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Gesprächsrunde mit Wissenschafts-, Schul- und Politikvertretern zum Thema „Lesen und Lernen“

Welche Kräfte wirken in Luft und Wasser? Beim "Flaschentornado" lernen Kinder Überraschendes. Die Stiftung Haus der kleinen Forscher engagiert sich für eine bessere Bildung von Kindern in den Bereichen Naturwissenschaften, Mathematik und Technik. (Bild: Haus der kleinen Forscher)

Lesen gehört zu unseren wichtigsten Kulturtechniken, und zu den vielfältigsten. Schließlich können wir Texte, Karten, Pläne, Fährten oder Gesichtsausdrücke und vieles mehr lesen – und dabei stets auch eine „Auslese“ treffen, nämlich die für uns wichtigen Infos herausfiltern. Im engeren Sinn sprechen wir vom Lesen, wenn wir niedergeschriebene Gedanken aufnehmen und verstehen. Ohne Lesen kämen wir nicht an Geschichten, Gebrauchsanweisungen, Nachrichten, Infos heran – nicht einmal Straßenschilder wären uns zugänglich.

Wer also nicht oder schlecht lesen kann, hat es schwer im gesellschaftlichen Miteinander. Darin sind sich alle Teilnehmer der Sommergesprächsrunde „Lesen und Lernen“ einig. Dabei ist Lesenlernen eine komplexe Aufgabe für unser Hirn. Es bedarf viel Training und Ausdauer, bis wir flüssig lesen können.

Wie lernen wir lesen?

„Das Kleinkind lernt Bilder und Symbole zu unterscheiden. Es unterscheidet Laute, Reime, Töne und entwickelt eine Reim- und Logikbewusstheit“, erklärt Katharina Galuschka, Kinder- und Jugendpädagogin in der Forschungsabteilung der LMU. „In der Schule werden Buchstaben in Laute übersetzt und aneinandergefügt. Erfolgreich ist immer der, der lernbegleitet positiv motiviert wird.“ Da spielt das Vorlesen, Reimen und das gemeinsame Singen und Spielen eine große Rolle.

Vorbilder sind wichtig

Lesen ist immer Kommunikation – und Lesenlernen ist Beziehungsarbeit. „Kinder lernen gern, wenn sie motiviert werden. Das gilt natürlich auch für das Lesenlernen. Sie spüren die Freude, wenn sie sich etwas Neues erschließen. Sie eifern ihren Vorbildern nach und übernehmen deren Freude, aber leider auch deren Vorbehalte und vielleicht sogar deren Angst vor dem Lesen“, sagt Waltraud Lucic, die Vorsitzende des Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverbands (MLLV).

„Wir tun sehr viel, um die Kinder zum Lesen zu bringen“, berichtet Kristin Schickert, kommissarische Konrektorin der Grundschule Zielstattstraße, „Leseprojekte, Lesenacht, Lesepaten, Autorenlesungen, Leseecke. Und wir haben super gute Erfahrungen gemacht, dass ältere Schüler den Jüngeren vorlesen.“

Spaß und Neugier

„Wir lesen ebenfalls vor“, so Hans-Peter Meier. Er ist ehrenamtlicher Vorleser bei den Lesefüchsen e.V., der größte Leseinitiative in Deutschland. Seit 2013 ist Meier im Vorstand und dort verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Wir haben Geschichten, die den Kindern Spaß und Neugier bringen. Schwerpunktmäßig lesen wir in Grundschulen, aber genauso in Bibliotheken. Unser Angebot kommt hervorragend an. Gerade heutzutage, wenn die Zeit und die Bereitschaft zum Vorlesen in den Familien immer knapper wird.“ Er persönlich lese in der Icho-Schule in einer Gruppe von fünf Kindern vor. „Wenn Sie da zuschauen würden, mit wie viel Begeisterung die Kinder zuhören und mitfiebern, geht Ihnen das Herz auf!“

„Ja, man muss Begeisterung für das Lesenlernen wecken“, betont auch Bildungsstaatssekretär Georg Eisenreich. Die Aufgaben der Schulen seien es, Wissen zu vermitteln und die Schülerpersönlichkeiten zu begleiten und zu stärken. „Da geht es immer um die grundlegenden Fertigkeiten, die Kulturtechniken: Lesen, Rechnen, Schreiben und mittlerweile auch der Umgang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien als vierte Kulturtechnik. Dafür gibt es an den Schulen ganz großartige Projekte.“

Die digitale Welt nutzen

Digitale Medien könnten beim Lernen und Lesenlernen einen echten Mehrwert schaffen, so Eisenreich weiter. „Da leisten unsere Lehrer eine sehr gute Arbeit. Es geht am Ende immer darum, dass wir in allen Bereichen pädagogisch gute und hochwertige Medien einsetzen. Das eine darf also gegen das andere nicht ausgespielt werden. Das Buch ist in Zukunft genauso wichtig wie digitale Werkzeuge und Medien.“ „Ja, genau“, pflichtet auch Galuschka bei. „Es gibt hochwertige Lernprogramme in der digitalen Welt. Die sollte man nutzen und mit Inhalten füllen, anstatt zu verteufeln. Hier liegt schließlich die Zukunft.“

Natürlich kommt in der Runde schnell die Frage auf, wie weit die heutigen Kinder und Jugendlichen als "Digital natives – als Eingeborene der digitalen Welt“ die Nase vor ihren Lehrern haben, wenn es um den Umgang mit digitalen Medien geht.  Auch die Diskussion, inwieweit die Kommunen als Sachaufwandsträger der Schulen für alles im und am Gebäude sowie der Staat als Verantwortlicher für den Bereich der Bildung/ Fortbildung der Lehrer zusammenarbeiten müssen, liegt nahe. Das ändert alles nichts an der Tatsache, dass die Schule die Schüler auf die Realität vorbereiten muss. „Und die ist in der Zukunft eine digitalisierte Welt. Die wird alle Lebensbereiche umfassen“, betont Eisenreich.

Dranbleiben, durchhalten, Ausdauer zeigen

„Der wesentliche Faktor ist aber der Schüler selbst“, meint Lucic, „den dürfen wir nicht vergessen. Immer nur Spaß haben und gefördert werden – das wäre die falsche Einstellung. Es geht vielmehr darum, mit Disziplin und Durchhaltevermögen an einer Aufgabe dran zu bleiben, und zwar bis zum Schluss. Das ist etwas ganz Wichtiges!“

Beim Umgang mit den digitalen Medien lernt das Kind dagegen das schnelle Konsumieren und das häppchenweise Aufnehmen portionsgerechter Infos. Konzentrationstraining sieht anders aus. Womöglich hat der Schriftsteller T.S. Elliot vor knapp 100 Jahren dem Dilemma der heutigen Zeit vorweggegriffen, als er meinte, dass das Unglück des modernen Menschen darin bestehe, dass er abgelenkt ist von der Ablenkung durch Ablenkung?

Zu viel Ablenkung

Physikstudent Thomas Kellerer hat gemeinsam mit dem Dozenten Thomas Schutz und seinem jüngeren Bruder Alexander ein Buch darüber geschrieben. „Die Allmacht digitaler Ablenkung“ heißt es und ist keine App oder PC-Programm, sondern in Buchform erschienen. „Ich bin im Wahlpflichtfach „Die Kunst zu lernen“ darauf gekommen, dass wir uns alle viel zu schnell ablenken lassen“, erzählt er. „Jeder greift eben schnell mal zum Handy, „entspannt“ sich damit und lässt sich von schwierigen und nervigen Themen oder dringenden Fragen ablenken. Mir fiel auf, dass irgendwann nirgends mehr die volle Aufmerksamkeit hingeht, wir sind total zerstreut. Und leider nehmen damit unsere Leichtsinnsfehler extrem zu.“ Das Buch enthalte viele Tests, die einem zeigen, wie hoch die eigene Konzentrationsfähigkeit überhaupt noch sei. „Da kann man dann gegensteuern, wenn man will.“

Sich bewusst Zeit nehmen

Bei den Lehrern und unter seinen Mitstudenten komme dieses Konzentrations-Trainingsbuch sehr positiv an. „Es bleibt eben viel Qualität auf der Strecke, wenn wir schnell mal eine Whatsapp schreiben, schnell mal ins Internet gehen, schnell mal dies und das machen“, bestätigt auch Pädagogin Galuschka im Hinblick auf Rechtsschreibung und korrekte Grammatik. „Wer immer „Nacht“ als „N8“ schreibt, ist zwar schneller, meint das am Ende aber auch so.“

„Der gesunde Menschenverstand sagt uns schon, worauf es ankommt“, fordert so Eisenreich. „Vorlesen, gemeinsam Lesen, sich Zeit dafür nehmen. Kinder brauchen Eltern, die ihnen Zeit, Liebe und Unterstützung geben, sowie Lehrer, die methodisch und didaktisch auf der Höhe der Zeit sind und die Schüler stärken.“

Literatur nahe bringen

„Ein gutes Beispiel dafür sind die Lesefüchse ...“, so Lucic.  „Wir erreichen in der Woche ungefähr 1.100 Kinder. Und zwar ganz regelmäßig und zuverlässig. Wir können den Kindern die Literatur nahe bringen“, ergänzt Meier. „Die Heranwachsenden sind mit Texten aus sehr verschiedenen Quellen konfrontiert. Mich ärgert auch das Hingerotze in den Whatsapp-Nachrichten. Oder nehmen wir Zeitungen und Werbungen mit ihren falschen Bildern und der verhunzten Sprache. Mich als Journalist und Bücherfreund ärgert das!“

Eine Aufgabe für uns alle

Und weiter meint er: „Wir Lesefüchse können einen kleinen Teil dazu beitragen, dass die Schriftsprache ihre Qualität behält.“ „Das ist eine Aufgabe für uns alle – für die Elternhäuser, die ihren Kindern die Freude an Literatur, Bildung und Lernen allgemein mitgeben können. Wo dies nicht gelingt, kann und muss die Schule ausgleichen“, bestätigt Eisenreich.

Er sieht viel Potenzial in den digitalen Medien als sinnvolle Begleiter eines ausgewogenen Unterrichts. „Je heterogener die Schülerschaft wird, desto mehr Bedeutung erhalten die Medien. Mit digitalen Medien kann man in einer Klasse noch besser auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler eingehen.“

Es müssen alle zusammenhelfen

„Sollten also die Eltern die Motivation wecken und die Schule das Material bereitstellen? Meinen Sie das?“, fragt StadtschülerInnenvertreter Louis Engelmann. „Am Ende müssen alle zusammenhelfen“, antwortet Eisenreich. „Eltern sollten ihre Kinder stärken und ihnen die nötige Motivation mitgeben als Grundlage für Erfolg in der Schule und im späteren Leben. Die Schule vermittelt die Kompetenzen und Fertigkeiten. Die gesamte Gesellschaft wiederum lebt Werte vor und bildet die Kinder und Jugendlichen damit genauso. Alle zusammen sind wichtig, damit nicht nur einzelne, sondern alle Schüler erfolgreich lernen. Das ist unser Ziel.“

Gute Ergänzung: Print und Digital

„Ja, ich möchte auch betonen, dass wir in der Schule alles Erdenkliche tun. Aber wenn die Kinder ihre Eltern nie mit einem Buch in der Hand sehen oder keinerlei Anstrengungsbereitschaft vermittelt bekommen, dann können wir Lehrer uns anstrengen wie wir wollen“, so Schickert. „Am besten wäre es, wenn die Eltern einen bestätigen:Hey, lies mal das, das ist cool. Und dann nimmt man auch mal ein Buch in die Hand“, ergänzt Kellerer.

„Dabei gibt es tolle Bücher für jedes Alter, jeden Bereich, alle Interessen. Wenn man diese Welt für sich entdeckt, dann ist es auch egal, welches Medium man zum Lesen nutzt. Übrigens haben wir Lesefüchse sehr gute Erfahrungen mit unserem freiwilligen Bibliotheksangebot gemacht. Denn die Schulen geben Ort, Zeit und Stoff vor. In der Bibliothek sind wir darin frei; es ist immer auch eine Überraschung, wer und wie viele Kinder tatsächlich in die Vorlesestunde kommen. Aber sie kommen, viele auch regelmäßig über eine sehr lange Zeit!“

Miteinander wünschenswert

„Ich denke, dass sowohl Print- als auch digitale Medien sehr viele Vorzüge haben, die sich gut ergänzen“, fasst Eisenreich zusammen. „Die Lehrer nutzen das Repertoire an Materialien und Methoden abhängig von ihrem Unterrichtsziel und der Unterrichtssituation. Es ist wichtig, nicht das Buch gegen den Laptop auszuspielen. Hier ist ein Miteinander wünschenswert und kein Gegeneinander.“

Am Ende zähle doch das Wissen, das den Kindern wirklich bleibe, die erfahrenen Inhalte und die Erlebnisse, die mit dem Lernen und Lesen verbunden seien und an die sie sich ihr ganzes Leben lang erinnern, betont Lucic abschließend. „Lesen, darüber sprechen, gemeinsam Theater spielen, selbst Gedichte schreiben – eben mit allen Sinnen lernen und die Welt erfahren, 'das Gehirn in die Hand nehmen', wie es so schön heißt. Wenn dies geschieht, müssen wir uns auch keine Sorgen über die Lesefähigkeit und Lernmotivation der Kinder machen.“

Unsere Sommer-Frage

Können Sie noch ein Gedicht auswendig? Unsere Gäste antworteten:

MdL Georg Eisenreich:

"Die Bürgschaft" von Schiller. Diesen Klassiker auswendig zu lernen, war wirklich anstrengend. Ich habe es dennoch gern gemacht und kann mich auch heute noch daran erinnern, weil der Schluss unglaublich spannend und überraschend war.

Louis Engelmann:

Aus Goethe „Faust“ „Ich bin der Geist, der stets verneint, ...“ Von diesen Zeilen war ich sofort begeistert und habe sie schnell gelernt.

Dr. Katharina Galuschka:

Ich habe nie viel auswendig lernen müssen. Aber ein Gedicht kann ich dennoch: Eduard Mörickes "Es ist´s": "Frühling lässt sein blaues Band ..."

Thomas Kellerer:

Ich kann einige Gedichtanfänge. Das muss ich einer engagierten Deutschlehrerin zugute schreiben. Ich glaube, durch sie hatten wir alle Spaß an Gedichten.

Waltraud Lucic:

Ich weiß noch Gedichte auswendig und kann mich sogar an die Erlebnisse "drumherum" erinnern, wie ich die Gedichte gehört habe. Dies hat mich anscheinend immer sehr stark geprägt.

Hans-Peter Meier:

Aus Goethes "Faust" den "Osterspaziergang". Der ist Jahrhunderte alt und super aktuell. „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen ..."

Kristin Schickert:

Ich bin natürlich als Grundschullehrerin immer nah dran an Gedichten; wenn ich sie 30 Mal höre, kann ich sie ganz gut auswendig. Mein Lieblingsgedicht ist von Hermann Hesse „Im Nebel“. Aber auch das muss ich immer mal wieder auffrischen, damit ich es aufsagen kann.

Unsere Gäste

Bei unserem Sommergespräch diskutierten:

MdL Georg Eisenreich (Bildungstaatssekretär)

Louis Engelmann (StadtschülerInnenvertretung München)

Dr. Katharina Galuschka (LMU, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Forschungsgruppe Leitlinie Lese- und Rechtschreibschwäche)

Thomas Kellerer (Physik-Student, Autor "Allmacht digitaler Ablenkung")

Waltraud Lucic (Vorsitzende Münchner Lehrer- und Lehrerinnen-Verband MLLV)

Hans-Peter Meier (Vorstand Lesefüchse e.V.)

Kristin Schickert (stv. Konrektorin Grundschule Zielstattstraße).

Was denken Sie?

Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.

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