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"Man verliert schnell den Überblick"

Vielen fehlt das Gefühl für Geld: Wofür machen Menschen Schulden?

In unserer Konsumgesellschaft geht der richtige Umgang mit Geld verloren: Schuldenmachen wird oft verharmlost. (Bild: Andreas Hermsdorf / pixelio.de)

Gehört Schuldenmachen heute zum guten Ton? Gibt es „gute“ oder „schlechte“ Schulden? Gibt es überhaupt noch den Begriff „Ehrenschulden“ oder ist es vielmehr „schick“, Schulden zu machen? Und was gibt es für Präventionsmöglichkeiten, um gar nicht erst in die Schuldenfalle zu geraten? Bei unserem Sommergespräch im Hirschgarten ging es um die Frage „Wie schick sind Schulden?“

Das Gefühl für Geld fehlt vielen

Lebhaft diskutierten Vertreter der Wirtschaft, der Politik, der Schuldnerberatungs- und Präventionsstellen, aber auch eine Vertreterin eines Inkassobüros. Einig war sich die Tischrunde, dass Schulden keineswegs schick seien. Was allerdings die jeweiligen Schuldner und die Gründe für das Schulden machen betraf, so gab es unterschiedliche Meinungen.

Vielen Bürgern fehle heute das Gefühl für Geld, hat Kajetan Brandstätter (Business Club Bavaria) festgestellt. Das fängt im Kleinen an, wenn ein Bürger einen Dispokredit nach dem anderen aufnimmt oder ausgiebig im Internet bestellt, und hört im Großen auf, wenn bei Themen wie „Griechenland“ oder „Flughafen Berlin“ nur so mit den fehlenden Milliardensummen jongliert wird.

Zu wenig Wissen bei Jugendlichen

Im Elternhaus werde gar nicht über Geld gesprochen, kritisierte Torsten Sowa vom Verein H-Team. „Die Kinder wissen nicht, was die Eltern verdienen und wo das Geld herkommt“. Das sei „typisch deutsch“, doch das Thema Geld dürfe nicht tabuisiert werden. Erschüttert über die große Unwissenheit, die bei der Jugend bei Themen wie Geld, Schulden und Verträge bestehe, zeigte sich Melina Welscher, Leiterin der Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle beim Verein H-Team. „Der Handyvertrag ist der Klassiker“, so Welscher. Bei ihren Schulveranstaltungen trifft sie immer wieder auf junge Menschen, die überhaupt keine Ahnung von Vertragsgestaltung haben. „Die wissen nicht, wie lange ihr Handyvertrag läuft oder dass man ihn kündigen muss“.

Das "Wofür" ist entscheidend

„Schulden per se sind meines Erachtens nicht schlimm. Es kommt aber darauf an, wofür“, so Reinhard Andres, Vorstand der Raiffeisenbank München-Süd. Der Bürger müsse überlegen: "Welche Schulden kann ich mir leisten? Welche nicht? Und für welche Verwendungszwecke nehme ich die Schulden auf?"

Keinen Sinn mache es beispielsweise ein gebrauchtes Auto zu kaufen und auf zehn Jahre zu finanzieren, „weil das Auto gar nicht so lange hält“. Eine eigene Wohnung oder ein neues Auto, das seien langfristige Investitionsgüter. „Wenn ich Geld für Konsum verwende, um beispielsweise in den Urlaub zu fahren, dann sollte lieber vorher gespart werden“.

Verführung durch "günstiges Geld"

Andreas Lotte, MdL hat allerdings festgestellt: „Durch die niedrigen Zinsen ist die Verführung für vermeintlich günstiges Geld Kredite aufzunehmen besonders groß und im Umkehrschluss leider das Sparen wenig attraktiv“. Um in unserer Konsumgesellschaft die Wünsche nach Handy, Auto und schönen Klamotten zu erfüllen, werden Ratenzahlungsangebote gerne wahrgenommen. Außerdem werde mal mit der EC-Karte gezahlt, dann wieder mit der Kreditkarte oder bar. „Man verliert schnell den Überblick“, so Lotte.

Schulden werden verharmlost

Brandstätter hat darüber hinaus eine „gewisse Verharmlosung von Schulden“ beobachtet. Das sah Eva-Maria Korwieser (Juravi Forderungsmanagement) genauso: „Schulden zu machen sehen viele ganz locker“. Nach dem Motto, „der Firma werde es schon nichts schaden, wenn ich meine 200 Euro nicht zahle“, hätten viele nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkämen. Sind die Schulden dann zu hoch geworden, dann „wollen sich hochverschuldete Haushalte oft am liebsten nicht mehr damit auseinandersetzen“. Es herrsche eine regelrechte Angst vor den Rechnungen.

"Wir sagen auch mal 'nein'"

Korwieser trifft regelmäßig Schuldner an, die Briefe nicht einmal mehr öffnen. Doch ein relativ geringer Betrag, der im 100-Euro-Bereich liege, könne schnell in die Höhe schnellen. Mahngebühren, Gerichtsvollzieher, Lohnpfändungen drohten. Und trotzdem gebe es auch bei derart desolaten Situationen Stellen, die einen weiteren Dispokredit genehmigten. Von solchen Vorgehensweisen distanzierte sich Andres. „Wir sehen es als unsere Pflicht an, den Kunden zu beraten und auch einmal 'nein' zu sagen, wenn wir sehen, dass sich der Kunde finanziell übernimmt“, versicherte er.

Psychische Belastung für Familien

Eine Lanze für die Schuldner brach Heidi Schaitl, Leiterin der Schuldnerberatung im Caritas-Zentrum Fürstenfeldbruck: „Es ist nicht so, dass sich verschuldete Familien vorher viele Luxusgegenstände geleistet haben. Häufig sind Schulden die Folge von prekären Lebensverhältnissen, von Haushalten mit niedrigem Einkommen, von Menschen, die versuchen, die soziale Teilhabe für ihre Familie zu gewährleisten“. Wenn zu einer finanziell angespannten Familiensituation noch eine unvorhergesehene Krankheit oder Arbeitslosigkeit käme, gerieten solche Familien immer tiefer in die Schuldenspirale. Die Menschen, die in die Schuldnerberatungsstelle kämen seien jedenfalls „psychisch sehr belastet durch das Gefühl, dass sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten“.

„Die Leute, die bei Ihnen auftauchen, ein schlechtes Gewissen haben und bemüht sind die Schulden abzustottern, sind eher ein kleiner Prozentsatz“, erwiderte Korwieser. Sie müsse dagegen nachdrücklich versuchen, „mit Schuldnern ins Gespräch zu kommen“. Ihr Ansatz sei dabei nicht Druck auszuüben, sondern nach machbaren Ratenzahlungen zu suchen. „Es macht keinen Sinn, Raten zu vereinbaren, die nicht zu halten sind, nur damit der Gläubiger befriedigt ist“, meinte sie. „Realistische Zahlungspläne, die Sicherheit für beide Seiten geben und den Schuldner motivieren, durchzuhalten, weil ein Ende der Rückzahlungen absehbar ist“, nannte es Schaitl.

"Geld muss hart erarbeitet werden"

Damit es erst gar nicht so weit kommt, sei Präventionsarbeit von Kindheit an notwendig, war sich die Tischrunde einig. „Kinder müssen in der Familie lernen, dass das Geld, das zur Verfügung steht, hart erarbeitet werden muss“, sagte Andres.

Bei der Caritas beginnt man im Kindergartenalter mit der Prävention. Es wird beispielsweise versucht, ein Gefühl dafür zu wecken, was ein Bedürfnis oder ein Wunsch sei, wie Eltern Grenzen setzen können und Kinder in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt werden, um unabhängig von Statussymbolen zu sein. Auf den Schullehrplänen fehle jedoch das Thema „Schulden“, bedauerten die Teilnehmer des Sommergesprächs. „Finanzielle Bildung gehört als Pflichtfach an die Schulen“, bekräftigte Brandstätter. Dabei gibt es Länder, die als positives Vorbild dienen könnten. Zum Beispiel Österreich. Hier gebe es an Schulen Workshops für Jugendliche zum Thema Geld. „Machen wir das gemeinsam auch bei uns“, schlug Brandstätter seinen Tischnachbarn vor. „Da stelle ich mich gerne zur Verfügung“.

Das gutes alte Haushaltsbuch

Und dann hatte die Tischrunde noch ein paar handfeste Tipps für Schuldner: Das gute alte Haushaltsbuch zum Beispiel - damit sich die Leute bewusst machen, was sie für ständig wiederkehrende Ausgaben haben, regte Brandstätter an. Und Lotte erinnerte sich an seine Studentenzeit, als er immer nur 50 Mark abgehoben und in bar bezahlt hatte. „Wenn der Geldbeutel leer war, wusste ich, dass ich zuviel ausgegeben hatte“. Selbstständige sollten auf realistische Business-Pläne setzen. „Dann bekommt man ein Gefühl dafür, was monatlich ein- und ausgeht“ und Andres wies auf den „Finanzmanager“ beim Online-Banking hin, der die Ausgaben automatisch sortiere.

"Die Mittel müssen erhöht werden"

Schaitl nutzte die Gelegenheit, um die Politik in die Pflicht zu nehmen. „Ich wüsste gerne, inwieweit die Politik bereit ist, für den Bereich Prävention zu investieren“, sagte sie und forderte eine bessere Refinanzierung der Schuldnerberatungsstellen. Evaluationen hätten ergeben, dass bei Jugendlichen ein Jahr nach einer Präventionsveranstaltung noch überraschend viel „hängen geblieben“ sei. „Es wäre wichtig, dass wir diese Arbeit flächendeckend und nicht nur auf Anfrage machen könnten, aber uns fehlen die finanziellen Mittel“, bedauerte Schaitl.

Beim H-Team ist die Situation ähnlich. „Wir sind fremdfinanziert und müssen schauen, wo Gelder reinkommen“, so Melina Welscher. Ein klares „Ja“, gab es von Lotte für die Forderung nach Unterstützung. „Die Mittel müssen erhöht werden. Da ist der Staat in der Pflicht. Die Nachfrage ist riesig, die Beratung muss ausgebaut werden.“ Allerdings dürfte das nicht nur den Kommunen aufgelastet werden: „Es ist genauso Landesaufgabe und auch die Wirtschaft ist gefragt“.

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Reinhard Andres (Vorstand Raiffeisenbank München-Süd eG)

Kajetan Brandstätter (Business Club Bavaria BCB)

Eva-Maria Korwieser (Juravi Forderungsmanagement)

MdL Andreas Lotte

Heidi Schaitl (Leiterin der Schuldner- und Insolvenzberatung der Caritas im Landkreis Fürstenfeldbruck)

Torsten Sowa (Verein H-TEAM)

Melina Welscher (Leiterin der Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle beim Verein H-TEAM)

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