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"Man muss Zeit haben, wenn man gute Entscheidungen treffen will"

Prof. Harald Lesch über kurze Antworten und Denklust, Unsicherheit und Klimawandel, das Sich-Irren, Glück un

Prof. Dr. Harald Lesch: "Ich halte es für einen großen Irrtum, dass wir beim Klimawandel nicht auf die Handlungen der Menschen setzen, sondern an irgendeine neue Technologie glauben." (Bild: pr)

Harald Lesch ist Professor für Astrophysik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Am Donnerstag, 10. Dezember, erklärt er in seinem Vhs-Vortrag "Wir irren uns empor", wie er die Rolle der Wissenschaft für den Klimaschutz sieht. Vorab beantwortete er Fragen von Johannes Beetz.

"Viele sind faul im Denken geworden"

Jedes Kind weiß, dass die Erde um die Sonne kreist. Für Familie Neandertaler, die die Sonne jeden Tag über den Himmel laufen sah, war es viel plausibler, dass es nur andersherum sein kann. Sprich: Unser Weltbild hängt davon ab, wie wir unsere Alltagsbeobachtungen mit möglichen Erklärungen in Einklang bringen können. In unserer gegenwärtigen Welt mit vielen Kommunikationsplattformen gibt es für alles jede gewünschte mögliche Erklärung.

Haben es alternative „Fakten“ und Verschwörungstheorien also heute leichter als früher?

Läuft die Wissenschaft in Gefahr, der Hase im Rennen mit den „Social Media“-Igeln zu werden?

Prof. Harald Lesch: Das hängt von der Denklust derjenigen ab, die sich mit einem Problem auseinandersetzen. Wenn Sie mit kurzen Antworten zufrieden sind, dann reichen Ihnen die knackigen Lösungen aus den Social Media. Wenn Sie aber nachfragen und Hintergründiges wissen wollen, wenn Sie sich vielleicht sogar ein bisschen qualitativ mit etwas auseinandersetzen möchten, dann reicht Ihnen das nicht.

Viele sind so faul im Denken geworden, dass sie mit den einfachen Antworten von Populisten relativ schnell zufrieden sind. Sie müssen sich nur ansehen, zu welchen intellektuellen Opfern manche Leute heute bereit sind, und was sie alles zu glauben bereit sind, damit ihr bis dahin zusammengesetztes Weltbild nicht gestört wird.

Die Wissenschaft bietet dagegen eine besondere Erkenntnisform an. Sie stellt sich verwundbar hin, denn man muss alles mit Experimenten und Beobachtungen überprüfen können. Auf der anderen Seite macht sie sich verwundbar, weil die Dinge, wenn sie komplex werden, auch abstrakt werden. Unser Leben ist sehr von abstrakten Technologien bestimmt. Es ist kein Wunder, dass man sich teilweise merkwürdige Weltbilder zurechtlegt, wenn man etwas nicht versteht.

Beispiel Klimawandel: Hier finden Veränderungen nur sehr langsam statt. Würden wir alle in der Arktis leben, würden wir schnell merken, was los ist. Aber hier in München bekommen wir doch kaum etwas davon mit; inzwischen sind unsere Herbste so schön warm geworden, fast wie in Italien ...

Wir haben uns doch fast damit abgefunden - bis der nächste Sommer kommt, der uns ein paar tausend Tote beschert, weil die Leute die Hitze in ihren Wohnungen nicht mehr aushalten.

"Das Glück, immer Neues suchen zu können"

Sie sagen: Wissenschaft muss immer auf den Prüfstand, denn es kann immer neue Erkenntnisse geben. Man kommt also nie ans Ziel, man erreicht nie wirklich sicheren Boden. Ist das nicht ausgesprochen frustrierend?

Oder ist einer, der weiß, dass er nicht alles weiß, glaubwürdiger als andere?

Prof. Harald Lesch: Das ist der große Unterschied zwischen Dogma und Programm. Stellen Sie sich vor, wir würden die Neugier unserer Jugendlichen von vorneherein kaputtmachen, indem wir sagen "Wir wissen schon alles - ihr müsst das nur noch auswendig lernen." Wir hätten eine junge Generation, die nur wiederkäut, was die Alten schon immer gemacht haben.

Es ist ein Gottesglück, dass Wissenschaft unabgeschlossen ist. Selbst die Antworten erzeugen immer neue Fragen. Das ist die Bedingung, um als Mensch in einer stark von Technik und Wissenschaft geprägten Gesellschaft zu leben: Immer etwas Neues, etwas Anderes, eine Verbesserung am Vorhandenen suchen zu können.

Es muss ja nicht immer eine Revolution sein, aber an einem kleinen Reförmchen wäre man doch gerne beteiligt. Man muss nicht alles "disruptiv" auseinanderreißen, sondern sollte das Erfolgreiche des Alten behalten und mit dem Neuen etwas Besseres hinbekommen. In der Wissenschaft behalten wir auch, was an alten Theorien gut ist, und erweitern das mit neuen Theorien, wenn Probleme auftauchen, die wir bisher nicht lösen konnten. Der Erfolg heiligt die Mittel.

"Viele haben Riesenschiss"

Wegweisende Entdeckungen wachsen nicht immer auf einer „Schwarmintelligenz“ der herrschenden Lehrmeinung, sondern sind oft einzelnen Querdenkern zu verdanken, die sich gegen erhebliche Widerstände durchsetzen konnten. Beispiel: Die Idee eines „Urknalls“ wurde zunächst als völlig absurde Spinnerei abgetan. Andererseits zeigt sich in Coronazeiten besonders deutlich: „Querdenken“ alleine ist auch nicht das Gelbe vom Ei.

Wie machen wir es denn nun richtig?

Prof. Harald Lesch: Es geht um die Interpretation von Bildern. Zu behaupten, die Coronapandemie sei eine Erfindung, ist irre - haarsträubender Unsinn. Bei den Querdenkern sind sicher jede Menge ehrenwerter Leute dabei, die einfach Riesenschiss haben, weil ihnen zum Beispiel gerade die Existenzgrundlage entzogen wird. Das wird aber missbraucht von irgendwelchen Figuren, die diese Menschen in ihre abstrusen Welten hineinziehen.

Unsere Aufgabe kann nur sein, die Zweifler durch vernünftige, glaubwürdige und transparente Information dazu zu bringen, den Schritt zur intellektuellen Radikalisierung nicht zu tun. Ein Gespräch muss immer stattfinden können.

Angst und Misstrauen haben das allergrößte Potential für allen möglichen Unsinn. Man sollte nie unterschätzen, was Massen in einem Einzelnen auslösen. In der Gruppe, in der Masse sind wir ganz anders als alleine. Es gibt auch die Schwarmdummheit.

Die Gruppe gibt Sicherheit - das war evolutionär so und gilt auch für den Chatroom: Wenn alle das Gleiche sagen wie ich, dann kann ich ja nicht so falsch liegen. Das vermittelt Sicherheit. Es gibt den Satz "Vertrauen reduziert Komplexität." Vertrauen reduziert Unsicherheit und ermöglicht, dass Sie Ihre Fähigkeiten für andere Dinge verwenden können als sich pausenlos um Ihre unmittelbaren Lebensumstände sorgen zu müssen.

Auch die Wissenschaft braucht Sicherheit und langen Atem. Dafür geht ein großer Dank an die Gesellschaft, dass sie in Universitäten und Instituten Plätze schafft, damit Wissenschaftler sich ausführlich mit wichtigen Themen befassen können. Wissenschaftler sollten der Öffentlichkeit aber auch erklären, was sie herausgefunden haben. Dieser Rücklauf wäre dringend notwendig. Universitäten sollten nicht nur selbst definierte Forschungsfragen angehen, sondern überlegen: Welche Fragen stellen die Bürger an uns? Was wollen sie von uns wissen?

"Gut Ding will Weile haben"

Wir Menschen pendeln zwischen der „Alles ist möglich“-Verheißung des Bibelworts „Macht euch die Erde untertan“ und der zerknirschten Erkenntnis, dass unser Tun stets fehlbar ist – von der „unsinkbaren“ Titanic bis hin zum „Passiert nur einmal in 40.000 Jahren“-GAU von Tschernobyl.

Was verspricht mehr Erfolg: Der Mut, unbekümmert Neues zu wagen und Risiken einfach mal Risiken sein zu lassen? Oder die Demut, nicht alles machen zu wollen, was man machen könnte?

Prof. Harald Lesch: Man sollte bei allen Entwicklungen so etwas wie eine Risikofolgenabschätzung haben und es machen wie in der Römischen Republik: Da gab es die Senatoren, aber auch den Volkstribun mit einem Vetorecht. Damit konnte er Entscheidungen stoppen oder zumindest dafür sorgen, dass sie nochmals bedacht wurden.

Wir sagen oft: Wenn wir dieses oder jenes nicht zügig machen, verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. Da wäre es gut, einen ökologischen oder ethischen Volkstribun - oder eine Volkstribunin - zu haben, die "Stopp" sagt, "haben wir alles bedacht?" Man muss Zeit haben, wenn man gute Entscheidungen treffen will: Gut Ding will Weile haben.

In der Quartalsberichtmentalität der Ökonomie geht viel unter. Wir müssen unseren Entscheidern die Zeit geben, manchmal langsam zu sein, um große Fehler zu verhindern. Das hat etwas mit dem Respekt vor einem Problem zu tun.

"Man muss ein bisschen warnen"

Sie sagen: Die Natur hat das letzte Wort. Naturwissenschaft hieße demnach vor allem, gut zuzuhören?

Prof. Harald Lesch: Man muss genau Inventur machen und hinsehen, was los ist, bevor man eingreift. Sobald eine Grundlagenerkenntnis aus dem Labor an die Öffentlichkeit tritt, wird sie ökonomisch interessant und ausnutzbar. Eine Erkenntnis wird in eine ökonomische Wirklichkeit geholt, die auch sehr widerspenstig sein kann, und sofort treten Effekte auf, die man im Labor nie hätte finden können und die vielleicht ganz andere sind als die ursprünglich beabsichtigten. Man muss also immer auch ein bisschen davor warnen, was mit einer Technik möglich wird.

Man hat nicht immer alles auf dem Schirm. Mir ging das so mit der Frage, warum sich das arktische Eis so langsam neu bildet. Ich dachte immer nur an die Sonneneinstrahlung. Dann habe ich gelesen, dass es auch an den warmen Sommern in Sibirien liegt: Die Flüsse dort pumpen viel warmes Wasser ins arktische Meer. An diesen Effekt hatte ich zuvor gar nicht gedacht.

"Auf die Handlungen der Menschen setzen"

Sich irren und scheitern zu dürfen, gehört nicht zu den „Skills“, auf die wir viel Wert legen. Aber auch Irrtümer sind Sprossen auf der Leiter nach oben.

Mal persönlich gefragt: Ihr größter Irrtum war ...?

Prof. Harald Lesch: Ich hab mich schon so oft verrechnet ...

Errare humanum est. Irren gehört zu uns. Ich halte es für einen großen Irrtum, so sehr auf Technik zu setzen: dass wir beim Klimawandel nicht auf die Handlungen der Menschen setzen, sondern an irgendeine neue Technologie glauben, die schon alles lösen wird; dass wir nur eine Maschine anschalten müssen, die das CO2 aus der Luft holt. Oder dass wir bei Corona meinen, wir brauchen nur den Impfstoff und alles ist wie vorher.

"Die Freiheit, Stopp zu sagen"

Wissenschaft hat für viele Menschen die Funktion, die früher eher der Religion zugedacht war: Sie soll uns bitteschön sagen, was wir tun sollen.

Welche Rolle sehen Sie für die Wissenschaft in Bezug auf den Klimawandel: Ist sie warnender Prophet, unparteiischer Beobachter, unfehlbarer Politikberater oder gesellschaftlicher Akteur?

Prof. Harald Lesch: Es wäre gut, wenn es regelmäßige intensive Kontakte zwischen Politik und Wissenschaft gäbe - nicht erst dann, wenn morgen etwas entschieden werden muss.

Wir haben in Deutschland eine hervorragende Klimaforschung, die seit 40 Jahren dasselbe sagt, aber keiner wollte es hören. Es hat lange gedauert, bis die Parteien - bis auf die Grünen - erkannten, dass wir etwas tun müssen. Sie haben die Wirtschaft nach vorne geschoben, ohne zu erkennen, dass die Natur die Grundlage dafür ist, um überhaupt wirtschaftlich handeln zu können.

Für die Wirtschaft müsste es doch jetzt völlig klar sein, dass jede Art der Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens ein Riesenfehler ist. Die Gesundheit der Konsumenten ist die Voraussetzung, dass überhaupt etwas gekauft wird. Der Gesunde hat tausend Wünsche, der Kranke nur einen - gesund zu werden.

Es müsste eine Bewegung "Raus aus den Privatkassen" und "Steuerliche Finanzierung aller Kliniken" geben, um nach Corona für die nächste Katastrophe gewappnet zu sein, damit die Wirtschaft weitergeht.

Beim Klimawandel wäre das Wichtigste, den Politikern klarzumachen, wie sehr das Klima mit der Gesundheit zusammenhängt. Starke Veränderungen beim Klima führen zu heftigen Gesundheitsbedrohungen. Da muss dringend etwas unternommen werden.

Wissenschaft darf nicht nur sagen, was ist. Sie muss auch Vorschläge machen, was man tun kann. Sie muss mit an den Tisch der Entscheider und die Freiheit haben, Stopp zu sagen: Freiheit ist nur in den Grenzbedingungen der natürlichen Ressourcen möglich. Wir können nicht so tun, als könnten wir in den nächsten 100 Jahren aus unendlichen Ressourcen schöpfen. Das wird nicht funktionieren. Alle Träume z.B. von unendlicher Energie sind alle dummes Zeug.

Gäbe es in diesem Universum irgendetwas Unendliches, gäbe es das Universum nicht. Es wäre dann nämlich schon längst auseinandergeflogen.


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