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"Struktur geben, Halt geben und Käseglocke"

Zeigen wir Respekt vor dem Können und dem Versuchen?

Wer etwas schafft, freut sich. Was müssen wir leisten? Worauf dürfen wir stolz sein? (Bild: colourbox.com)

Bei diesem Sommergespräch war jeder einzelne Teilnehmer Experte, denn jeder konnte eigene Erfahrungen über die Höhen und Tiefen von Schulkarrieren, von Erfolgen und Misserfolgen beisteuern. Das Thema lautete: „Respekt vor dem Können und dem Versuchen – Leistung und Noten“. Ist Leistung gut oder schlecht? Warum gibt es Leistungsdruck und wie kann man dazu beitragen, den Kindern die Zeit zu lassen, die sie für ihre Entwicklung brauchen? Das waren einige der Fragen, die von der Sommergesprächsrunde engagiert im Gilchinger Gasthof Widmann diskutiert wurde.

„Was ist denn eigentlich Leistung? Ist wirklich die Note 1 in Mathematik und Deutsch das Beste?“, fragte Waltraud Lučić. Bei solchen Einschätzungen müsse sich die Gesellschaft dringend ändern. „Ich wünsche mir, dass jede Leistung gleich angesehen wird, egal ob kreative oder kognitive“. Dadurch könne endlich auch eine Gleichwertigkeit bei den Berufen entstehen. „Es ist doch egal, ob ich Schreiner bin oder Arzt, Hauptsache ich mache diesen Beruf gerne.“ Dem konnte Barbara Liegl nur zustimmen. „Ich finde es schlimm, wie eindimensional gelernt wird. Es zählen in der Schule nicht einmal mehr die Nebenfächer, ganz zu schweigen von Sport und Kunst“, kritisierte sie. Als Beispiel führte Liegl ihre beste Schwimmerin an. Die „deutsche Meisterin“ sei in der Schule „grottenschlecht“ gewesen. Es stellte sich die Frage, ob das Training zugunsten des Lernens reduziert werden sollte. Die Eltern wollten der Tochter jedoch ihr Hobby und ihren Erfolg nicht nehmen. Eine Ausnahme. „Das fand ich super, denn oft ist es andersrum“, so Liegl. Ihre Synchron-Schwimmmeisterin habe nach zwei Ehrenrunden „die Kurve“ übrigens gekriegt, „die ist fast mit dem Studium fertig“.

"Ein bisschen Druck schadet nicht"

Ein bisschen Leistungsdruck und Motivation schade jedoch gar nicht. Im Gegenteil. Dadurch könne man sich sogar weiterentwickeln, fand Natalie Schmid. Ihren Sohn habe sie erst vor kurzem durch Zuspruch unterstützt, als er eine kleine Rede halten sollte. Er hat es gut geschafft. "Danach waren alle stolz auf ihn." Die positiven Auswirkungen von Erfolgen seien wissenschaftlich erwiesen, warf Lučić ein. "Durch Erfolg werden die Motivationsstoffe im Gehirn angeregt. Die Kinder wollen dann mehr.“ Dadurch käme sozusagen ein „Schubs von sich aus“ und man lerne gerne. Im Gegensatz dazu würde zu viel Druck blockieren, mit der Folge, dass man nicht lernen könne. Lučić befürwortet deswegen eine Schule, bei der die Kinder bis zur zehnten Klasse zusammen lernen. Damit könnte der unsägliche Übertrittsstress in der vierten Klasse wegfallen und die Kinder hätten mehr Zeit, um ihr Potenzial zu entfalten. "Schlimm" sei es, dass Kinder im Grundschulalter psychologische Betreuung brauchten, weil sie den Druck nicht mehr aushalten und krank werden.

"Gebt den Kindern Zeit"

Auf das Motto „gebt den Kindern Zeit, sich in ihrem Tempo zu entwickeln“ konnte sich die Tischrunde gut einigen. „In unserem Schulsystem kannst du später noch alles nachholen“, fügte Natalie Schmid an. Dem stimmte Benjamin Wellinger zu: „Der Weg ist nicht vorbei, wenn es gerade im Moment Schwierigkeiten gibt. Kinder können später noch alle Ziele erreichen, wenn sie möchten.“ Oft machten die Eltern aber zu viel Druck. „Kinder sind auch ein Statussymbol. So schön wie mein SUV aussieht, so toll wie meine Super-Wohnung ist, so optimal müssen auch meine Kinder sein.“ Dabei seien Kinder „Menschen mit einer Persönlichkeit, die ich begleiten darf, mit ihrem eigenen Charakter“. Wenn ein Kind jedoch nur so sein soll, wie die Eltern das gerne hätten und auf dessen Ängste, Sorgen und Emotionen keine Rücksicht genommen wird, „da fängt die Seele schon an krank zu werden“.

Schule sei nicht alles und sollte nicht überbewertet werden, betonte Alexander von Dehn. „Früher war ich in zehn Vereinen aktiv“, erinnerte sich der Hechendorfer und zählte auf: „Feuerwehr, Sportverein, Blaskapelle, Schützen...“. Dabei habe er auch Vorstandsaufgaben übernommen und konnte daraus viel Selbstbewusstsein ziehen. „Die Vereine waren mein Leben“, so Dehn. Viele wichtige Schlüsselqualifikationen hat Dehn in den Vereinen gelernt. Zum Beispiel Teamfähigkeit und respektvollen Umgang. Da wogen die schlechten Schulnoten nicht gar zu schwer.

Für Natalie Schmid ist es nicht einfach, das richtige Maß zwischen "Struktur geben, Halt geben und Käseglocke" zu finden. Sie stelle sich häufig die Frage: „Wo mache ich zu viel, wo zu wenig? Loslassen und führen – das ist schwierig.“ Dem stimmte Dehn zu: „Wir müssen lernen loszulassen, aber andererseits erwarten die Kinder auch von uns, geführt zu werden.“ Gar nicht so einfach, vor allem da der Rahmen, in dem sich ein Kind bewegen dürfe, für jedes Kind ein anderer sei. „Jedes Kind fordert einen eigenen entweder weiteren oder engeren Rahmen“, so Martina Rusch. Wie dieser aussehen könne, "sei eine fortlaufende Entscheidung, ein permanentes Anpassen", erklärte Rusch.

Wellingern gibt Eltern gerne folgenden Rat: „Macht euch nicht so viele Gedanken. Bleibt natürlich und schaut auf eure Kinder. Sie verstehen schon, warum man mal streng sein muss und finden es okay.“ Man müsse den Kindern auch die Chance geben zu verstehen, fügte Rusch an. „Das heißt nicht, dass man alles ausdiskutieren muss, aber gewisse Entscheidungen begründen sollte. Das gibt den Kindern die Möglichkeit, ein bisschen Verantwortung zu übernehmen.“

Programm "starke Eltern - starke Kinder"

In der Theorie sei das alles schön und gut, aber wie könne man Eltern, die kein Bewusstsein für solche Inhalte haben, ansprechen? Diese seien nämlich leider die Masse, so Wellinger. Das habe auch mit unterschiedlichen Kulturen zu tun. Das war das Stichwort für Rusch, denn der Kinderschutzbund bietet genau zu diesem Thema eine Elternschule unter dem Motto „starke Eltern – starke Kinder“ an. Darin gehe es nicht darum, Eltern einen pädagogischen Ansatz nahe zu bringen, sondern „wir versuchen Eltern zu stärken, dass sie wiederum ihre Kinder stärken und zwar nach deren Möglichkeiten“.

Sorgen bereitete der Tischrunde der zunehmende Egoismus in der Gesellschaft, der sich in mangelndem Respekt vor anderen äußert. Dehn hat in seinen Vereinen Respekt vor den Leistungen der „Alten“ gelernt. „Als kleiner Bub habe ich ehrfürchtig vor den alten Feuerwehrkameraden gestanden und sie bewundert.“ Die Jungen hätten heute fast gar keinen Respekt mehr vor dem Alter, „die leben in einer ganz anderen Welt“. Die Denkensweise sei anders geworden.

Für Liegl war klar, dass daran die Medien schuld seien. In vielen Fernseh-Serien werde den Kindern als Moral suggeriert, „wenn ich etwas durchsetzen will, muss ich es selbst in die Hand nehmen und im Notfall mit der Waffe“. Im Arbeitsleben sei dies – von der Waffengewalt abgesehen – ähnlich, so Schmid. Praktikanten hätten früher automatisch Respekt vor älteren Mitarbeitern gehabt. „Das hat sich erschreckend geändert.“ Grüßen, Türe aufhalten oder andere „Spielregeln der Gesellschaft“ vermisse sie heute. Mit Bildungsferne oder Kultur habe dies übrigens nichts zu tun gehabt, ihre Beispiele waren alle "aus gutem Haus und haben studiert“.

Vielleicht liege das daran, dass heutige Eltern einen zu großen Fokus auf ihr Kind legten und den Blick für die „anderen“ verloren haben, überlegte Schmid. Für Rusch klang das plausibel. „Die Botschaft sollte sein, die Welt steht dir offen, wenn du dich an gewisse Regeln hältst, nicht die Welt gehört dir, wenn du mit dem Ellbogen durchgehst.“

Um das zu vermeiden, hat Liegl ihre Schwimmerinnen einen „Ehrenkodex“ entwickeln lassen. Darin haben sie  aufgeführt, wie sie gerne behandelt werden möchten oder was ihnen wichtig ist. Das war beispielsweise „freu dich nicht, wenn eine andere Misserfolg hat“ oder „benimm dich bei Tisch, wenn wir zusammen essen gehen“.

Zum Schluss gab Wellinger zu bedenken: "In solchen Gesprächsrunden haben alle die gleiche Einsicht und  Verständnis. Trotzdem ist ja irgendjemand da draußen doch respektlos. Wer ist das wohl, wenn jeder Einzelne eigentlich das Gleiche meint?“

Unsere Sommer-Frage

Können Sie sich an eine besonders schlechte eigene Schulnote erinnern? Wie hat sich das damals ausgewirkt? Unsere Gäste antworten:

Barbara Liegl: "Viel schlimmer als schlechte Noten, bei denen ich wusste, dass ich nichts gelernt hatte, war für mich ungerechte Benotung. Das bringt mich viel mehr aus dem Gleichgewicht."

Waltraud Lučić: "Ich weiß keine schlechte Note, nicht weil ich keine geschrieben habe, sondern weil ich mich nicht erinnern kann. Das war nicht so wichtig."

Martina Rusch: "Ich war eine furchtbar schlechte Schülerin. Mein Vater war unglaublich entspannt und hat gesagt, 'irgendwann wird dir der Knopf schon aufgehen'. Diese Zuversicht hat mich durch meine gesamte Ausbildung begleitet."

Natalie Schmid: "Meine schlechteste Note war Latein. Ich träume heute noch davon, dass ich kurz vor der Lateinprüfung stehe, nichts kann und weiß und nichts gelernt habe. Ich hatte zum Glück Eltern, die nie meine Persönlichkeit an den Noten festgemacht haben."

Alexander v. Dehn: "Ich hatte einmal die vergebliche Hoffnung, nicht den dritten Fünfer zu bekommen, habe dann eine Ehrenrunde gedreht. Damals habe ich geglaubt, dass meine Lehrerin daran schuld war, aber heute weiß ich, dass es natürlich ich war."

Benjamin Wellinger: "Ich war zwar nicht fröhlich, wenn ich eine schlechte Note geschrieben habe, aber ich hatte sehr tolerante Eltern, die mir vermittelt haben, dass Noten zwar wichtig sind, aber dass sie nicht mich als Persönlichkeit ausmachen."

 

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Barbara Liegl, Trainerin der Isarnixen (Synchronschwimmerinnen), Damen-Schwimm-Verein München v. 1903 e.V.

Waltraud Lučić, 1. Vorsitzende des MLLV (Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband)

Martina Rusch, Pädagogische Geschäftsführerin, Dt. Kinderschutzbund (DKSB) e.V., Starnberg

Natalie Schmid, Münchner für Münchner e.V.

Alexander v. Dehn, 1. Vorsitzender Freiwillige Feuerwehr Hechendorf

Benjamin Wellinger, Psychologe und Mitglied im pädagogischen Leitungsteam des Malteser Inklusionsdienstes / Schulbegleitung

 

Respekt zeigen

Respekt meint nichts anderes als guten Willen: Aushalten, dass es andere Bewertungen und Erfahrungen neben den eigenen gibt. Die unmittelbare Folge daraus ist, Mitgefühl empfinden zu können. Jedes familiäre, jedes soziale und politische Problem lässt sich durch das Maß an Mitgefühl definieren, das wir füreinander aufbringen oder eben nicht. Welchen Menschen und Einrichtungen, welchen Leistungen, Fähigkeiten und Tätigkeiten begegnen wir mit Respekt?


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