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"Viele Kinder waren noch nie in einer Buchhandlung"

Lesen und Schreiben: Wir sollten mehr "genießen" und weniger "fördern"

Bekommen Kinder heute noch Bücher vorgelesen? Wird auf die Rechtschreibung Wert gelegt? Und welche Bedeutung hat eigentlich die Handschrift? In Zeiten von elektronischen Kurznachrichten und Computertastaturen hat sich das Lese- und Schreibverhalten rasant verändert. "Wie lesen und wie schreiben wir?" - dieser Frage sind wir in unserem Sommergespräch nachgegangen.

Immer weniger Zeit zum Vorlesen

"Die Kinder fordern das Vorlesen ein", sagte Nina Schmidt, die seit 25 Jahren im Kindergarten St. Matthias arbeitet. Aber Eltern hätten heute weniger Zeit zum Vorlesen. "Dieses regelmäßige Vorlesen vor dem Schlafengehen ist zurückgegangen, weil die Eltern abends froh sind, wenn die Kinder im Bett liegen und sie für sich Zeit haben. Das hat sich sehr verändert." Das liege unter anderem daran, dass es heute mehr berufstätige Mütter als früher gebe. "Das ist die Realität, das meine ich auch nicht negativ." Geändert habe sich auch, dass Kinder heute sehr viel mehr Bilder benötigten, um ihre Phantasie anzuregen. "Da sind sie heute einfach etwas ,verdorben' durchs Fernsehen", sagte Schmidt.

Auch Michael Streit sieht das so. "Wir gehen immer mehr dazu hin, möglichst das Kind von 7 bis 16, 17 Uhr in die Kita zu bringen. Abends soll das Kind eigentlich schon alles ,erledigt haben', das heißt das Lesen soll gemacht werden, Lernen soll gemacht sein." Natürlich hätten die Eltern am Abend anderes im Kopf, wie Abendessen zubereiten oder einkaufen. Aber: "Ich halte das Vorlesen für immens wichtig, auch dass die Kinder Bilder dazu haben. Das ist eine Vorstufe zum Lesen, denn unsere Schrift ist ja nichts anderes als Bilder. Wir lesen Bilder."

"So selbstverständlich wie Zähneputzen"

Katharina Galuschka, die sich in einer Forschungsgruppe mit Lese-Rechtschreib-Störung beschäftigt, ergänzte: "Kinder, denen nicht vorgelesen wird, sind im Nachteil, wenn sie in die Schule kommen." Warum? "Kinder, denen vorgelesen wird, erlernen Satzbaumuster, sie können Geschichten nacherzählen, sie haben ihren Wortschatz", erklärte Brigitte Oberegger. Im neuen Lehrplan der Grundschule sei die Thematik des Vorlesens betont, ebenso das aktive Zuhören.

"Mir geht das mehr in eine Pflicht hinein", konstatierte Beatrix Zurek, SPD-Stadträtin und Mutter von drei Kindern. Eigentlich sei das Lesen ja Freizeit. Wenn man etwa zum Baden gehe, habe es auch einen Wert, dass man sich mit einem Buch hinsetze. "Ich finde, das muss man auch vermitteln." Man solle dazu kommen, dass das Vorlesen etwas so Selbstverständliches werde wie Zähneputzen.

"Genießen" wichtiger als "Fördern"

Doch warum brauchen wir Geschichten? Dazu hat sich Juliane Breinl Gedanken gemacht. "Geschichten sind ja etwas, was man sich am Lagerfeuer erzählt. Das hat immer etwas mit Dialog zu tun." Das solle in der Kindheit angeregt werden, schließlich gehöre es zum Menschsein, dass man sich Geschichten erzähle und man sich dafür interessiere. Lesen werde oft als Förderung an die Kinder herangetragen und nicht wegen des Inhalts. Dabei solle doch vielmehr das "genießende Lesen" vermittelt werden - "damit das Lagerfeuer nicht niedernbrennt".

Bücher und Lesen als Genuss vermitteln - das möchten auch Nina Schmidt und ihre Kollegin Anette Heunke im Kindergarten. "Wir haben Leseecken, die für die Kinder ein schöner Rückzugsort sind. Sie schauen sich gerne die Bücher an und fordern das Vorlesen auch ein." Leseecken gibt es ebenfalls in der Grundschule bei Brigitte Oberegger. Doch die Schulleiterin weiß auch: "Es gibt Kinder, die bringt man im Leben nicht in diese Ecken hinein. Sie wollen es einfach nicht und es muss ja auch nicht jedes Kind das Gleiche machen. Der eine liest gerne, der andere nicht. Man soll es nicht erzwingen."

Allerdings müsse man auch sehen, so Anette Heunke, dass nicht jeder die Chance annehme, wenn er sie bekäme. Sie selbst hat drei erwachsene Söhne - vom Vielleser bis zu einem Sohn, der nicht so gerne lese. "Und sie alle drei hatten die gleichen Voraussetzungen. Der eine springt drauf an, der andere eben nicht." Wenn sie sich ein neues Gerät gekauft hätten, habe der eine es sofort zusammengebaut, der andere habe den Plan gelesen. Wichtig sei, da herrschte Einigkeit in der Runde, dass jeder den Zugang zu Büchern bekommen solle. "Es geht doch darum, dass man die Chance bietet - und mehr kann man nicht machen", sagte Beatrix Zurek. "Natürlich ist jeder ein Individuum. Ich habe zwei Kinder, mit denen muss ich ständig in die Bücherei und eines, das das nicht so mag."

"Der Grundstein wird zuhause gelegt"

Dass das Interesse an Literatur in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft steht, berichtete Henriette Soltow. "Wir bieten Klassenführungen schon für die Kleinen, also ab etwa acht Jahren, an", erzählt sie. Dabei sei es sehr von der Bildungsschicht abhängig, mit welcher Grundvoraussetzung die Kinder in die Buchhandlung kämen. "Viele waren da noch nie. Das hält man fast gar nicht aus", so Soltow. "Wie ich von zuhause an das Lesen herangeführt werde, ist der Grundstein für alles."

Am Angebot mangele es nicht. "Die absolute Konstante, die ich auf dem Buchmarkt bei all dem Wandel sehe, ist die Kinderwelt", sagte Henriette Soltow. "Es gab noch nie so viele Kinderbücher wie heute." Neben den neuen Büchern würden auch Klassiker für die kleineren Kinder wie "Die kleine Raupe Nimmersatt" funktionieren. "Die Klassiker für ältere Kinder werden hingegen weniger, weil ich immer den Erklärbär machen muss, was heißt das denn überhaupt." Und eine weitere Sache habe sich ebenfalls nicht geändert: "Bücher stehen nach wie vor auf den Wunschzetteln von Kindern. Immer."

"Jemand muss drauf schauen"

Nicht nur auf den Zugang zum Lesen solle im Elternhaus geachtet werden, sondern auch auf die richtige Rechtschreibung. "Rechtschreiben ist ein durchgängiges Unterrichtsprinzip, das heißt, darauf sollte in allen Fächern Wert gelegt werden, nicht nur in Deutsch", betonte Brigitte Oberegger. Wichtig sei aber auch, dass die Rechtschreibung von den Eltern wertgeschätzt und die Hausaufgaben kontrolliert würden. "Man muss jemanden haben, der drauf schaut." An dieser Stelle hakte Katharina Galuschka nach: "Ist es denn nicht von Nachteil für die Lehrerin, wenn die Eltern zuhause Hausaufgaben kontrollieren, weil dadurch gar nicht gesehen werden kann, welche Fehler gemacht werden?" Sei nicht das gerade Aufgabe der Schule?

Oberegger kennt diesen Einspruch. "Das ist ein häufiges Argument. Aber ich glaube schon, dass die Kinder in ihrem Arbeiten erst einmal begleitet werden sollen. Denn es ist für die Kinder auch nicht sehr schön, nach zwei Tagen ein Blatt mit allen rot angestrichenen Fehlern wieder zu bekommen", erklärte sie. Eine möglichst zeitnahe Rückmeldung sei für die Kinder sehr wichtig. "Ich kenne meine Schüler und ich weiß auch, wo es noch hakt. Dafür haben wir ja auch die Lernzielkontrollen. Ich brauche nicht immer die Hausaufgaben dazu, aber das ist meine persönliche Meinung."

"Die Schule muss nicht alles machen"

Hinzu komme der Zeitfaktor. "Sie sagen, das ist Aufgabe der Schule. Wir haben sehr viele Aufgaben. Wenn meine zukünftigen Erstklasslehrer bei 27 Kindern nachschauen sollen, ob sie sauber und fehlerfrei schreiben, dann ist das eine Aufgabe, mit der sie allein schon einen halben Vormittag beschäftigt sind." Dafür brauche man mehr Zeit. "Geben Sie uns den gleichen Lehrplan von 8 bis 16 Uhr und dazu noch eine Lehrerin." Beatrix Zurek plädierte hier für einen Mittelweg. Es gebe Kinder, die von zuhause nicht die optimalen Chancen hätten, weil deren Eltern zum Beispiel nicht die Fehler korrigieren könnten. "Diesen Kindern muss man die Chance geben. Aber die Schule muss nicht alles machen", sagte die Stadträtin.

Ein "Zwischending" entsteht

Dass in Zeiten von Kurznachrichten, Mails und Internetforen der Umgang mit der Rechtschreibung im Wandel sei, darauf wies Michael Streit hin. Er habe seiner Tochter erlaubt, über WhatsApp mit einer Freundin zu schreiben. "Ich habe ihr gesagt, wenn sie schreibt, dann bitte richtig und mit dem richtigen Satzbau." Oft sei es doch so, dass schon Kinder in der zweiten Klasse mit einem Smartphone herumlaufen und sich Nachrichten schicken. "Wenn man dann mal drauf schaut, sagt man sich, das gibt es doch nicht. Habt ihr das so gelernt?" Die Mail sei, so Streit, der Brief von früher. Allerdings werde in unserer schnelllebigen Zeit nicht mehr richtig Korrektur gelesen, bevor die Nachricht abgeschickt werde.

Zeichensetzung? Egal ...

Juliane Breinl stimmte dem zu. "Da braucht man doch nur mal in ein Internetforum für Erwachsene zu gehen. Da gibt es keine Rechtschreibung, keine Zeichensetzung. Es wird kein Wert mehr drauf gelegt, weil in dieser Schriftsprache so ein Zwischending zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache entsteht." Sie habe erst kürzlich eine e-Mail von zwei Mädchen mit einer Interviewanfrage erhalten. "Die haben im Grunde eine e-Mail wie eine SMS an mich geschrieben, ohne Groß- und Kleinschreibung. Sie sind es durch das Chatten einfach so gewöhnt, dass man nicht alles in einen Brief packt. Das geht immer hin und her", sagte Breinl. Gerade als Autorin habe sie die Erfahrung gemacht, dass sie auf einem ausgedruckten Blatt viel besser Korrektur lesen könne, ergänzte Breinl. "Die wenigsten Autoren können das direkt auf dem Bildschirm."

Eine Rolle spiele sicher auch die Handschrift. "Das ist ja das Formen eines Buchstabens und wir sind ja eine sehr visualisierte Gesellschaft." Studien hätten ergeben, dass Kinder, die mit der Hand Lerninhalte aufschreiben, diese besser behalten könnten.

"Dafür brauchen wir halt Zeit"

Doch sollte die Hand- bzw. Schönschrift in der Schule wieder benotet werden wie es früher der Fall war? "Wir haben jetzt erst wieder mit Eltern darüber gesprochen, die finden, dass eine Benotung sinnvoll wäre", sagte Brigitte Oberegger. Wenn man mit den Kindern Schönschrift mache, dann sei es still im Klassenzimmer. "Die Kinder geben sich dann auch wirklich Mühe." Es solle auch wieder mehr Wert auf Hefteinträge gelegt werden. "Aber dafür brauchen wir halt wieder Zeit."

Michael Streit fühlte sich in Bezug auf eine Benotung zwiegespalten. "Jeder Mensch hat eine andere Handschrift und damit bewerte ich ja eigentlich den Charakter, den Menschen an sich", meinte er. Eine Bewertung der Schrift sei unter dem Gesichtspunkt der guten Lesbarkeit sicherlich sinnvoll. Die reine Schönschrift, deren Auslegung sehr subjektiv sei, solle jedoch nicht benotet werden. "Es geht um die Genauigkeit und um Sauberkeit", stimmte auch Brigitte Oberegger zu.

Lernen läuft übers Machen

Ein Leben ohne Handschrift? Für die Gesprächsteilnehmer undenkbar. "Schreiben muss erfahren werden", sagte Breinl. Das gehe nicht über eine Computertastatur, sondern über das Formen von Buchstaben. "Ein Kind kann auch nicht das Einkaufen lernen, wenn es das nur in Filmen sieht, sondern es muss es machen."

Die Handschrift werde nicht aussterben. "Im Gegenteil", sagte Michael Streit. "Wer es gelernt hat, der wird sich Notizen schneller machen." Diesen Aspekt betonte auch Katharina Galuschka. "Man beraubt sich eines gewissen Potenzials ohne Handschrift." Gedanken ließen sich handschriftlich einfach schnell niederschreiben. Dennoch dürfe man die digitale Welt nicht verteufeln. "Das schmälert ja die Handschrift nicht."

"Ich könnte mir nicht vorstellen, ohne Handschrift zu sein. Und die Biologen sagen ja, dass ein Drittel des Gehirnareals über die Handschrift aktiviert wird", erklärte Brigitte Oberegger. "Von daher können wir es uns gar nicht erlauben, sie fallenzulassen."

Lieblingsbücher

Am liebsten haben unsere Gespächspartner diese Bücher gelesen:

Henriette Soltow: Donna Tartt, "Der Distelfink".

Juliane Breinl: Michail Bulgakow, "Der Meister und Margarita".

Beatrix Zurek: Ein ausgesprochenes Lieblingsbuch habe ich nicht: Jedes Buch hatte und hat  zu der Zeit, zu der ich es gelesen hatte, sein Bedeutung: ob es ein Kinder-oder Sachbuch, ein Krimi oder Roman war und ist.

Nina Schmidt: Joy Fielding, "Lauf, Jane, lauf".

Anette Heunke: Donna W. Cross, "Die Päpstin".

Michael Streit: Das Buch, das ich immer wieder einmal zur Hand nehme und gerne empfehle, ist "Sofies Welt" von Jostein  Gaarder. Schöner und einfacher kann man Philosophie nicht näher bringen und zum Nachdenken anregen. Gleich danach hat mich "Das Orangenmädchen" in letzter Zeit am meisten fasziniert.

Brigitte Oberegger: Als Kind habe ich am liebsten die "Fünf Freunde"-Bücher gelesen.

Tanja Beetz: Boris Pasternak, "Doktor Schiwago".

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Henriette Soltow (Regionalleiterin Hugendubel)

Juliane Breinl (Neurolinguistin und Kinderbuchautorin "Die Feuerbälle - Die Abenteuer einer Kinderbande in Ostdeutschland")

Beatrix Zurek (SPD-Stadträtin und Mutter von drei Kindern)

Nina Schmidt und Anette Heunke (Erzieherinnen Kindergarten St. Matthias)

Brigitte Oberegger (Rektorin Samberger Grundschule)

Michael Streit (Vorsitzender des Gemeinsamen Elternbeirates der Grund- und Mittelschulen in München)

Katharina Galuschka (LMU, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Forschungsgruppe Leitlinie Lese- und Rechtschreibschwäche)

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Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 7-11, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.

So geht's weiter

Lesen Sie weitere Sommergespräche in Sendlinger Anzeiger / Werbe-Spiegel bzw. Samstagsblatt (bereits erschienene Beiträge finden Sie online):

Ganztagsschule: "Ist das wirklich kindgerecht?"

Chancengleichheit: "Das Wichtigste ist Unabhängigkeit"

Sportplätze: "Das ist brutale Arbeit"

Werte: "Richtig und Falsch existieren nicht mehr"

Vereine: "Geht da nicht auch vieles kaputt?"

Fachkräfte: Steuern wir kopflos in den Fachkräftemangel?

Internet: "Man überschreitet schneller Grenzen"

Bürgerbeteiligung: "Wünsche der Bürger werden oft vom Tisch gewischt"

Garteln in der Stadt: "Im Garten darf ich Mensch sein"


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