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"Man muss die Kinder auch mal lassen"

Zwischen Lenken und Loslassen: Familie ist extrem wichtig

Glückliche Mutter, glückliches Kind - so stellt man sich eine Vorzeigefamilie vor. Die Realität hat aber viele Facetten. (Bild: Selins)

Vater, Mutter und zwei Kinder: Das ist wohl das idealtypische Bild einer Vorzeigefamilie. Tatsächlich hat Familie aber viele Facetten. Bei unserem Sommergespräch im Königlichen Hirschgarten haben wir Menschen, die sich mit Familie beschäftigen, an einen Tisch geholt. Dabei stellte sich die Frage: „Was ist überhaupt Familie?“ Erziehungsberater Wolf erklärte: „Wo Kinder sind, da ist Familie“. Gymnasialdirektor Rupert Grübl fasste den Begriff noch weiter. Er zitierte dazu einen seiner Oberstufenschüler, der auf die Frage „Was ist Familie?“ geantwortet hatte: „Familie, das ist meine Mama, das bin ich und unsere Katze“. Auch die Aussage „Familie sind all die Menschen, die ich gern habe“, fiel in der Runde. Einigkeit herrschte, dass es diesen einen allgemein gültigen Familienbegriff nicht gibt. Außerdem stimmte die Gruppe überein, dass „Familie“ - egal, in welcher Konstellation - eine extrem wichtige Bedeutung hat und dass familiäre Brüche die Kinder aus der Bahn werfen können.

Für die Gesprächsrunde hatte Rupert Grübl Ergebnisse einer Studie mitgebracht, die die Wichtigkeit von Familie dokumentiert. Wenn man die Lese- und die mathematischen Kompetenzen nimmt und den Einfluss der Schule auf diese mit dem Faktor 1 benennt, dann habe der Einfluss der Familie mindestens den doppelten Faktor auf diese Kompetenzen - und zwar bis zum Schulabschluss. Dem stimmte Jürgen Wolf zu: „Die Herkunftsfamilie hat eine ganz extrem wichtige Bedeutung“. Auch er zitierte aus einer Studie, derzufolge die Beziehung zwischen den Generationen noch nie so gut gewesen sei wie heute.

Familiäre Brüche werfen Kinder aus der Bahn

Umso dramatischer können die Folgen sein, wenn Ereignisse das Familiensystem durcheinander brächten. Grübl berichtete von Schülern, die jahrelang „funktionierten“. „Plötzlich werden sie verhaltensauffällig, fallen in der Leistung ab“. Der Grund dafür sei „eigentlich immer“, dass Zuhause etwas passiert ist. Das könne ein Todesfall in der Familie sein, die Eltern trennen sich, Scheidung – „diese heftigen familiären Brüche werfen die Kinder total aus der Bahn. Leider werde dies häufig unterschätzt. In diesem Zusammenhang mahnte er: „Wir Erwachsene müssen uns der Bedeutung der Familien bewusst werden. Familie ist nichts Beliebiges“.

Verena Kunz berichtete, dass in der Joki-Kinderbetreuungseinrichtung darauf geachtet werde, dass Familie ihre Wichtigkeit beibehalte. Freitags mache die Einrichtung beispielsweise früher zu, „damit die Familien gemeinsam das Wochenende einläuten können“. Verena Kunz sieht sich nicht als bloßer „Dienstleister“ für die Eltern, sondern schaut auf das Wohl der Kinder. „In manchen Situationen, wenn beispielsweise Kinder krank sind, braucht das Kind die Eltern und nicht eine Erzieherin, die tröstet“. Dann würden die Eltern angerufen und herbeigeholt.

"Für Alleinerziehende ist es nicht einfach"

Christine Strobl hakte hier ein und warb um Verständnis für die Eltern, die nicht sofort kommen können. „Die Verkäuferin, die bis 20 Uhr arbeiten muss, kann nicht um 2 Uhr nachmittags abholen“. Auch für die 20 Prozent Alleinerziehenden in München sei es nicht einfach. Solche Fälle stoßen auch bei Verena Kunz auf Verständnis. Ihr gehe es aber um Eltern, die einfach nicht aufhören können „und noch bei dieser oder jener Sitzung dabei sein wollen, obwohl sie eigentlich nicht müssten“. Vor allem Krippenkinder könnten sich noch nicht artikulieren und brauchen das Körperliche von Vater und Mutter. „Beziehung braucht Zeit und körperlichen Kontakt“, fand auch Grübl. „Wie soll ich denn meine Kinder erziehen, wenn ich sie nicht habe?“

"Selbstständigkeit gelernt"

Eva-Maria Gaßner sah das nicht ganz so streng. Ihre Eltern hätten früher ein Geschäft gehabt, da mussten die Kinder oft zurückstehen. „Dabei haben wir auch ein Stück Selbstständigkeit gelernt, was ich bei den heutigen Kindern oft vermisse“. Wolf regte an, zwischen den äußeren Bedingungen und Zwängen und der Sensibilität und dem Bewusstsein von Eltern für die Situation zu unterscheiden. In seine Beratungsstelle kämen 80 Prozent der Klienten wegen Schwierigkeiten im Zusammenleben. „Wenn Eltern mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam kommen, zeigt das doch, wie wichtig es allen ist und wie sie unter Situationen wie Trennung, Scheidung oder Streit leiden“. Seiner Meinung nach sei die Sensibilität der heutigen Eltern gegeben. „Wenn das nicht so wäre, würden die Eltern weder kommen noch ihre Kinder mitbringen“.

Wird Erziehung outgesourct?

Heute werde Erziehung tatsächlich auf mehrere Schultern wie Schulen, Krippen, Kindergärten verteilt. Die Herkunftsfamilie sei dabei die emotionale Quelle. Hier würde der Begriff „Beziehung“ besser passen als „Erziehung“. Die dritte Bürgermeisterin stimmte zu: Auch wenn die Kinder in einer ganztägigen Betreuung sind, könne man ihnen ein Rüstzeug für das Leben mitgeben. Am besten zusammen mit den Einrichtungen, in denen sich die Kinder viel aufhalten. „Das muss Hand in Hand gehen“.

"Eltern müssen lenken"

„Medien nur verteufeln finde ich nicht passend“, so Jürgen Wolf. Vor allem die sozialen Medien hätten eine wichtige Funktion für die Jugendlichen. „Da muss man mehr davon verstehen, bevor man darüber urteilt“. „Kinder und Jugendliche können die Gefahren noch nicht überreißen, damit es beim Guten bleibt, müssen die Eltern lenken“, forderte Nele Kreuzer. Das sei jedoch gar nicht so einfach, fügte Kunz an. Die Eltern seien „total verunsichert“ und wüssten selbst nicht, was erlaubt werden sollte oder nicht. Selbstkritisch erinnerte Kamala Nagjafi an eine Zeit, an der sie selbst viel vor dem Computer saß. „Da war ich ein schlechtes Vorbild“. Strobl kennt solche Bedenken: „Ganz wichtig ist es, sich mit anderen Eltern auszutauschen“, erklärte sie. Das sei „wichtiger als alles andere“. Wir seien in einem Zeitalter, in dem man sich extrem viele Gedanken über alles mache, „wir werden mit Erziehungsberatern zugeschüttet“. Teilweise würden die das komplette Gegenteil erklären. „Es wäre nicht schlecht, sich auf den gesunden Menschenverstand zu verlassen“, empfahl Strobl.

"Eltern müssen das aushalten"

Außerdem sollten die Eltern mehr Vertrauen in ihre Kinder haben. Schulleiterin Gaßner kennt einige Mittelschuleltern, die darauf beständen, dass ihre Kinder kurz vor Schulbeginn daheim anrufen und mitteilen, dass sie gut angekommen seien. „Man muss die Kinder auch mal lassen. Überwachung hilft dabei nicht“. Es würde eben derzeit soviel passieren. „Das ist nicht wegen der Beobachtung, sondern aus Angst“, warb Kamala Nagjafi um Verständnis. Auch Strobl kennt das Gefühl, andauernd über Handy mit den Jugendlichen in Kontakt stehen zu wollen. „Den Kontrollwahn muss man sich abgewöhnen“. Sie selbst sei früher wochenlang verreist, da sei sie noch keine 18 gewesen. „Einmal in der Woche habe ich daheim angerufen. Für die Mutter sei dies zwar furchtbar gewesen, aber das muss man als Eltern aushalten“.

Kindern bewahren Eltern vor Gefahren

Studentin Anna-Maria Niagu ist mit Medien aufgewachsen. „Sie waren schon immer da, seit wir klein sind“. Bereits als Schülerin hätte sie Internetrecherchen für die Referate gemacht. „Klar hat es seine Schattenseiten, aber was hat das nicht?“ fragte sie. „Ich habe mehr Vorteile als Nachteile“, betonte sie. An Kreuzer gewandt sagte sie: „Sie haben vorher gesagt, man bräuchte eine Lenkung von den Eltern. Es ist teilweise auch anders herum“. Viele Eltern würden sich mit den neuen Medien nicht auskennen, sie müssten dann von den eigenen Kindern vor den Gefahren im Internet bewahrt werden. „Zwischen den Generationen muss ein Gespräch stattfinden“. Einen Kompromiss fand Nele Kreuzer. Sie sagte: „Die Jugend gibt die technische Lenkung und die Älteren geben der Jugend moralische Lenkung“.

Medien auch einmal abgeschalten!

Einig war sich die Tischrunde, dass die neuen Medien die Familienstrukturen auch positiv verändern können. „Es ist schon toll, dass man dadurch mit Familienangehörigen in Kontakt treten kann, die weit weg sind. Das schafft Nähe“, freute sich Strobl. Auch Anna-Maria Niagu schätzt Whatsapp und Co. „Man will sich in der Familie austauschen, auch wenn alle verstreut sind. So schafft man es, zusammenzubleiben“.

„Es ist tatsächlich leichter geworden durch diese Whatsapp-Gruppen“, fand auch Jürgen Wolf. „Ich kriege von der Familie mehr mit als früher, wo man auf den Brief aus dem Urlaub warten musste“. Seine Tochter studiert derzeit in Schottland. „Durch Whatsapp bekomme ich von ihrem Leben viel mit, ohne dass es bedrängend oder kontrollierend ist“.

Trotzdem sollten die Medien auch einmal abgeschaltet werden, so dass sich die Familie auf sich selbst besinnen könne. Am Schluss sprach sich Eva-Maria Gaßner für gemeinsame Familienessen aus. „Das tägliche Abendessen ohne Handy und Fernseher kann dann für die Familie zu einem wichtigen Austauschforum werden“.

Unsere Sommer-Frage

Haben Sie ein "Familienritual"? Unsere Gäste antworten:

Eva-Maria Gaßner: Jeden Freitag gehen wir zum Italiener essen. Das ist ein fester Termin, der unserer Familie ganz wichtig ist.

Rupert Grübl: Das gemeinsame Abendessen ist ein wichtiges Familienritual bei uns.

Nele Kreuzer: Das gemütliche Sonntagsfrühstück mit Open-End ist ein Familienritual, aber auch die Familientreffen mit der Großfamilie zweimal im Jahr.

Verena Kunz: Das gemeinsame Abendessen ist uns sehr wichtig.

Kamala Nagjafi: Bei uns ist das Abendessen ein Ritual. Dazu kommt auch die 19-jährige Tochter, die bereits eine eigene Wohnung hat. Außerdem besuchen wir an jedem Familiengeburtstag die Therme Erding.

Anna-Maria Niagu: Das gemeinsame Essen. Das ist zwar nichts Spektakuläres, aber schön.

Christine Strobl: Alle drei Weihnachtsfeiertage werden bei uns seit Jahren gleich verbracht, da gibt es kein Rütteln und an jedem der Geburtstage gehen wir gemeinsam zum Essen. Wichtig sind auch die gemeinsamen Mahlzeiten am Wochenende.

Jürgen Wolf: Gemeinsam verreisen, zusammen essen und Essen gehen.

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

Eva-Maria Gaßner (Rektorin der Mittelschule Ridlerstraße)

Rupert Grübl (Schulleiter Gymnasium Fürstenried)

Nele Kreuzer (Familientherapeutin, städt. Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche für die Region Laim, Schwanthalerhöhe, Blumenau, Kleinhadern)

Verena Kunz (Pädagogin Joki Kinderbetreuung)

Kamala Nagjafi (Internationales Mütterforum Sendling)

Anna-Maria Niagu (Soziologie-Studentin)

Christine Strobl (dritte Bürgermeisterin München)

Jürgen Wolf (Evang. Beratungszentrum, Psychologische Beratung für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien).

Was denken Sie?

Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.

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