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"Wir brauchen unverplante Zeit"

Höher, schneller, besser - Ist Zeit wirklich Geld?

Genießt alle Zeit der Welt: Das Damwild im Hirschgarten. (Bild: Patricia Prankl)

„Zeit ist Geld“ – folgt man dieser Redewendung, so hat Zeit nur den einen Wert, nämlich maximalen Profit zu erzielen. Was einst als typischer Managerspruch galt, ist mittlerweile in viele Lebensbereiche vorgedrungen und zum geltenden Prinzip bereits für die Jüngsten der Gesellschaft geworden. Zugleich aber ist die Verknüpfung von Zeit und Geld zunehmend negativ besetzt. Immer häufiger wird Kritik am Leistungssystem geäußert, immer mehr Menschen wünschen sich mehr Zeit – für sich, für die Familie, für die Kreativität.

Meditationskurse, Schulungen und Ratgeber boomen, die auf das Missverhältnis zwischen Zeit und Geld aufmerksam machen. Zeit hat auch andere Qualitäten als nur Profitstreben! Zu diesem Schluss kamen unsere  Gesprächsgäste im Hirschgarten. Wie aber könnten Zeit und Geld in ein positives Verhältnis zueinander gesetzt werden? Und wofür sollten wir Zeit einräumen? Sieben Gäste sprachen im Rahmen der Sommergesprächsreihe der Münchner Wochenanzeiger über die Frage „Ist Zeit wirklich Geld?“

„Zeit ist ein Maß, das abläuft“

„Gerade in München braucht man ein gewisses Maß an Geld. Aber man merkt, je älter man wird, dass Zeit ein Maß ist, das abläuft. Geld kann ich ansparen oder ich kann aufhören, Geld auszugeben. Aber ich kann nicht aufhören ,Zeit zu verbrauchen“, erklärt Micha Rabeneck vom Oma-Opa-Service. Sich der eigenen, endlichen Lebenszeit bewusst werden, ist ein wichtiger Schritt, um die beiden Begriffe Zeit und Geld in ein sinnvoll Verhältnis zueinander zu setzen, das finden die Gesprächsteilnehmer einhellig. „Das Problem ist, dass die meisten Menschen die meiste Zeit gar nicht richtig da sind“, findet Achtsamkeitslehrerin Veronika Schantz. Im Jetzt leben und jederzeit präsent sein – auch während des Geldverdienens – dadurch bekäme die erlebte Zeit eine völlig andere Qualität.

Zwölf Stunden in acht gepackt

Bei vielen Menschen herrscht jedoch das Gefühl vor, fremdbestimmt zu sein. Leistungsdruck und Erfolgsstreben beherrschen, scheinbar unfreiwillig, den Alltag. Dass ein 24-Stunden-Tag nicht ausreicht, um alle Aufgaben zu erledigen, kennen beispielsweise viele berufstätige Mütter. Silke Mekat, die im Solution Coaching vor allem Frauen beim Thema Vereinbarkeit von Kindern und Beruf berät, meint: „Frauen packen in einen Acht-Stunden-Tag zwölf Stunden Arbeit hinein.“ Neben dem Job stehen etliche Termine für die Kinder an, zudem der Haushalt und familiäre Verpflichtungen. Für viele Mütter gilt die Frage: Wie teile ich mich und meinen Tag ein? Dabei sind die eigenen Ansprüche die höchsten. Mekat glaubt, dass Frauen lernen müssten, auch einmal etwas abzugeben.

„Sich Zeit nehmen ist Luxus“

Zeit hat auch für Landtagsabgeordneten Andreas Lotte im Laufe seines Lebens an Wert gewonnen. „Es ist ein Luxus, wenn ich mir mal Zeit nehmen kann“, meint Lotte. Jeder Tag ist verplant, wird von Terminen bestimmt. Da sei Zeit für sich selbst, für Freunde und Zwischenmenschliches kostbar geworden. „Früher war es ein Luxus, ein Handy zu haben, heute ist es ein Luxus, keines zu haben“, so Lotte.

Benedikt Kämmerling vom Laimer Jugendzentrum beobachtet dieses Lebensprinzip bereits bei den Jugendlichen. „Unverplante Zeit, komplett freie Zeit ohne Termine, das gibt es fast gar nicht mehr“, meint der Sozialpädagoge. `In kürzester Zeit maximale Effektivität erreichen´ - das gilt bereits bei den Jüngsten. Vom Sportverein wird zur Nachhilfestunde gehetzt, dann ist Hausaufgabenzeit und selbst Freizeit- und Spielspaß sind geregelt. „Die Omas und Opas erzählen mir laufend, dass die Kinder völlig überstrukturiert sind“, pflichtet Micha Rabeneck bei. „Zeit darf nicht einfach nur Zeit sein, sondern muss einen Sinn haben“, so scheint die vorherrschende Meinung zu sein, glaubt Kämmerling.

"Zeit für Umwege" ist wichtig

Dabei müsste es Zeit geben, die keinen Nutzen hat, in der nichts passiert. „Das ist auch für die eigene Sozialisation wichtig“, findet Kämmerling. Familientherapeutin Nele Kreuzer sieht das genauso. „Viele Probleme entstehen dadurch, dass Eltern keine Zeit für ihre Kinder haben und versuchen diese fehlende Zeit mit materiellen Dingen zu kompensieren.“

Eltern verbringen keine Zeit mehr mit ihren Kindern, um mit ihnen zu spielen, ihnen vorzulesen oder ihnen die Welt zu erklären. „Ganz viele Probleme gäbe es nicht, wenn Eltern den Kontakt zu ihren Kindern hätten. Und den bekommt man nur, wenn man weiß, was ein Kind beschäftigt. Und dafür braucht man unverplante Zeit. Wirkliche Zeit, in der man sich auf das Kind einstellen kann“, so Kreuzer.

Nicht zuletzt sei unverplante Zeit die Quelle für Inspiration, erklärt Waltraud Lucic vom Münchner Lehrerverband: „Das ist ja wissenschaftlich nachgewiesen, dass es ohne Langeweile keine Kreativität gibt.“ Mehr freie Zeit – „Zeit für Bildung; Zeit, um auch Umwege zu gehen, und Zeit, um den Selbstwert zu entdecken“, fordert Lucic.

Gesellschaft gibt falsches Vorbild

Kinder aber brauchen Vorbilder. „Wer selbst von einer Sache zur anderen hetzt, der kann von seinem Kind nicht erwarten, dass es mußevoll durch den Tag schlendert“, so Kreuzer. Die Gesellschaft lebe den Kindern jedoch Falsches vor und vermittle, dass `Zeit Geld ist´, kritisiert Lucic. Leistungen etwa würden mit Geld und nicht mit Zeit belohnt. „Zum Beispiel, wenn das Zeugnis gut ist: Dann wir jede Note bezahlt. Warum? Man könnte doch auch ein Fest machen, wenn man meint, das Kind hat sich angestrengt. Egal, ob die Noten jetzt gut sind oder nicht. Aber das Kind hat sich angestrengt. Dann macht man einen Ausflug, geht ins Kino, macht einen Spieleabend“, findet Lucic.

Sich an der eigenen Nase zu fassen und Prioritäten zu setzen, ist unumgänglich, wenn Zeit und Geld in ein ausgewogenes Verhältnis gelangen sollen. „Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass ich mir mal die Zeit nehme, um zu schauen: Was ist mir im Leben wichtig“, rät Veronika Schantz auch ihren Teilnehmern im Achtsamkeitstraining.

Handys fressen Zeit weg

Rumsitzen und Nichtstun scheinen jedoch heutzutage keinen Wert mehr zu haben. Mußestunden, die einst als Tugend galten und die etwa Philosophen der Antike als Quell der Inspiration  lobten, scheinen fast verpönt. „Busy-Sein“ hat mehr Geltung gegenüber dem Satz „Mir ist langweilig“. Veronika Schantz glaubt, diese Wandlung sei der protestantischen Bewegung geschuldet, im Zuge derer der Arbeit und Strebsamkeit ein höherer Stellenwert zugesprochen wurde. Silke Mekat und Waltraud Lucic widersprechen dieser Ansicht und halten die neuen Medien und die dadurch ermöglichte dauernde Erreichbarkeit für die Ursache des Problems. Statt sich mit den Kindern zu unterhalten oder die Zeit bewusst zu genießen, würde man eher zum Handy greifen, um anderen mitzuteilen, wo man gerade ist und was man gerade tut.

Nicht alles durchplanen!

Wie aber könnten die Lösungen aussehen, damit Geld bzw. Leistung nicht unsere Zeit dominieren? Micha Rabeneck glaub, es sei wichtig, sich selbst und auch den Kindern Freiräume zur Verfügung zu stellen und nicht alles durchzuplanen. Sich die Endlichkeit der eigenen Lebenszeit bewusst machen wird dazu beitragen, achtsamer im Jetzt zu leben.

Silke Mekat setzt sich indes für neue politische und gesellschaftliche Regelungen ein. Sie sieht etwa die gebundene Ganztagsschule als sinnvolle Lösung an, um in Familien das Verhältnis von Leistung und Zeit zu regulieren. Wenn das Kind um 16 Uhr nach Hause kommt, dann sind etwa Sport- oder Musikstunden und auch Hausaufgaben bereits erledigt und die Familie hätte damit mehr wertvolle Familienzeit. „Das entspannt die Familien, das bringt Ruhe und gemeinsame Zeit in die Familien“, findet Mekat.

Selbstausbeutung verhindern

Landtagsmitglied Andreas Lotte glaubt ebenfalls, dass neue Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um „die Selbstausbeutung zu verhindern“. Mindestlohn etwa setzte an der richtigen Stelle an. „Es muss jedem möglich sein, durch seine Arbeit gut leben zu können“, findet Lotte. Auch geregelte Arbeitszeiten könnten Abhilfe schaffen.

Einig sind sich die Gäste beim Sommergespräch jedoch in einem Punkt: Zeit muss ich mir nehmen!

Was ist Zeit?

"Zeit ist ...?" Unsere Gäste vervollständigen den Satz:

Micha Rabeneck: "… eines der wichtigsten Güter."

Waltraud Lucic: "… ein Geschenk. Vielfältig, nachhaltig, gefühlsintensiv."

Nele Kreuzer: "… Beziehung."

Silke Mekat: "… kostbar und ich muss sie mir nehmen."

Veronika Schantz: "…ein großes, kostbares und doch alltägliches Geheimnis (nach Michael Ende)."

Andreas Lotte: "… nicht vermehrbar."

Benedikt Kämmerling: "… ist jetzt!"

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Benedict Kämmerling (stv. Leiter des Laimer Jugendzentrums, KJR)

Nele Kreuzer (Familientherapeutin, Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche für die Region Laim, Schwanthalerhöhe, Blumenau, Kleinhadern - LHM)

MdL Andreas Lotte

Waltraud Lucic (1. Vorsitzende Münchner Lehrer- und Lehrerinnen-Verband MLLV)

Silke Mekat (Soulution Coaching)

Micha Rabeneck (OMA-OPA-Service im Evangelisch-Lutherischen Dekanat München)

Veronika Schantz (Achtsamkeitslehrerin)

Was denken Sie?

Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.

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