dass die Grenzkontrollen wieder eingeführt wurden. Wir müssen wieder zu ordentlichen Verfahren zurückkehren und die Menschen registrieren. Wir sind schon dabei, die Vorschriften zu lockern. Das ist auch nötig, um erst einmal Wohnraum zur Verfügung stellen zu können. Dann müssen zügig Sprachkurse folgen, viele Flüchtlinge wollen schnell bei uns arbeiten, auch hier stellen wir unsere Regelungen auf den Prüfstand. Es ist einfach die große Zahl der Menschen, die auf einmal gekommen sind, die die vielen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen vor gewaltige Herausforderungen stellen.

"Gemeinsam ist viel zu schaffen"

Es wird immer nur von den Menschen gesprochen, die nach Deutschland kommen. Warum ist uns nicht bewusst, dass Ausländer in steigender Zahl Deutschland wieder verlassen? Im Jahr 2000 waren es rund 200.000, 2014 rund 420.000, die weggezogen sind.  Dazu kommen die vielen deutschen Auswanderer - übrigens oft »Wirtschaftsflüchtlinge« - so dass man schätzt, dass zwischen 600.000 bis 800.000 Menschen jedes Jahr Deutschland verlassen. Da muss man doch wirklich keine Angst haben, dass wir bald keinen Platz mehr haben?

Gerd Müller: Wir rechnen in diesem Jahr mit 800.000 Flüchtlingen. Das ist eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In jeder Gemeinde, in jeder Schule, für jeden Arbeitgeber, auf den Ämtern. Die Hilfsbereitschaft bei uns in Bayern und in Deutschland ist großartig. Wenn wir so auch in den kommenden Wochen und Monaten zusammenhalten, ist sehr viel gemeinsam zu schaffen. Das muss jetzt aber auch für die Länder um Syrien gelten. Hier tut Deutschland schon sehr viel, in 18 Monaten haben wir 180 Projekte im Umfang von einer Milliarde Euro umgesetzt und wir werden unsere Winterhilfe jetzt noch einmal konzentrieren und ausbauen.

"Wir haben nur eine Welt"

Sie sagen, mehr Asylbewerberheime können auf Dauer keine Lösung sein und verlangen internationales Eingreifen, um die Probleme in den Herkunftsländern zu bekämpfen. Dazu müsste man aber dort jahrzehntelange politische und wirtschaftliche Fehlentwicklungen korrigieren, die westliche Welt an einem Strang ziehen. Die Frage ist, ob das überhaupt gelingen kann und ob es dann nicht zu spät ist, weil ein solcher Prozess Jahre und Jahrzehnte dauert?

Gerd Müller: Wir waren auf unserem Planeten noch nie so eng voneinander abhängig wie jetzt. Vom Klimawandel über unseren Konsum bis hin zu den Flüchtlingsströmen, die wir derzeit erleben. Deshalb kann es uns nicht egal sein, wie sich andere Länder auf der Welt entwickeln. Wir haben nämlich keine erste, zweite oder dritte Welt mehr, sondern nur noch eine Welt, für die wir alle Verantwortung tragen. Deshalb ist es alle Anstrengungen wert, dass wir uns jetzt im September in New York als Weltgemeinschaft auf nachhaltige Entwicklungsziele verständigen. Allen ist klar, dass wir die Herausforderungen nur gemeinsam oder gar nicht lösen können.

"Es muss soziale und ökologische Mindeststandards geben"

Sie erwähnten Ihre Erlebnisse mit korrupten Regierungen in einigen afrikanischen Staaten. Einerseits beuten Industriestaaten Afrika aus, auf der anderen Seite wundert man sich, wenn die Menschen vor Hunger und Elend fliehen. Wie kann die westliche Welt – nicht nur Europa – vor Ort Hilfe leisten und gleichzeitig die Unterstützung der teils totalitären korrupten Regime vermeiden?

Gerd Müller: Wir geben keinen Euro in korrupte Kanäle. Wir investieren in Bildung, Gesundheit und auch den Aufbau von Steuersystemen, damit sich die Länder selbst entwickeln können. Das können wir am besten unterstützen, wenn wir uns gleichzeitig für faire Handelsbedingungen einsetzen. Es kann nicht sein, dass 20 Prozent der Menschheit, also wir, 80 Prozent der Ressourcen des Planeten ausbeuten. Von der Kleidung, die wir auf unserer Haut tragen, dem Kaffee oder Kakao bis hin zu den Mineralien, die in unseren Handys stecken, steht am Anfang der Produktionskette ein Mensch in der Plantage, in der Textilfabrik oder in einer Mine. Hier muss es soziale und ökologische Mindeststandards geben. Und wir müssen die internationalen Konzerne auf Transparenz verpflichten. Mit unserem Textilbündnis gehen wir in Deutschland mit gutem Beispiel voran und konnten dafür die Hälfte der deutschen Textilwirtschaft gewinnen.

"Hilfloses Bild der EU-Institutionen"

Meine (Facebook-)Freunde haben sich in letzter Zeit etwas dezimiert, weil ich mich »entfreunde«, wenn jemand gemeine, gehässige oder bodenlos verblödete Kommentare zum Thema Asyl postet. Wäre es nicht an der Zeit, dass Bundeskanzlerin Merkel unseren Freunden in der EU erklärt, dass man nicht nur die Hand ausstreckt, wenn Geld winkt, sondern auch, wenn jemand Hilfe braucht?

Gerd Müller: Die Bundeskanzlerin trägt eine herausragende Verantwortung für Deutschland und auch für Europa. Das war zuletzt in der Griechenland-Krise so und setzt sich jetzt bei der Flüchtlingskrise fort. Viele Menschen auf der ganzen Welt staunen, wie viel Hilfsbereitschaft und Einsatz die Deutschen bei der Flüchtlingsaufnahme zeigen und wünschen sich das vielleicht auch von ihren eigenen Regierungen. Deshalb ist es so ein Jammer, dass die EU-Institutionen in der Flüchtlingskrise so ein hilfloses Bild abgeben. In der Tat ist die EU derzeit den Beweis schuldig, dass es sich um eine Solidargemeinschaft handelt.

"Für eine Welt ohne Hunger und Armut"

Von Facebook zu YouTube – auf der Videoplattform haben Sie einiges an Kritik geerntet in Bezug auf Ihre Rede beim Earth Day. Sehen Sie die über 100.000 Klicks eher als gute Werbung oder als schlechte Publicity?

Gerd Müller: Ich bekomme nur positive Reaktionen auf meine kurze Rede auf der Mall in Washington. Wenn sie vor 100.000 jungen Menschen stehen, dann können sie nicht wie im Bundestag sprechen oder drei vorbereitete Sätze vom Blatt vortragen. Ich freue mich, wenn ich im Netz die Botschaften für eine Welt ohne Hunger und Armut weitertragen kann, notfalls auch gerne in der jeweiligen Landessprache.


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