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"Sterben muss wieder greifbar sein"

Verlorenes Wissen und neues Bewusstsein: Der Umgang mit dem Tod ändert sich

Ina Weichel (Malteser) rät, sich rechtzeitig mit dem Tod zu beschäftigen, nicht erst dann, wenn eine Notsituation entstanden ist. „So bekommen alle Angehörige Sicherheit und Ruhe, um mit einer Sterbesituation umzugehen.“ (Bild: Olga Zarytska)

Größer könnte der Gegensatz nicht sein: Mitten in München zur schönsten Sommerzeit treffen sich sechs Fachleute, Wissenschaftler und Betroffene, um bei einer Brotzeit im Hirschgarten über das Sterben und den Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft zu diskutieren. Alle sechs haben berufsmäßig oder persönlich mit diesem schweren Thema zu tun. Ihr gemeinsames Anliegen ist schnell geklärt. Ihnen allen liegt am Herzen, die Tabuisierung des Todes in unserer Gesellschaft aufzuheben.

„Wir Menschen beschäftigen uns ungern mit der eigenen Endlichkeit“, meint Frauke Schwaiblmair, Psycho- und Musiktherapeutin aus dem Würmtal. „Wir wollen das Schöne erleben, und das weniger Schöne nicht.“  „...und gehen im Geiste von unserer potenziellen Unsterblichkeit aus“, ergänzt Michael Clausing, Bildungsreferent des Christophorus Hospiz Vereins. „Lieber beschäftigen wir uns mit etwas Neuem und Schönen als mit dem Niedergang. Das beobachte ich auch bei uns Profis. Wenn man sich aber drauf einlässt, dann erlebt man sehr viel Tiefsinn und Bedeutungsvolles, das man vorher nicht für möglich gehalten hat.“

Am liebsten: unsterblich

„Nicht umsonst spricht man von der Kunst des Lebens und der Kunst des Sterbens“, sagt Pfarrer Johannes von Bonhorst, Leiter des Pfarrverbands Würmtal mit St. Elisabeth Planegg und St. Vitus Stockdorf. „Vielleicht ist uns diese Kunst ein Stück weit verloren gegangen. Doch schon im Tagesanfang liegt das Sterben begründet. Das soll jetzt niemanden erschrecken, vielmehr liegen darin viele Chancen für Lebensfreude und Lebensintensität.“

Trotz allen Wissens: Wir Menschen reagieren irritiert auf Todesnachrichten und verbannen den Tod am liebsten ganz aus unserem Denken. „Das liegt vielleicht auch an der Unsicherheit im Umgang mit schweren Krankheiten und der zunehmenden Hilfsbedürftigkeit von Schwerstkranken“, kann sich Ina Weichel, Leiterin Malteser ambulanter Hospiz- und Palliativberatungsdienst Würmtal und Gilching, vorstellen. „Oftmals werden diese Kranken an Institutionen abgegeben, sicherlich in einem Wohlwollen für die Menschen.“ „Die Mediziner wiederum suggerieren uns vielleicht auch, dass wir immer länger leben, dass alles möglich ist, dass die Medizin alles möglich macht. Schwer zu akzeptieren, wenn dies plötzlich nicht mehr so sein soll“, antwortet darauf Dr. Berend Feddersen, Leiter des ambulanten Palliativteams im Klinikum Großhadern.

Haben wir das Trauern verlernt?

„Das Schlimmste ist natürlich der Tod, das Endgültige. Aber es gibt auch andere Lebensübergange und Einschnitte, die wir zu beklagen haben und uns traurig stimmen“, sagt Florian Rauch, Leiter des Lebens- und Trauerinstituts AETAS. „Ich denke, wir haben es in einem gesellschaftlichen Sinn verlernt zu trauern. Das ist sehr schade.“

Aus dem Impuls heraus, der Trauerkultur wieder einen würdigen und zentralen Platz in der Gesellschaft zu geben, hat Rauch vor 15 Jahren AETAS gegründet. Bestattungen sind dabei nur ein kleiner Teil der AETAS-Arbeit. Darüber hinaus begleitet AETAS die Angehörigen in ihrer Trauer, kümmert sich um traumatisierte Kinder und Jugendliche und hat die zweijährige berufsbegleitende Ausbildung zum Trauerpädagogen in das Institutsprogramm aufgenommen.

Lieber einen Gang runter

Heutzutage müsse alles schnell-schnell gehen und damit wolle man den Hinterbliebenen einen Dienst erweisen. „Das Gegenteil ist der Fall! Für eine wirkliche Trauerkultur brauchen wir Entschleunigung“, fordert Rauch. „Die Zeit zwischen dem Sterben und der Bestattung ist eine sehr bewusste und sensible Zeit. Die sollte man aktiv gestalten und sich bewusst vom Toten verabschieden, in aller Ruhe.“

Doch wer weiß schon immer so genau, was zu tun ist, wenn ein naher Angehöriger stirbt? Wer weiß, wo es Hilfe gibt und was getan werden muss? Früher wurde ein solches Wissen von Generation zu Generation weitergegeben. „Dieser Umgang ist leider verloren gegangen“, bedauert Schwaiblmair, „und damit sind auch viele Rituale verschwunden. Das ist tragisch, denn durch Rituale bekommen wir Halt und Sicherheit. Mit Ritualen können wir Krisen bewältigen.“

Wie Rituale helfen können

In ihrer eigenen Familie habe sie die Wichtigkeit solcher Rituale miterlebt. „Ich habe leider zwei meiner Kinder begleiten müssen; eins starb mit zehn Monaten, eins vor zwei Jahren im Alter von 17. Hätten wir unsere Rituale nicht bewusst eingesetzt, wäre uns der Abschied noch schwerer gefallen.“

Rituale vermitteln das schöne Gefühl der Geborgenheit und der Zusammengehörigkeit. Übrigens: Auch die Erfüllung eines letzten Wunsches oder die Vorstellungen des Sterbenden von seiner Beerdigung gehören zu den möglichen Ritualen. Pfarrer von Bonhorst weiß aus Erfahrung, wie oft Unbewältigtes am Lebensende zur Sprache kommt. „Zeit zum Zuhören schenken, offen sein – das hilft sehr. Ich erlebe häufig, dass ein Sterbender sozusagen 'aufräumen will'. Schafft er das, kann er wirklich in Frieden gehen.“

Ganz schwierig ist die Aufgabe für die Familie, wenn jemand sehr plötzlich verstirbt. „Da sind alle geschockt“, so Weichel. Sie plädiert deshalb dafür, sich rechtzeitig mit dem Tod zu beschäftigen, nicht erst dann, wenn eine Notsituation entstanden ist. „So bekommen alle Angehörige Sicherheit und Ruhe, um mit einer Sterbesituation umzugehen.“

Sterben muss greifbar sein

Das fängt schon bei den Kleinen an. Mit seinen Kinder- und Jugendprojekten geht der ambulante Maltheser Hospizdienst seit Jahren in Schulen und Kindergärten und mit den Kindern über das Sterben zu sprechen und ihnen die Angst zu nehmen. „Kinder haben oft ganz grausige Vorstellungen vom Tod und gehen mit extrem viel Phantasie an das Thema. Aber sie sind interessiert und haben sehr klare Vorstellungen davon, was ein Sterbender braucht. Das ist toll. Viele Familien erzählen uns, dass die Kinder einem Sterbenden dann wirklich die Hand gehalten oder ihm ein Bild gemalt haben.“

„Kinder müssen unbedingt mitgenommen werden!“, verlangt Rauch. „Sie erleben viel, haben Fragen, gehen mit unglaublicher Phantasie rein. Der Umgang mit dem Tod muss Teil unserer Erziehung sein. Sterben gehört nun mal zum Leben dazu. Es ist furchtbar, aber nichts Angsteinflößendes. Sterben muss wieder greifbar sein.“

Wächst die Einsamkeit?

Immer vorausgesetzt natürlich, dass der Sterbende in einer intakten Familie zu Hause ist und seine Verwandten in der Nähe wohnen. Doch so ideal sieht die Lage in Großstädten wie München nicht aus. „Mir begegnet oft Einsamkeit“, erzählt Clausing. „Die Leute leben allein in ihren Wohnungen und haben niemanden, vielleicht nicht einmal eine Nachbarin, die nach dem Rechten sehen kann. Daraus erwächst sehr viel Not.“

Die gesellschaftliche Antwort darauf sind Ehrenamtliche, die sich rund um die Uhr kümmern, „ganz einfach Türöffner im wörtlichen Sinn sind“, so Clausing, der selbst seit über 20 Jahren ehrenamtlich tätig ist. „Bei uns sind über 100 Ehrenamtliche organisiert. Die helfen, kommen ins Haus, wissen, was zu tun ist und holen die nötige fachliche Hilfe, begleiten in Trauer. Die Ehrenamtlichen leisten einen Riesendienst an der Gesellschaft! Sie sind oft DIE Kontaktperson schlechthin. Das kann man nicht hoch genug schätzen“, weiß auch Weichel. Und wenn dann doch jemand gar so viel Nähe ablehnt, ist durch die Ehrenamtlichen ein Bindeglied zur Versorgung hergestellt. „Es macht eben doch einen großen Unterschied, ob es jemanden gibt, den man ansprechen könnte, wenn man Hilfe bräuchte, oder ob überhaupt niemand da ist.“

Ehrenamtliche Hospizhelfer leisten Riesendienst

Nach Erhebungen des ambulanten Palliativteams verbringen die Helfer aber die meiste Zeit mit den Angehörigen. „Ich fahre mit meinem Team den ganzen Tag durch München und versuche, dass die Patienten auch wirklich bis zum Schluss zu Hause bleiben können, wenn sie das wollen. Aber zu Hause braucht es relativ viel Drumherum an Unterstützung und an Struktur“, so Feddersen. „Das ist ein Dilemma. Ein Großteil unserer Aufmerksamkeit gilt daher den Pflegenden.“

Es sei erstaunlich, welche Kräfte die Angehörigen mobilisieren können, wenn sie Anleitung bekommen, so Weichel. Auch hierbei würden die Ehrenamtlichen wiederum unersetzlich sein. Zudem gibt es seit 2007 die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV), auf deren Grundlage Schwerstkranke und Sterbende Anspruch auf leidensmindernde, also palliative medizinische und pflegerische Behandlung haben. SAPV verbindet sozusagen das Herz – das Zwischenmenschliche – und das Hirn – die medizinische Versorgung- miteinander.

Engmaschiges, multidisziplinares Netz

„Mit SAPV traut es sich ein Großteil der Angehörigen wirklich zu, jemanden zu Hause zu versorgen“, so Clausing. „SAPV ist ein großer Segen für uns alle. Ich würde sagen, mit SAPV ist ein engmaschiges, multidisziplinares Netz entstanden mit einer völlig neuen Arbeitsweise. In München kooperieren verschiedene Dienste. Das ist toll!“

Was bleibt dabei dem Palliativmediziner? Gilt der alte Spruch noch, dass nach ihm der Pfarrer kommt? „Nicht ganz“, meint Feddersen lachend. „Wir sind Gesprächspartner, Leute bekommen durch uns eine wirkliche Lebensqualität auch in ihrem Leiden. Wir können Angehörigen zur Seite stehen. Und wir sind einfach nicht mehr die Sterbestation, circa die Hälfte unserer Patienten wird gesund entlassen.“

„Wir sind auf einem guten Weg“

Es mache Sinn, sagt Feddersen, dass man das Bewusstsein für das Sterben in der Gesellschaft öffne. „Auch in den Studentenkursen bei den jungen Leuten wächst das Interesse über das rein Technisch-Medizinische hinaus. Die Leute fragen: Was passiert beim Sterben? Was sagt man? Da kommt etwas in Gang. Das ist schön zu sehen. Da sind wir auf einem guten Weg. Soziologen definieren Krise als einen Zustand, der mit herkömmlichen Bewältigungsstrategien nicht zu bewältigen ist. Genau da wirkt die ambulante Palliativversorgung: sie gibt Bewältigungsstrategien!“

Keiner der Gesprächsteilnehmer macht den Eindruck, dass der tägliche Umgang mit dem Tod bedrückt oder verängstigt. „Nein, wie auch“, antwortet Clausing. „Das ist eine sinnvolle und ausfüllende Arbeit. Wir wollen und sollten mehr in die Gesellschaft hineingehen und mit allen ins Gespräch kommen.“

Großer Gewinn an Lebensqualität

Aus den früheren kleinen Grüppchen, die Hilfe angeboten haben, ist eine starke bürgerschaftliche Bewegung entstanden, meint Schwaiblmair beruhigend. „Und ich habe selbst erfahren dürfen, dass es möglich ist Abschied zu nehmen, auch in ganz jungen Jahren. Das ist für mich ein großer Gewinn für die eigenen Lebensqualität.“

Das höre sie sehr oft von Angehörigen. „Im Rückblick beschreiben viele die Zeit der Begleitung als überaus intensive Lebenszeit“, bestätigt Weichel. „Ein Patient sagte einmal zu mir: Wenn ich jetzt nicht sterben müsste, würde es mir saugut gehen. Wenn das in der Breite gelingen würde, das wär es! Dann wäre der Tod wirklich kein Tabuthema mehr!“ In diesem Sinne hat das Gespräch über den Tod und den Umgang mit dem Sterben an keinem besseren Ort stattfinden können, als mitten in München im Hirschgarten zur besten Sommerzeit bei einem gemütlichen Bier – eben mitten im Leben.

Unsere Sommer-Frage

Wo möchten Sie einmal begraben sein? Unsere Gäste antworteten:

Michael Clausing:

Nicht anonym! Die Tendenz geht ja allerorts zu anonymer Bestattung. Aber das finde ich nicht richtig.

Dr. Berend Feddersen:

Ich hätte gern eine Bestattung bei AETAS. Die Rituale dort finde ich toll. Außerdem möchte ich nicht verbrannt werden. Doch wo der Ort sein wird, das kann ich nicht sagen, sicherlich aber in der Nähe der Angehörigen.

Florian Rauch:

Der Friedhof ist für mich ein ganz wichtiger Ort mit klarer Verortung, wo mich vielleicht der eine oder andere mal besucht. Mein Wunsch wäre sogar, irgendwann einen eigenen Friedhof zu gründen. Das ist in München aber nicht so einfach.

Frauke Schwaiblmair:

Im Familiengrab neben meinen Söhnen.

Pfr. Johannes von Bonhorst:

Auf dem Pippinger Friedhof neben dem Grab meiner Eltern.

Ina Weichel:

Auf dem Münchner Waldfriedhof! Schon als Kind bin ich mit meiner Familie gern dort spazieren gegangen. Inzwischen gibt es dort auch zwei Familiengräber, dort stelle ich mir meinen Platz vor.

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Michael Clausing (Bildungsreferent Christophorus Hospiz Verein, ehrenamtlicher Hospizhelfer)

Dr. Berend Feddersen (Klinik für Palliativmedizin der LMU, Leiter des ambulanten Teams)

Florian Rauch (Geschäftsführung AETAS)

Frauke Schwaiblmair (Musik- und Psychotherapeutin, betroffene Mutter)

Pfr. Johannes von Bonhorst (Leiter des Pfarrverbands Würmtal mit St. Elisabeth Planegg und St. Vitus Stockdorf)

Ina Weichel (Leiterin Malteser ambulanter Hospiz-und Palliativberatungsdienst
Würmtal und Gilching).

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