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Vertriebene und Flüchtlinge (Teil 2)

Stadtteilhistoriker Dr. Walter Demmel berichtet über Schicksale der Nachkriegszeit: Fremde wurden Freunde

Bild 1 (Bild: Demmel Archiv)

Um auch für heute klarzustellen: Die gültige Definition des Begriffes „Flüchtling“ ist in Artikel IA,2 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1954 festgeschrieben und lautet: „Flüchtling ist eine Person, die aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“

Flucht und Zwangsmigration in Europa gab es schon in den Jahren 1914-1939 aus den verschiedensten Gründen, auch die Flucht vor dem Nationalsozialismus führte ins Exil. Wir sprechen hier aber über Flucht und Vertreibung ab 1944. Diese Menschen kamen ab 1944 auch nach Allach und Untermenzing, waren arm, traumatisiert und suchten dort eine neue Heimat – und fanden sie meist nach schweren Anfangsjahren.

Ein Flüchtlingsbereich im Untermenzinger Parkfriedhof (Bilder 1, 2, 3) aus dem Jahr 1955 soll mit seiner Stele, den verschiedenen Wandtafeln und dem nebenstehenden Bild an das Schicksal der Schlesier, der Sudetendeutschen und der Deutschen aus Jugoslawien, dem Banat und Ungarn erinnern. Nicht berücksichtigt sind hier jene, die aus Ostpreußen und anderen Gebieten kamen und offensichtlich in unserem Stadtteil keine Landsmannschaft hatten. Sie finden diesen Bereich, wenn Sie sich gleich nach dem Eingang des Friedhofs nach rechts wenden.

Auch bei uns resultierten Spannungen und Konflikte zwischen den einheimischen Bauern und Gewerbetreibenden und den hereinbrechenden Flüchtlingen zumeist aus der Unterkunftsfrage. Wenn Wohnraum nicht freiwillig abgegeben wurde, reagierten die zuständigen Dienststellen zunehmend mit Zwangseinweisungen. Dienstboten- oder Abstellkammern, Ställe, Scheunen und andere Funktionsräume wie ungenutzte Werkstätten, die alle nur mit dem Notwendigsten ausgestattet waren, wurden zu provisorischen Unterkünften.

Bei einer repräsentativen Befragung der damaligen Bevölkerung sahen 61% Flüchtlinge und Vertriebene als Störenfriede. Aber damals wie heute sahen auch viele die Aufnahme und den täglichen Umgang mit diesem neuen Personenkreis als Verpflichtung eines Christenmenschen, den weder Religionszugehörigkeit noch soziale Herkunft kümmerten.

Ein Beispiel, das erzählt wurde: „Als meine Schwester 1947 an ihrem Erstkommunionstag zur Kirche gehen wollte, kam die Bäuerin mit einem Paar abgetragener weißer Schuhe und Strümpfen mit der Bemerkung: ‚Was sollen denn die Leute sagen, wenn unser Flüchtlingskind in Holzschuhen in die Kirche kommt‘.“

Im Teil 1 meiner Flüchtlingsartikel wurden die nicht ganz typischen Beispiele für Flucht und Vertreibung (W. Demmel und K. Berger) angeführt, nun folgen einige aus unserem Stadtbezirk, die aus vielen geführten Gesprächen ausgewählt wurden. Einige Personen wollten nicht namentlich genannt werden, andere erzählten ausführlich von ihren Schwierigkeiten vor der Flucht, wieder andere von ihrer Vertreibung oder Abschiebung oder Aussiedlung. Das Schicksal dieser deutschen Flüchtlinge hatte viele Gesichter. Auch nach Allach und Untermenzing kamen sie aus Nordost bis Südost.

Ein Beispiel aus Hinterpommern: Die Familie Hoppe (Werbe-Spiegel v. 12.02.2014) mußte 1945 aus dem damaligen Hammermühle in Hinterpommern fliehen, während der Vater an der Front war. Nach vielen Zwischenstationen – Aufnahmelager, kurzfristigen Aufenthalten an verschiedenen bayerischen Orten und im Lager I in Allach neben Krauss-Maffei – landete die Familie zusammen mit dem heimgekehrten Erich Hoppe in der Priesnitzstr. 4 (Bild 4), wo der Vater in einem Hühnerstall die bereits geschilderte Gründerkarriere begann, noch während er bei den Amerikanern in der Schoellstraße Autos reparierte. Im Lager I war der jetzige Senior der Firma, Peter Hoppe, einem weiteren Flüchtlingsknaben aus Pommern begegnet, mit dem er dann in die Allacher Volksschule ging und heute als Rentner den damaligen Schulfreund am Stammtisch mit anderen einheimischen Allachern trifft. Die wirtschaftliche Integration der Flüchtlinge gelang auch damals schneller als die soziale, politische und kulturelle.

Ein Beispiel aus dem Sudetenland: Hier soll der in Allach allseits bekannte Landwirt J. Sattler genannt werden. Einheimische schilderten ihn als einen Allacher, der fest im Dorf verwurzelt war und viel aus der Geschichte seines Heimatorts erzählen konnte. Dieser aus Obermenzing stammende Allacher Großbauer heiratete 1947 ein sudetendeutsches Flüchtlingsmädchen, das ihn 10 Jahre überlebte. Johann Sattler starb 96-jährig 2003, seine Frau Edeltraud 90-jährig im Jahr 2013. Sie sind auf dem Allacher Friedhof begraben (Bild 5).

Auf zwei weitere Personen aus dem kirchlichen Kreis, auf die mich eine Kollegin, die selbst geborene Allacherin ist, aufmerksam gemacht hat, möchte ich ebenfalls eingehen. Es handelt sich um den Pfarrvikar Rudolf Scholze und den Pfarrer Erich Goldammer, auch zwei Flüchtlingsschicksale. Scholze war 1914 in Nordböhmen geboren, wurde in Leitmeritz zum Priester geweiht und war nach seiner Ausweisung von 1946 bis 1950 Lagerseelsorger in Allach, studierte dann in Regensburg Kirchenmusik, wurde Pfarrer in Polling, Pfarrvikar in Oberneukirchen und starb 1982 in Mühldorf. Über die Lagerbetreuung in Allach war leider nichts zu erfahren.

Goldammer (1909-1974) kam als Vertriebener aus Gartitz bei Aussig in Nordböhmen nach Allach und nahm sich, wie eine Internetseite über die Pfarrei Sankt Josef in Karlsfeld berichtet, der Gläubigen in den Allacher Wohnlagern an. Aufgrund seiner Verdienste um den Bau einer Notkirche und in Anerkennung seines Wirkens bei den Heimatvertriebenen wurde er von Kardinal Döpfner zum Geistlichen Rat ernannt.

Zum Abschluss noch ein Beispiel aus einer späteren Zeit, als Deutsche scharenweise dem DDR-Regime entflohen. Hier handelt es sich um sog. Republikflüchtlinge aus den Jahren 1949-1990. Rund vier Millionen Menschen verließen in diesen Jahren die DDR in Richtung Bundesrepublik.

Eine heutige Untermenzingerin war in Erfurt zu Hause. Sie floh als noch nicht 21-Jährige einen Tag vor dem Mauerbau und kam am 12. August 1961 in das Auffanglager Berlin-Marienfelde, landete anschließend in Uelzen, ging dort durch das Notaufnahmeverfahren und erhielt die Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ermessens, „weil sie zu dem Personenkreis der noch jugendlichen Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gehört.“ Von dort fuhr sie mit dem Zug nach Köln und anschließend mit dem Mitfahrdienst nach München, wo dann in Obermenzing und Untermenzing das Abenteuer der Wohnungssuche erst begann.

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